Bestellen manche Gerichte am liebsten "pflegeleichte" Pflichtverteidiger? Regeln bei der Auswahl gibt es jedenfalls nicht. Ein Gesetzentwurf könnte das nun ändern. Aber die Strafverteidiger haben offenbar eine "historische Chance" verpasst.
Eine gemeinsame Recherche von BuzzFeed News Deutschland und LTO
Wenn sich Strafverteidiger gegenseitig als "Gerichtsnutten" oder "Robenständer" bezeichnen, dann scheint an deutschen Gerichten etwas schief zu laufen – allemal ist es ein Anzeichen von Frust. Es sind keine Wutausbrüche in einer Kommentarspalte, sondern Antworten aus einer knapp 300 Seiten starken Studie zur Pflichtverteidigerbestellung von Professor Matthias Jahn, Strafrechtsprofessor an der Uni Frankfurt am Main. Sie wirft ein Schlaglicht auf einen empfindlichen Vorgang in der deutschen Strafjustiz.
Wenn im Gerichtsbezirk im bayrischen Laufen jemand etwa wegen Raubs oder Mordes verhaftet wird, selbst aber keinen Anwalt benennen kann, dann klingelt das Telefon sehr wahrscheinlich nicht bei Anwalt Dr. Florian Eder im nur 15 Kilometer entfernten Freilassing. Dabei ist Eder Fachanwalt für Strafrecht sowie Lehrbeauftragter an der Uni Regensburg, hat zum Strafprozessrecht promoviert und zudem einen LL.M.-Abschluss.
"Das Gericht bestellt lieber seine Lieblingsanwälte", sagt Eder, "nicht selten sind das Fachfremde ohne Ahnung vom Strafrecht." Und das habe handfeste Konsequenzen für die Angeklagten. Eder sagt: "Da werden Verteidiger bestellt, von denen die Richter hinter vorgehaltener Hand sagen, die sind besser als die Staatsanwälte". Also offenbar solche, von denen das Gericht nicht allzu große Gegenwehr erwartet. Solche richterlichen "Lieblingsanwälte" seien häufig schlecht vorbereitet, würden die Akten ihrer Mandanten nicht kennen und ihnen gerne mal zum Geständnis raten. Woher er das wissen will? Nach den missglückten Erlebnissen mit ihren Pflichtverteidigern landen die Mandanten dann doch bei Eder.
Bekannt und bewährt vom Kantinentisch oder der Fußballmannschaft
Ganz ähnliches berichtet Strafverteidiger Marc Wandt aus dem Sauerland. Wer als Pflichtverteidiger in Essen oder Hagen bestellt werden wolle, müsse "als netter Gesprächspartner am Richtertisch in der Kantine bekannt sein", so der erfahrene Verteidiger, "oder aus der Gerichtsfußballmannschaft". Laut dem Fachanwalt für Strafrecht bestellen die Gerichte regelmäßig dieselben Verteidiger. "Das sind oftmals Kollegen, die nicht gerade für eine konfrontative Verteidigung bei Gericht bekannt sind." Der Verdacht: Suchen sich deutsche Gerichte als Pflichtverteidiger am liebsten solche Anwälte aus, die wenig Widerstand zeigen?
LTO und BuzzFeed News Deutschland haben mit Strafverteidigern im gesamten Bundesgebiet gesprochen. Es ist nicht immer die örtliche Fußballmannschaft oder der justizgeprägte Tennis-Club, aber vergleichbare Geschichten tauchen immer wieder auf.
In einer geschlossenen Gruppe auf Facebook mit über 900 Strafverteidigern aus ganz Deutschland schimpfen Anwälte über ihre Kollegen als "Vertragsanwälte", "Festangestellte" oder "Palliativanwälte". Oder eben, wie in der Studie von Jahn, als "Gerichtsnutten" oder "Robenständer". Ihre Sorge: Wer robust verteidigt, der riskiere, in Zukunft keine Fälle mehr zu bekommen. Warum sie so offen darüber sprechen? "Ich werde sowieso vom Gericht nicht mehr bestellt", sagt Anwalt Wandt aus dem Sauerland.
