Tausende Dieselverfahren, Klagen von Wirecard-Aktionären oder Ansprüche gegen Versicherer: Massenverfahren bringen die Justiz laut Richterbund dem Kollaps nahe. Das BMJ will jetzt reagieren, was die Anwaltschaft hellhörig macht.
Die Justiz ächzt unter einer Vielzahl von Verfahren, denen identische oder im Wesentlichen identische Sachverhalte zugrunde liegen, wie z.B. bei Klagen wegen des Dieselskandals.
Mit solchen Massenverfahren befassen sich im rechtspolitischen Raum seit längerem etliche Akteure. Diverse Arbeitsgruppen in den Ländern und auf Bund-Länderebene, dazu kommen immer wieder Justizministerkonferenzen (JuMIKo) – wie zuletzt Anfang Juni -, bei denen das Thema auf der Tagesordnung steht. Aus allen diesen Runden ist immer die die gleiche Botschaft zu vernehmen: "Wegen der Belastung durch Massenverfahren arbeitet die Ziviljustiz am Anschlag."
Die derzeitige Rechtslage führe zu einem unnötigen Verschleiß wertvoller Justizressourcen, heißt es etwa im Beschluss der JuMiKo vor wenigen Wochen. Und die Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes (DRB) Andrea Titz und Joachim Lüblinghoff warnen sogar vor einem "Kollaps". Es bestehe dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf, um eben einen solchen in der Ziviljustiz zu vermeiden.
Regelmäßiger Adressat dieser Appelle ist das Bundesjustizministerium (BMJ). Bereits vergangenen November hatte die JuMiKo das BMJ in ihrer Herbstkonferenz dazu aufgefordert, dringend etwas gegen die Belastung von Zivil-, aber auch Arbeitsgerichten durch sogenannte Massenverfahren zu unternehmen. Geschehen ist seitdem wenig. Denn nur so lässt sich der neuerliche Beschluss der Landesjustizminister:innen von Anfang Juni verstehen: "Die Justizministerinnen und Justizminister erinnern an den Beschluss der 92. Konferenz im November 2021, mit dem sie die Erarbeitung weiterer Gesetzesänderungen durch das Bundesministerium der Justiz erbeten haben."
Im Haus von Bundesjustizminister Marco Buschmann nachgefragt, warum es bei dem Thema Massenverfahren so lange mit der Lösung dauert, verweist man u.a. auf die Komplexität des Problems: Die Ursachen seien vielschichtig und bedürften daher differenzierter Lösungen. Aber es heißt auch: "Das BMJ nimmt die Herausforderung durch Massenverfahren, vor allem bei den Land- und Oberlandesgerichten und insbesondere durch die Dieselklagen, sehr ernst und sieht in diesem Bereich weiteren Handlungsbedarf."
BMJ kündigt Gesetzentwürfe an
Handlungsbedarf, den das BMJ nun offenbar Schritt für Schritt angeht: Ein BMJ-Sprecher kündigte gegenüber LTO für "demnächst" einen Referentenentwurf an, der die bis zum 25. Dezember 2022 anstehende Umsetzung der EU-Verbandsklagen-Richtlinie auf den Weg bringen soll. "Verbände können künftig Verbraucheransprüche gegen Unternehmer mit sogenannten Abhilfeklagen unmittelbar gerichtlich durchsetzen", erläutert er. Bei der Umsetzung werde ein besonderes Augenmerk auf die Entlastung der Justiz im Zusammenhang mit Massenverfahren gelegt.
Auch von der Digitalisierung in der Justiz verspricht man sich im BMJ Entlastung. So arbeite man derzeit an der Einführung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens, heißt es aus dem Ministerium. "Durch die strukturierte Erfassung des Prozessstoffs und den Einsatz technischer Unterstützungstools sollen diese Verfahren ressourcenschonender, effektiver und damit auch schneller bearbeitet werden können. Auch dies könnte – etwa bei regelmäßig auftretenden und gleichgelagerten kleineren Ansprüchen – zu einer Entlastung der Justiz beitragen."
Doch dabei soll es nicht bleiben: Aus einem internen Planungspapier des Ministeriums, das LTO vorliegt, ist für das zweite Quartal 2022 (also noch im Juni) auch ein Referentenentwurf zur audiovisuellen Beweisaufnahme im Zivilprozess geplant.
In diesem Gesetz könnte man gleich den Wünschen von Richterbund und JuMiKo Rechnung tragen und dabei Fragen der Beweisaufnahme im Zusammenhang mit Massenverfahren klären: "Es bedarf Regelungen, die unter Wahrung der Parteirechte eine Konzentration von Beweisaufnahmen ermöglichen, um bei gleichgelagerten Sachverhalten die vielfache Wiederholung von Zeugenvernehmungen und Sachverständigengutachten zu vermeiden", lautet die Forderung der Landesjustizminister:innen.
DAV und Berufsrechtler gegen Vorgaben für Parteivortrag
Gespannt sein darf man, ob das BMJ auch Wünsche von JuMiKo und Richterbund erfüllen wird, die massive Veränderungen der Zivilprozessordnung (ZPO) zur Folge hätten - und bei der Anwaltschaft die Alarmglocken schrillen lassen.
