Mehr Steine als Brot: Das bringt der Koa­li­ti­ons­ver­trag für die Anwalt­schaft

Gastbeitrag von Dr. Patrick Heinemann

16.04.2025

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD verspricht eine modernere Justiz durch Digitalisierung und Strukturreformen – ist jedoch aus anwaltlicher Sicht enttäuschend. Der Zugang zum Recht wird erschwert statt verbessert, analysiert Patrick Heinemann.

Knapp 150 Seiten und mehr als 4500 Zeilen Text machen den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD aus – doch die Anwaltschaft wird an keiner Stelle erwähnt. Und das obwohl das Werk eine große Bandbreite von Fragen behandelt und dem Thema "Bürokratierückbau, Staatsmodernisierung und moderne Justiz" sogar ein eigenes Kapitel widmet. Woran könnte das liegen? 

Hier könnte ein Blick auf die personelle Zusammensetzung der Arbeitsgruppe lohnen, die während der laufenden Koalitionsverhandlungen zu diesem Thema getagt hatte. In ihr saßen als Chefverhandler Philipp Amthor (CDU), Daniela Ludwig (CSU) und Sonja Eichwede (SPD). Soweit ersichtlich, verfügen aus der insgesamt sechzehnköpfigen Gruppe lediglich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der bayerische Staatsminister für Bundesangelegenheiten und Medien Florian Herrmann (CSU) über eine Anwaltszulassung, wobei die anwaltlichen Rechte des Bayern für die Dauer seiner Amtszeit als Minister ruhen. Leider sah man bereits dem Paper der Arbeitsgruppe an, dass die anwaltliche Perspektive auf "Bürokratierückbau, Staatsmodernisierung und moderne Justiz" keinen größeren Raum einnahm. Nicht anders ist es schließlich im fertigen Koalitionsvertrag gekommen.

Allheilmittel Digitalisierung?

Dafür ist unter der Überschrift "Moderne Justiz" viel von Digitalisierung die Rede, als ob das ein Allheilmittel für jedes Problem wäre. So soll etwa ein "Online-Verfahren in der Zivilgerichtsbarkeit" eingeführt werden, zu dem bereits die Ampel einen Gesetzentwurf präsentierte, der der Diskontinuität zum Opfer fiel. Es sah vor, dass zunächst in einem Erprobungsmodell rechtsschutzsuchende Bürger Geldsummen bis zu 5.000 Euro über eine Online-Plattform beim Amtsgericht einklagen können sollten. Ob sich die hohen Erwartungen an dieses Projekt erfüllen werden, wird sich indes erst noch weisen müssen. 

Auch ansonsten liest sich der fertige Koalitionsvertrag aus anwaltlicher Perspektive stellenweise frustrierend. Wenn es heißt, "[d]urch eine deutliche Erhöhung des Zuständigkeitsstreitwertes stärken wir die Amtsgerichte", so dürfte ohne eine entsprechende personelle wie materielle Mehrausstattung zunächst das Gegenteil eintreten. Denn wenn mehr Verfahren erstinstanzlich vor Amts- statt den Landgerichten landen, verlagert sich die Belastung lediglich auf die regelmäßig kleineren Amtsgerichte. Wenn dann gleich im nächsten Satz der Koalitionsvereinbarung steht, dass die Rechtsmittelstreitwerte erhöht werden sollen, bedeutet das insoweit eine Beschränkung auf eine Instanz, was den Rechtsschutz verkürzt und damit ebenso wenig den Zugang zum Recht erleichtert. An einer späteren Stelle machen es sich CDU, CSU und SPD zur Aufgabe, die "Verfahrensdauern generell erheblich verkürzen, indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen". Das dürfte zwar mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar sein, die eine Rechtsmittelinstanz nicht zwingend verlangt. Eine Verbesserung des Zugangs zum Recht ist es gleichwohl nicht. Im praktischen Ergebnis werden die Verfassungsgerichte von Bund und Ländern mehr damit zu tun haben, offensichtlich grundrechtswidrige Entscheidungen zu korrigieren, die ansonsten häufig bereits in der fachgerichtlichen Rechtsmittelinstanz aufgehoben worden wären.

Strukturierter Parteivortrag versus rechtliches Gehör

Wohl für alle gerichtlichen Verfahrensordnungen sollen laut Koalitionsvereinbarung "Rechtsgrundlagen für Möglichkeiten der richterlichen Verfahrensstrukturierung, etwa durch frühzeitige Verfahrenskonferenzen oder Vorgaben zur Strukturierung des Parteivortrags" geschaffen werden. Was sich so knackig anhört, eröffnet im praktischen Ergebnis dem Gericht die Möglichkeit, den Parteien starre Vorgaben für ihr bislang freies Vorbringen zu machen, und schränkt damit das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ein. Zudem sieht die Vereinbarung vor, dass Präklusionsfristen (nach deren Ablauf neuer Vortrag nicht mehr berücksichtigt wird) allgemein ausgeweitet werden sollen. Auch das würde sich rechtsschutzverkürzend auswirken und den Zugang zum Recht nicht erleichtern, weil das die Prozessführung durch versierte anwaltliche Experten verstärkt erforderlich machen wird, die auf so manchem Rechtsgebiet jedoch rar gesät sind und entsprechend hohe Honorare für ihre Tätigkeit verlangen können.