Die Kritik zielt auf einen Moment im Strafprozess, in dem es um viel geht, der aber nicht reguliert ist: Eine Alltagssituation auf den Fluren deutscher Amtsgerichte, auf Polizeistationen und in der Untersuchungshaft: Menschen werden verhaftet und wählen sich nicht selbst einen Verteidiger aus. Viele von ihnen haben keine Lobby, kein Geld für teure Anwälte und wissen wenig bis nichts über ihre Verfahrensrechte.
Wenn sie auch keinen Anwalt auswählen, dann bestimmt der Ermittlungsrichter einen. Er entscheidet, mit wem es die Richterkollegen später in einer Hauptverhandlung zu tun bekommen. In anderen Konstellationen bestimmt den Pflichtverteidiger sogar die Kammer selbst, vor der der Fall verhandelt wird. Ein transparentes Verteilungsverfahren dazu gibt es nicht, obwohl es bei der Pflichtverteidigerbestellung schließlich auch um die Vergabe von Steuergeldern geht.
Dass an deutschen Amtsgerichten diesbezüglich eine "Schattenpraxis" herrsche, das kritisieren auch Anwaltsverbände wie die Strafverteidigervereinigungen. Ähnliche Kritik kommt auch von der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und dem Deutschen Anwaltverein (DAV).
Strafrichterin: "In der Tat gibt es Verteidiger, die man lieber bestellt"
Die Justizministerien in den 16 Bundesländern wollen davon auf Anfrage von LTO und BuzzFeed News Deutschland dagegen nichts wissen. Missstände seien nicht bekannt, teilen sie mit. Die Auswahl von Pflichtverteidigern* falle zudem in den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit, und schon deshalb könne die Justizverwaltung in diesen Bereich nicht hineinwirken. Deshalb könne man auch keine Auskunft über die genutzten Arbeitshilfen geben. Will heißen: Jedes Gericht entscheidet selbst, ob es mit internen Namenslisten arbeitet und wen es wie aussucht.
Eine ehemalige Strafrichterin am Amtsgericht sagte LTO und BuzzFeed News Deutschland, dass es an ihrem Gericht interne Listen gegeben habe. Per "Strichliste" sei kontrolliert worden, wer schon wie oft dran war, "damit man das Verhältnis einigermaßen ausgewogen hält". Sie räumt ein, dass es Verteidiger gebe, "die man lieber bestellt. Allerdings hat das nichts damit zu tun, wie harmonisch das Verhältnis dieser Verteidiger zum Gericht ist, sondern eher damit, für wie fähig man sie erachtet", sagt die Richterin. "Die Anwälte, die es dem Gericht mit Konfliktverteidigung schwer machen, schaden in aller Regel auch den Angeklagten und dem Verfahrensablauf, sprich der Wahrheitsfindung selbst."
Andere ehemalige Richter berichten, dass es auf der einen Seite interne Listen an den Gerichten gibt, die mit fachlichen Hinweisen versehen sind. Darauf seien für den jeweiligen Anwalt Sprachkenntnisse, Wochenendbereitschaften oder auch der Ausschluss bestimmter Straftaten wie zum Beispiel Sexualdelikte vermerkt. Hinzu kämen dann aber noch jene Listen, die eher in den Köpfen der Richter existieren: Verteidiger, die dafür bekannt sind, dass sie die Dinge nicht unnötig verkomplizieren – aus Sicht des Gerichts. Und deren Namen man schon einmal empfohlen bekomme, wenn man als junger oder neuer Richter frisch an ein Gericht komme. Wenn man mit denen arbeite, gehe die Sache schneller, heißt es dann von den erfahrenen Richtern.
Der neue Entwurf – eine verpasste Chance?
Das Thema der Pflichtverteidigung* hat nun auch den Gesetzgeber in Berlin erreicht. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat einen 60-seitigen Referentenentwurf "zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung" vorgelegt - wenn auch nicht ganz freiwillig: Druck macht die europäische "Legal-Aid"-Richtlinie, die in den Mitgliedstaaten den Zugang zur Verteidigung vor Gericht stärken soll. Bis zum 25. Mai 2019 muss Deutschland die Richtlinie umsetzen.
