Der "Strafverteidiger" feiert Geburtstag – und damit ein Kapitel deutscher Justizkultur. Matthias Jahn bringt Licht in das Dunkel der Entstehungsgeschichte im linksalternativen Milieu der frühen 1980er Jahre.
"Ich hatte das Gefühl, daß die Luft raus ist, jeder schon mit seinen Gedanken woanders war. Für mich war das rausgeschmissene Zeit." So schrieb, in schonungsloser Schärfe, Rechtsanwalt Hans-Joachim – Spitzname: Vasco – Weider an die "Lieben Kollegen" der im Entstehen begriffenen Zeitschrift Strafverteidiger. Es ist November 1980. Die erste Redaktionssitzung hatte erkennbar keinen allseits als erfreulich empfundenen Verlauf genommen.
Optimistischer hatte die – damals wie heute – einzige Kollegin in der Redaktion einige Monate zuvor eingeladen: "In der Anlage übersende ich Ihnen das Exposé der Juristischen Fachzeitschrift 'Strafverteidiger', die ab Januar 81 monatlich erscheinen soll. Das Projekt ist bisher erst einem kleineren Kreis bekannt. Die Zeitschrift lebt von der Mitarbeit der Kollegen, deswegen lädt die Redaktion Sie zu einem Treffen ein“.
Legendärer Brandbrief
Was also war an diesem düsteren Novemberfreitag vor vier Jahrzehnten passiert – oder gerade nicht passiert? Werfen wir noch einen weiteren Blick in Vasco Weiders später legendären Brandbrief: "Der 'Strafverteidiger' sollte einmal die Zeitung für den Verteidiger werden. Es müsste quasi (ähnlich zur NJW) als Kunstfehler angesehen werden, Entscheidungen und Aufsätze nicht zu kennen, die bei uns veröffentlicht sind. Kommen wir über den Informationslevel einer MDR nicht hinaus, können wir die Sache vergessen. Bezieherkreis ist dann ein Teil der liberalen und linken Strafverteidiger, vielleicht 500. Adressatenkreis ist doch aber auch der Teil der Anwaltschaft, der auch Strafsachen macht."
Was sehen wir, wenn wir heute auf diese Entstehungszeit der Zeitschrift zurückschauen? Zunächst solche Bilder: "Das erste deutsche Retortenbaby wird geboren. Der erste Commodore 64 kommt auf den Markt, woraufhin das Nachrichtenmagazin Time den Computer zur 'Maschine des Jahres' wählt. Und es trennt sich die Popgruppe Abba."
Mit diesen drei Schlaglichtern erinnert sich Günther Sander, Vorsitzender Richter eines Strafsenats am Bundesgerichtshof (BGH), an jene Tage. Und weiter: "In der noch jungen Zeitschrift 'Strafverteidiger' wird ein Beitrag des bis dahin unbekannten Rechtsanwalts Detlef Deal aus Mauschelhausen zu sog. strafprozessualen Vergleichen veröffentlicht. Da diese fast jeder kenne und fast jeder praktiziere, aber keiner darüber spreche, so heißt es darin, sollten sie 'dem Tabu entrissen werden'. Man braucht nicht mutig zu sein, um den genannten Beitrag 'aus der Praxis' eine der folgenschwersten juristischen Publikationen aller Zeiten zu nennen“.
Das juristische Establishment gratuliert
Es war also gut, dass Weider und seine Mitstreiter ihr Projekt den Mühen der Ebene zum Trotz weiterverfolgt haben. Als Weider für seinen folgenschweren Aufsatz kurzfristig das Pseudonym Detlef Deal annimmt, ist der Strafverteidiger im zweiten Jahr des Bestehens schon etabliert. Gleichzeitig beginnt der Stern des Strafrechts in anderen Periodika zu sinken. Die im Brandbrief erwähnte MDR (Monatsschrift für Deutsches Recht) ist seit Jahrzehnten strafrechtsabstinent, selbst die NJW dosiert den Stoff homöopathisch. Und das juristische Establishment kommt am Strafverteidiger nicht vorbei.