Konkret im Bereich des Zivilrechts wollen CDU, CSU und SPD Impulse der Reformkommission "Zivilprozess der Zukunft" aufgreifen, wobei ausdrücklich "weitere Maßnahmen zur Bewältigung von sogenannten Massenverfahren" sowie die Stärkung richterlicher "Schätzungs- und Pauschalierungsbefugnisse" genannt werden. Letzteres soll nach Ansicht der Reformkommission den Arbeitsaufwand für die Gerichte insbesondere bei der Streitwertfestsetzung erleichtern.

Im Bereich der Strafrechtspflege verspricht der Koalitionsvertrag "eine grundlegende Überarbeitung der Strafprozessordnung", die unumgänglich sei, um eine effektive Strafverfolgung und eine zügige Verfahrensführung zu gewährleisten. Hierzu wollen die Koalitionäre eine Kommission aus Wissenschaft und Praxis unter Beteiligung der Länder einsetzen. Es ist sehr zu hoffen, dass in diesem Gremium die Expertise der Anwaltschaft angemessen vertreten sein wird.

Weniger Amtsermittlung im Verwaltungsprozess

Auch die Verwaltungsgerichtsordnung will Schwarz-Rot novellieren und dabei insbesondere die Einführung von Pilotverfahren sowie den vermehrten Einsatz von Einzelrichtern ermöglichen. Letzteres überrascht ein wenig, weil die bestehenden Vorschriften genau das bereits zulassen. Inwieweit von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, hängt erfahrungsgemäß sehr von der Kultur am jeweiligen Gerichtsstandort ab. Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass beklagte Hoheitsträger oft eine Klageabweisung durch die Kammer bevorzugen. Denn nach der von der Rechtsprechung entwickelten Kollegialgerichtsrichtlinie scheidet eine Amtshaftung auf der Sekundärebene in der Regel aus, wenn ein mit mehreren Berufsrichtern besetzter Spruchkörper die Entscheidung des jeweiligen Beamten (im Sinne von § 839 Abs. 1 BGB) für rechtmäßig erachtet hat. Das gilt selbst dann, wenn das Oberverwaltungsgericht später doch noch zu Gunsten des klagenden Bürgers entscheidet. 

Besonders schillernd ist die Passage, wonach sich die Verwaltungsgerichte "unter Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes künftig stärker auf den vorgebrachten Parteivortrag und auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung konzentrieren" sollen. Schon der unnötige Pleonasmus des "vorgebrachten Parteivortrags" lässt ahnen, dass hier nicht unbedingt zu Ende gedacht wurde. Verwaltungsgerichte konzentrieren sich jetzt bereits auf den Parteivortrag und die Rechtsprüfung – jede Anwältin, die regelmäßig dort verkehrt, weiß das. Wer nicht richtig vorträgt und sich auf die Amtsermittlung verlässt, handelt fahrlässig und setzt sich einem Berufshaftungsrisiko aus. Wenn die Verwaltungsgerichte einerseits weniger Amtsermittlung betreiben, andererseits aber den Parteivortrag strukturieren sollen, steht das zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis. So oder so wird man abwarten müssen, wie diese Ideen in konkrete Vorschriften des Prozessrechts übersetzt werden sollen. Schon jetzt besteht nach § 87b Abs. 2 VwGO für das Gericht die Möglichkeit, einem Beteiligten unter Fristsetzung aufzugeben, bestimmte Tatsachen oder Beweismittel zu bezeichnen oder Letztere vorzulegen, und nach Ablauf dieser Frist unentschuldigt verspäteten Vortrag zurückzuweisen, wenn er den Rechtsstreit verzögert. Denkbar wäre es, dass der Gesetzgeber die Anforderungen an den Eintritt dieser Präklusionswirkung herabsenkt, also insbesondere auf das Erfordernis einer Verzögerung des Rechtsstreits verzichtet.

Kleinstaatliche Experimente mit der Gerichtsverfassung

Schließlich sieht der Koalitionsvortrag auf dem Feld der Justiz noch vor, die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder durch Öffnungs- und Experimentierklauseln im Bereich der Gerichtsorganisation, der Digitalisierung und der gerichtlichen Zuständigkeiten zu "stärken". Ob das so eine gute Idee ist, dass die Struktur der Gerichte und Justizbehörden künftig nicht mehr bundesweit einheitlich aussehen könnte? Die Vereinheitlichung der Gerichtsverfassung durch das Gerichtsverfassungsgesetz ist schließlich eine wesentliche Errungenschaft der Reichsjustizgesetzgebung des Jahres 1877, hinter die man nicht leichtfertig zurückfallen sollte. Sie ist schließlich eine wichtige Voraussetzung, damit Rechtsanwälte problemlos bundesweit praktizieren können, ohne sich über länderspezifische Vorschriften etwa über das im konkreten Fall zuständige Gericht den Kopf zerbrechen zu müssen.

So fällt die Bilanz aus anwaltlicher Perspektive durchwachsen aus: Wer den Zugang zum Recht verbessern will, muss auch die Anwaltschaft stärken. Dass der Koalitionsvertrag dazu nichts enthält, bedeutet Steine statt Brot – nicht nur für die Rechtsanwälte, sondern auch für die Rechtsschutzsuchenden. 

Zitiervorschlag

Mehr Steine als Brot: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57019 (abgerufen am: 29.04.2025 )

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