Es geht um Ideen wie etwa die Begrenzung des Instanzenzugs in Massenverfahren auf eine Tatsacheninstanz oder strukturelle Vorgaben für den Parteivortrag, um laut DRB das "Aufblähen" von Schriftsätzen mit Textbausteinen, teils ohne erkennbaren Bezug zum konkreten Sachverhalt, teils ohne klare Zuordnung der Anlagen zu verhindern. Die JuMiKo hatte Anfang Juni angeregt, den Gerichten Strukturvorgaben für einen einzelfallbezogenen und konzentrierten Parteivortrag zu machen.
Beim Deutschen Anwaltverein (DAV) und Berufsrechtlern stoßen diese Vorschläge auf Ablehnung: Generelle Vorgaben für einen strukturierten Parteivortrag würden die Besonderheiten des Einzelfalles nicht berücksichtigen, so DAV-Präsidentin Edith Kindermann. Berufsrechtler Prof. Dr. Matthias Kilian rechnet bei diesem Thema mit erheblichem Widerstand seitens der Anwaltschaft: "In einer Befragung des Soldan Instituts von mehr als 2.500 Berufsträgern lehnten zwei Drittel der Berufsträger diesen Vorschlag ab."
Kilian warnt beim Thema Massenverfahren gegenüber LTO grundsätzlich vor gesetzgeberischem Aktionismus und fordert mehr Evaluation: "Zunächst sollte einmal geklärt werden, woher die Überlastung eigentlich genau rührt und ob es 'die' Zivilgerichtsbarkeit als solche betrifft - von 2004 bis 2017 ist die Zahl der Neueingänge bei den Landgerichten, die nach meiner Wahrnehmung besonders vernehmlich ächzen, um 30 Prozent zurückgegangen. 2020 lagen wir bei den Neueingängen immer noch 17 Prozentpunkte unter dem Niveau des Jahres 2004." Dem Berufsrechtler zufolge liegen die Probleme weniger in der "Masse" an Verfahren in der Zivilgerichtsbarkeit als vielmehr "in Art und Inhalt der in Summe geringer gewordenen Verfahren".
Weniger Anwaltsgebühren, weniger Massenverfahren?
Eskalieren dürfte der Streit mit der Anwälten aber endgültig, wenn das BMJ eine Anregung umsetzt, die die Landesjustizminister:innen kürzlich auf ihrer Frühjahrskonferenz vorgeschlagen haben. Diese klingt, als solle durch Änderungen im Gebührenrecht den Anwälten die "Lust" auf Mandate im Zusammenhang mit Massenverfahren genommen werden. "Der aufgrund weitgehend deckungsgleicher Sachverhalte in großen Teilen identische Parteivortrag in Massenverfahren rechtfertigt es, Anpassungen der Rechtsanwaltsgebühren, wenn ein Prozessbevollmächtigter in einer Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren tätig wird, zu prüfen", heißt es im Beschluss der JuMiKo.
Weniger Anwaltsgebühren, weil weniger Arbeit? DAV-Präsidentin Kindermann erteilt diesem Prüfauftrag schon im Ansatz eine Absage. Der Vorschlag gefährde sowohl die dem Gebührenrecht innewohnende Quersubventionierung, die nicht nur den Gegenstandswert, sondern auch den zeitlichen Aufwand mit in den Blick nehme. Er verhindere auch, dass in komplexen, aufwendigen Fällen Verbraucher adäquate anwaltliche Unterstützung finden.
Auch Berufsrechtler Kilian hält den JuMiKo-Prüfauftrag für eine Schnapsidee: "Eingriffe in das Gebührenrecht als Reaktion auf eine Überlastung der Gerichte sind der falsche Ansatz. Das Gebührenrecht folgt von jeher konzeptionell dem Verfahrensrecht. Wenn man nun am Gebührenrecht schraubt, weil rechtspolitisch der Wille oder Mut fehlt, das Thema kollektiver Rechtsschutz grundlegend anzupacken, ist es, salopp gesagt, ein wenig so, als ob der Hund nicht mehr mit Schwanz wedelt, sondern der Schwanz mit dem Hund."
Im BMJ zeigt man sich unterdessen bei dem Thema offener: "Nach Einschätzung des Bundesjustizministeriums wirft die wachsende Bedeutung von Legal-Tech-Angeboten und die zunehmende Digitalisierung der Justiz auch grundsätzliche Fragen im Bereich des Gebührenrechts auf", sagte ein Sprecher.
Neues Vorabentscheidungsverfahren beim BGH?
Während mögliche Änderungen im Gebührenrecht für Anwälte auf heftigen Widerstand stoßen würden, könnte eine Änderung der ZPO, die die Revision betrifft, deutlich schneller "durchgehen". So spricht sich der DRB für die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim zuständigen Revisionsgericht aus - verbunden mit der Möglichkeit, ähnliche Verfahren im Hinblick auf das anhängige Vorabentscheidungsverfahren auszusetzen.
Wie das Ganze konkret ausgestaltet werden könnte, prüft nunmehr seit Sommer 2021 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Vorsitz des BMJ und Nordrhein-Westfalens. Entlastet werden soll die Justiz etwa durch Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof.
Justiz-Belastung durch Massenverfahren: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48764 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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