In die Strafprozessordnung (StPO) soll ein neuer § 142 eingeführt werden. Vom Gericht soll danach entweder ein "Fachanwalt für Strafrecht" aus dem Gesamtverzeichnis der BRAK ausgewählt werden oder ein Rechtsanwalt, der "gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat" und geeignet ist.
Bei den Strafverteidigervereinigungen und der BRAK stoßen die Entwürfe auf Kritik. Zwar sind ihre endgültigen Stellungnahmen noch nicht fertig, aber glücklich sind die Verbände nicht. Der Berliner Strafrechtler Jasper Graf von Schlieffen arbeitet mit an der gemeinsamen Position der Strafverteidigervereinigungen. Er betont, dass es sich bei der Bestellung um eine Art staatliche Vergabeentscheidung handelt. "Dafür brauchen wir klare Regeln und vollständige Transparenz". Zumindest eine verbindliche Liste bei den Gerichten hätte der Entwurf seines Erachtens vorschreiben sollen.
"Mit dem Vorschlag wird das Transparenzproblem nicht zielführend angegangen", kritisiert auch Professor Dr. Matthias Jahn, Inhaber des Lehrstuhls für u.a. Strafprozessrecht an der Uni Frankfurt am Main und Richter am Oberlandesgericht. Aus seiner Sicht sind die Anwälte an nur zögerlichen Ansätzen im Entwurf aber auch teilweise selbst schuld. "Die Selbstverwaltung der Rechtsanwälte hat eine historische Chance passieren lassen", so Jahn. "So eine Gelegenheit, Fundamentales am System zu ändern, kommt nur alle paar Jahrzehnte". Was ist also schief gelaufen?
Bloß kein neues beA bei der BRAK riskieren?
Das Thema beschäftigt die Strafverteidiger schon lange und auch Lösungsvorschläge sind schon länger auf dem Tisch: So könnte etwa die Auswahl der Pflichtverteidiger radikal weg von den Gerichten und stattdessen zu den Anwaltskammern verlagert werden. Vorbilder dazu gibt es schon, etwa im Nachbarland Österreich: "Das funktioniert bestens", sagt Jahn, der sich die Praxis dort näher angeschaut hat. So komme mehr Transparenz in die Vergabeverfahren. Offenbar war auch der Gesetzgeber dafür offen – Zurückhaltung kam aber von der anderen Seite: ausgerechnet von der BRAK.
Die Dachorganisation der Rechtsanwälte habe nach ihren Erfahrungen rund um das besondere elektronische Anwaltspostfach davor zurückgescheut, erneut Verantwortung zu übernehmen. Außerdem hätte die neue Aufgabe eine zusätzliche Arbeitsbelastung bedeutet, so Jahn, der an einer Stellungnahme für die BRAK mitarbeitet.
Auch Professor Dr. Ralf Neuhaus, der für die BRAK in der Arbeitsgruppe an der Stellungnahme zum Entwurf arbeitet, sieht eine verpasste Chance fundamental an dem deutschen Auswahlsystem etwas zu ändern. Auch er kritisiert die Zurückhaltung der Kammern mehr Verantwortung zu übernehmen. Die Arbeitsgruppe Strafrecht der BRAK sieht die Vorschläge des Referentenentwurfs skeptisch. Dass ein Rechtsanwalt bei der Kammer sein Interesse an der Pflichtverteidigung bekunde, das könne allein nicht als Qualitätskriterium ausreichen. – und zwar auch im Hinblick auf die Anforderungen aus der europäischen Richtlinie. "Das wäre keine Qualität, wie sie die Richtlinie verlangt", sagt der Rechtsanwalt aus Dortmund. Damit wäre diese Lösung im Referentenentwurf sogar richtlinienwidrig.
