Mit "Frag den Grüneberg" hat der berühmte BGB-Kommentar eine KI-Anwendung bekommen. Was beeindruckt, wann das System halluziniert, und warum bei Quellenangaben Vorsicht geboten ist, Michael Beurskens hat den neuen "Grüneberg" getestet.
Erstmals ist eine Auflage des bekannten BGB-Kommentars "Grüneberg" (ehemals Palandt) mit einer KI-basierten Online-Anwendung "Frag den Grüneberg" erhältlich. Für die juristische Praxis bedeutet das einen Meilenstein.
Neben der "intelligenten" Volltextsuche (die das Blättern auf Papier erspart und vor allem der aktuellen Suchfunktion in der hauseigenen Datenbank meilenweit überlegen ist) und dem automatisierten Dekomprimieren der werktypischen Abkürzungen sind es vor allem die (namensgebende) Fragefunktion und die "Falllösung im Dialog", welche den Anwendern eine bislang ungeahnte Arbeitserleichterung versprechen. In der Sache verarbeitet das System den gesamten Text des Kommentars, beschränkt sich dabei aber gezielt auf Rechtsfragen. Die triviale Frage "Wer ist Grüneberg?" bleibt daher unbeantwortet wie ein freundliches "Guten Morgen" im "Dialog".
Die Ergebnisse der Fragefunktion sind beeindruckend – so kann das System problemlos § 142 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) von der insolvenzrechtlichen Anfechtung und der aktienrechtlichen Anfechtungsklage abgrenzen und führt dabei sogar zu Regelungen aus, die im zugrundeliegenden Werk nicht kommentiert wurden. Selbst Trickfragen wie "In welchen Regelungen des BGB spielt Weihnachten eine Rolle?" beantwortet das System sinnvoll ("Weihnachten spielt im BGB insbesondere im Zusammenhang mit Anstandsschenkungen eine Rolle. … Darüber hinaus ist Weihnachten als staatlich anerkannter allgemeiner Feiertag relevant für die Berechnung von Fristen").
Argumente für abweichende Auffassung fehlen
Der Quelle bedingt fehlen aber meist Argumente für eine von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) abweichende Auffassung. Und selbst die tragenden Erwägungen des BGH sind meist stark verkürzt. So folgt etwa auf die Frage "Was spricht dagegen, neben der Anfechtung nach § 123 BGB auch Ansprüche aus culpa in contrahendo zuzulassen?" die Antwort: "Es spricht nichts dagegen, neben der Anfechtung nach § 123 BGB auch Ansprüche aus culpa in contrahendo zuzulassen. Die Anfechtung nach § 123 BGB und die Haftung aus culpa in contrahendo schließen sich nicht aus, sondern können nebeneinander bestehen. Dies ergibt sich aus der Rechtsprechung […]." Karlsruhe locuta, causa finita est - wer einmal gegen den BGH argumentieren möchte, sollte auf andere Hilfsmittel zurückgreifen.
Schwächen weist das System auch im Internationalen Privatrecht auf. Auf die Frage "Gilt deutsches Recht, wenn ein deutscher Verbraucher ein Notebook in einem Online-Shop in den USA bestellt?" verweist der virtuelle Grüneberg auf Art. 5 Rom I-VO. Wieso bei der Bestellung ein "Vertrag über die Beförderung von Gütern" (und nicht ein Kauf, bei dem die Beförderung nur notwendige Nebenleistungspflicht wäre) vorliegen soll, bleibt offen. Ganz ausgeklammert sind (der Quelle bedingt) Themen wie etwa die Fluggastrechteverordnung.
Dennoch zeigt sich das System in der Verarbeitung aus Nutzersicht intelligent und kann auf Fragen wie "Entspricht eine E-Mail der durch Rechtsgeschäft vereinbarten Schriftform?" zutreffende Antworten liefern ("Nach § 127 Abs. 2 BGB ist zur Wahrung der durch Rechtsgeschäft bestimmten schriftlichen Form die telekommunikative Übermittlung ausreichend, sofern nicht ein anderer Wille anzunehmen ist. Dies bedeutet, dass eine E-Mail grundsätzlich die Schriftform wahren kann, wenn die Parteien dies nicht anders vereinbart haben.").
Antworten eher zu ausführlich
Die KI verhaspelt sich allerdings in der Folge, indem sie zu § 126b BGB ausführt und betont, dass "für bestimmte Rechtsgeschäfte, wie beispielsweise die Kündigung eines Bauvertrags, die Schriftform im Sinne des § 126 Abs. 1 BGB erforderlich ist" – was aber eben nur die gesetzliche Schriftform betrifft. Generell sind die Antworten (für den Grüneberg-Leser ungewohnt) eher zu ausführlich als zu kurz.