Eine Blütenlese aus internem Schriftverkehr belegt das. So sprach der damalige Vorsitzende des 2. Strafsenats des BGH der Redaktion im Februar 1981 seinen verbindlichsten Dank aus: "Ich bin sicher, daß Ihre neue Zeitschrift auch uns Richtern wertvolle Anregungen geben wird, vorausgesetzt, daß uns ausreichend Zeit bleibt, sie einigermaßen sorgfältig zu lesen."
Schon vor vielen Jahrzehnten wusste man in der Karlsruher Herrenstraße, dass jedes richterliche Schriftstück, das nicht auf die Geschäftslast hinweist, eine vergebene Chance ist. Nur quietschende Türen werden in der Justiz geölt. Hannskarl Salger, späterer Vizepräsident des BGH, sekundierte: "Die Zeitschrift füllt mit Sicherheit eine Marktlücke. Die Information der Strafverteidiger über die Handhabung vor allem des Strafprozeßrechts war bisher äußerst mangelhaft. Ich kann das beurteilen, weil ich 'vom Anwalt zum Richter' gewechselt bin, und so die Nöte eines Strafverteidigers bereits vor meiner Richterlaufbahn kennen gelernt habe."
Von der Berufung für Einzelne zum Beruf für Viele
Retortenbaby – Commodore 64 – Abba? Vier schwedische Musiker touren als "ABBAtare" um den Erdball, die die Band digital so darstellen, als seien vierzig Jahre spurlos vorübergezogen. Chatbots sind der neue Commodore 64. Sie erwerben passable Abschlüsse an Universitäten und sollen als Robolawyer dem Angeklagten eine Strategie einflüstern. Und die Strafverteidigung? Sie hat sich ihrer Kinderschuhe entledigt. Lange Zeit war sie nur eines von vielen Gebieten, das Rechtsanwälte als Generalisten bevölkerten, häufig als Verlegenheitswahl.
Dies wandelte sich erst Ende der 1970er Jahre, Folge unterschiedlicher Auslöser wie der "Terroristenverfahren", der ersten Wirtschaftsstrafprozesse und eines an und mit ihnen erwachenden Standesbewusstseins, das seit der Weimarer Zeit mit ihren prägenden Verteidigerpersönlichkeiten im schockgefrorenen Nachkriegsdeutschland verloren gegangen war. Das Engagement beruhte in einigen Fällen auf weltanschaulichen und in anderen auf wirtschaftlichen Motiven. Strafverteidigung wurde von der Berufung für Einzelne zum Beruf für Viele.
Von der Theorie zur Praxis
Die Professionalisierung wurde durch die formale Organisation der Verteidigungsinteressen beschleunigt. Als Katalysatoren dienten kollegialer Austausch und institutionalisierte Fortbildung, letzteres als praktizierte Selbsthilfe gegen eine anfangs übermächtige und wissende Staatsgewalt.
Als Beispiel mag die Gründung des Vereins Deutsche Strafverteidiger im Jahre 1974 dienen, die es im kommenden Jahr zu feiern gilt. Anwältinnen und Anwälte, die sich zuvor nur auf den Strafrechtsfragen gewidmeten Tagungen des Deutschen Anwaltvereins DAV getroffen hatten, diskutierten nunmehr gezielt Rechts- und Praxisfragen der Verteidigung. Das führte zu Grabenkämpfen. Dazu traten bis zu den Befreiungsschlägen durch das Bundesverfassungsgericht latente Konflikte der Anwälte mit ihrer Selbstverwaltung. Erste Praktiker begannen, Handbücher zusammenzustellen, um ihr Wissen um die informellen Programme des Verfahrens verfügbar zu machen. Professoren (hier, bei aller Progressivität, nicht geschlechtsabstrahierend zu verstehen) legten Gesetzentwürfe zur Novellierung der Vorschriften über die Verteidigung in der Strafprozessordnung vor oder traten in öffentlichkeitswirksamen Verfahren vor und hinter den Kulissen auf.