Der Favorit der Arbeitsgruppe: Ein Pool mit ausreichend qualifizierten Anwälte, die etwa mindestens einem Jahr Berufserfahrung gesammelt haben, sowie eine Legal-Aid-Fortbildung absolviert. Die Auswahl der Verteidiger im Einzelfall soll dann so erfolgen: Wenn ein Verteidiger nach Anfrage nicht innerhalb von 45 Minuten annimmt oder absagt, der nächste in einem rollierenden System angefragt wird. Innerhalb von zwei Stunden nach der erfolgreichen Auswahl soll der Verteidiger dann seinen Mandanten treffen. Ein ähnliches System gibt es bereits in den Niederlanden.
"Unsere Aufgabe für die nächsten Wochen wird es sein, die anderen Anwaltsverbände mit ins Boot zu holen", so Neuhaus. "Unser Ziel ist es, dass die Anwaltschaft in dieser Sache mit einer Stimme spricht." Der DAV verwies auf Anfrage auf die noch laufenden Arbeiten an einer Stellungnahme und wollte sich nicht äußern.
Fremd- vs. Selbstwahrnehmung bei Richtern und Strafverteidigern
Das eingebaute Risiko für Klüngelei bleibt also bestehen, auch wenn es im Einzelfall schwierig zu beweisen ist – wie immer, wenn es um den Vorwurf der Intransparenz geht. Nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen versuchen bisher die strukturellen Defizite im deutschen System deutlich zu machen.
Strafrechtler Jahn aus Frankfurt am Main hatte über 3.000 Fragebögen an die Strafrechtsfachanwälte deutschlandweit geschickt, knapp 1.000 kamen ausgefüllt zurück. 60 Fragebögen schickte er an eine Kontrollgruppe aus hessischen Ermittlungsrichtern, 30 kamen zurück. Die Ergebnisse seiner Studie aus dem Jahr 2014 mögen nicht so sehr überraschen, sollten die Amtsrichter ja über ihre eigene Arbeit und Missstände Auskunft geben. Und so fällt auch die Fremd- und Selbstwahrnehmung deutlich auseinander: Während die Strafverteidiger als ein dominantes Auswahlkriterium bei den Gerichten "persönlicher Bekanntenkreis des Ermittlungsrichters" angaben, fiel dieses Auswahlkriterium aus Sicht der Ermittlungsrichter selbst verschwindend gering aus. Aus ihrer Sicht sind mit einem deutlichen größeren Anteil "fachliche Kriterien" entscheidend.
Legal-Aid-Boards in den Niederlanden und Litauen
Die Ergebnisse von Jahns Studie bestätigt eine Doktorarbeit von Sven Schoeller aus dem Jahr 2016. Sie geht noch einen Schritt weiter und wertet direkt die Akten aus knapp 700 abgeschlossenen Strafverfahren aus. Sie zeigt, dass in etwa jedem dritten untersuchten Pflichtmandat eine wiederholte Beiordnung eines bereits zuvor schon einmal bestellten Verteidigers durch denselben Richter vorlag.
Jahn vermutet, dass hinter der konkreten Bestellungspraxis an den Gerichten nicht Klüngelei oder böse Absichten stecken, sondern schlicht fehlende Anhaltspunkte für die Richter. Allerdings geben in seiner Befragung die Hälfte der Ermittlungsrichter an, selten oder nie Listen zu benutzen – woran orientieren sie sich dann? Wenn es darum geht, schon den Anschein jeder Klüngelei auszuschließen, gibt es bereits Vorbilder für Reformen. In den Niederlanden und in Litauen hat man bei den Justizverwaltungen spezielle "Legal-Aid-Boards" eingerichtet, die die Bestellung der Pflichtverteidiger organisieren – per Rotationsprinzip und mithilfe eines Computersystems. Für die deutsche Praxis scheint das noch Science-Fiction zu sein. Und bis auf Weiteres offenbar auch so bleiben.
* Anmerkung der Redaktion: An diesen beiden Stellen hieß es zusätzlich noch "notwendige" - das braucht es natürlich nicht wenn schon von Pflichtverteidigung die Rede ist, geändert am 14.11.2018 18.25 Uhr
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Auswahl von Pflichtverteidigern: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31957 (abgerufen am: 09.12.2024 )
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