Nicht zuverlässig ist das System derzeit beim Einsatz als Vertragsgenerator. Auf die Aufforderung, einen Gewährleistungsausschluss für einen Onlineshop zu generieren erhält man die salomonische Klausel "Der Verkäufer schließt jegliche Gewährleistung für Sachmängel aus, soweit dies gesetzlich zulässig ist. Dieser Ausschluss gilt nicht für Schäden, die auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Verkäufers beruhen, sowie für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit. Der Haftungsausschluss gilt ferner nicht, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat (§ 444 BGB)".
Diese Antwort lässt sowohl § 476 BGB (Abweichende Vereinbarungen) und § 309 Nr. 8 lit. b BGB (Haftungsausschluss bei Mängeln) unbeachtet (die in der Erklärung der Klausel immerhin auftauchen) als auch die grobe Fahrlässigkeit von Erfüllungsgehilfen (§ 309 Nr. 7 lit. b BGB). Besser gelingt dem System hingegen die eigentlich anspruchsvollere Generierung einer Schönheitsreparaturklausel oder eines Berliner Testaments.
Verwirrtheit und Halluzinationen
Gelegentlich wird das System verwirrt. So lautet etwa auf die Frage "Welche Argumente sprechen gegen die Anerkennung des Scheingeheißerwerbs?" die Antwort: "Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Nichtigkeit des Scheingeschäfts gemäß § 117 BGB und das Fehlen eines Rechtsbindungswillens wesentliche Argumente gegen die Anerkennung des Scheingeheißerwerbs darstellen." Das hat nun schlicht nichts mit der hier einschlägigen Problematik des § 932 I 2 BGB zu tun.
Bei Buzzwords wie "digitaler Selbsthilfe" gesteht das System hingegen sein fehlendes Verständnis ein: "Eine direkte Verbindung zwischen den Regelungen zur Selbsthilfe und den Vorschriften zu digitalen Inhalten und Dienstleistungen besteht nicht. Daher lässt sich der Begriff 'digitale Selbsthilfe' nicht aus den bereitgestellten Dokumenten ableiten."
Auch Halluzinationen sind leider trotz aller durch die Anbieter vorgenommenen Filter- und Qualitätssicherungsmaßnahmen nicht vollends ausgeschlossen. Auf die Frage "Worum ging es im Hemdenfall des BGH?" antwortet das System selbstsicher: "Im sogenannten 'Hemdenfall' des Bundesgerichtshofs (BGH) ging es um die Anfechtbarkeit eines Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 BGB. Der Käufer hatte Hemden erworben, die als 'bügelfrei' beworben wurden, was sich jedoch als falsch herausstellte. Der BGH entschied, dass die Täuschung über eine wesentliche Eigenschaft der Kaufsache vorlag, die den Käufer zur Anfechtung des Vertrags berechtigt."
System liebt § 123 BGB
Selbst die zitierten Fundstellen geben dafür jedoch nichts her. Überhaupt liebt das System offenbar § 123 BGB. Wer kennt z.B. nicht den berühmten "Christkindl-Fall" des BGH. Dazu führt die KI aus: "Im sogenannten Christkindl-Fall des Bundesgerichtshofs (BGH) ging es um die Anfechtung einer Willenserklärung wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 BGB. Der Fall betraf eine Täuschung über die Lieferung bei einem Mietkauf, wobei der BGH entschied, dass eine solche Täuschung zur Anfechtbarkeit der Willenserklärung führt." Auf die gezielte Frage nach Fundstellen ("Wo finde ich den Hemdenfall des BGH?") liefert das System nur ein virtuelles Achselzucken: "Aus den zur Verfügung stehenden Textabschnitten aus dem Grüneberg kann ich die Antwort nicht generieren."
Den BGH-Richter Christian Grüneberg bekommt man also auch mit dem digitalen Grüneberg nicht ins Büro bzw. auf das Smartphone. Dafür aber eine durchaus kompetente und umfassende Recherchefunktion. Von der eigenen kritischen Würdigung entbindet der Onlinedienst aber nicht. Die (per Vorgabe ausgeblendeten) Quellennachweise sollte der Nutzer in jedem Fall nachlesen, um die Qualität der Antwort zu klären. Insoweit entspricht das System einem fleißigen Referendar, dessen Quellen sich auf einen Kurzkommentar und Allgemeinwissen beschränkt und der nur eingeschränkt kreativ und argumentativ arbeiten will.
Autor Prof. Dr. Michael Beurskens, LL.M. (University of Chicago), LL.M. (Gew. Rechtsschutz), Att. at Law (New York) ist Inhaber des Lehrstuhls für Privatrecht, insbesondere Wirtschaftsrecht und Digitalisierung, an der Universität Passau.
Die im C.H.Beck-Verlag erschienene 84. Auflage des Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch (ehemals Palandt) mit Rechtsstand Oktober 2024 enthält erstmals auch die KI-basierte Online-Anwendung "Frag den Grüneberg".
Frag den Grüneberg: . In: Legal Tribune Online, 13.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56105 (abgerufen am: 24.01.2025 )
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