"Quälgeister der Justiz"
Und 1981 wurde schließlich der Strafverteidiger gegründet, gewissermaßen als Schlussstein.
"Auf dem Gebiet der Strafverteidigung gibt es bisher keine juristische Fachzeitschrift. Strafverteidigung als besondere Disziplin existiert nicht", heißt es im Editorial der ersten Ausgabe, die in der aktuellen Ausgabe 9/23 als Faksimile wiederabgedruckt ist. Das Blatt schrieb sich auf die (Druck-)Fahne, dies zu verändern.
Die Neugründung löste, wie schon bei den Anwaltsorganisationen, wieder kleinere politische Beben aus. Zu Beginn ließen sich kaum Autoren finden, die auf der Titelseite stehen wollten – zu unsicher war die Rezeption in einem gesellschaftlichen Klima, das den Rechten des Beschuldigten nach als bleiern empfundenen Jahren skeptisch gegenüberstand. In der öffentlichen Wahrnehmung und in den Medien dominierte das Bild vom Verteidiger als "Quälgeist der Justiz" (Sabine Rückert, DIE ZEIT).
Bei Gerichten und Staatsanwaltschaften stieß der Strafverteidiger auf stillen Widerstand. Die Belieferung mit Urteilen wurde blockiert oder dort publizierte Entscheidungen wurden in Strafrechtskommentaren als "unveröffentlicht" geführt. Noch im gleichen Jahr wurde die Neue Zeitschrift für Strafrecht als Gegengründung aus der Taufe gehoben.
Vielfalt und Diversität der Strafverteidigung
Mehr als vierzig Jahre später ist Strafverteidiger ein etabliertes Berufsbild, dem sich auch die Besten unter den Uniabsolventen und, zum Glück, zunehmend auch Absolventinnen schon im Referendariat zuwenden. Strafrechtlich spezialisierte Sozietäten mit dutzenden Berufsträgern sind keine Seltenheit. Von der Individual- hin zur Unternehmensverteidigung, von der Schwurgerichtsverteidigung tief in das Wirtschafts-, Umwelt- und Medizinstrafrecht hinein zeichnet sich die heutige Landschaft durch eine Vielfalt und Diversität aus, die Ende der 1970er Jahre noch jenseits des Vorstellbaren lag.
Inzwischen existiert auch eine unüberschaubare Menge an Fachliteratur und eine Reihe hochspezialisierter Zeitschriften. Im Jahre 1997 wurde der Fachanwaltstitel für Strafrecht eingeführt, der dem rechtssuchenden Publikum den Weg zum Spezialisten weisen soll. Und für eine Kommentierung aller Vorschriften über die Verteidigung in der StPO genügten im Jahr 1978 noch 171 Druckseiten. Heute sind es mehr als dreimal so viele, 607.
Prof. Dr. Matthias Jahn ist Inhaber eines Lehrstuhls für Straf- und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt und seit 15 Jahren einer von fünf Redakteuren des "Strafverteidiger".
Eine ausführliche Fassung des Beitrags ist in der Zeitschrift (StV 2023, Heft 9, Seite 618) im Verlag Carl Heymanns/Wolters Kluwer erschienen. Im gleichen Heft (StV 2023, Heft 9, Seite 654) findet sich eine Rezension des Buchs "Zeugen der Verteidigung – 25 Anwaltspersönlichkeiten erzählen", herausgegeben von Rechtsanwalt Prof. Dr. Michael Tsambikakis und Jahn, ebenfalls - wie LTO - verlegt bei Carl Heymanns/Wolters Kluwer, aus dessen Einführung der beiden Herausgeber zur 2. Auflage 2023 ebenfalls Auszüge wiedergegeben werden.
Die Zeitschrift "StV – Strafverteidiger ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
40 Jahre "StV – Strafverteidiger": . In: Legal Tribune Online, 09.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52664 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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