Auf die Idee aus dem BMJV, zur Legal-Tech-Entwicklung Venture Capital in Kanzleien zuzulassen, reagieren die Anwaltskammern mit Realitätsverweigerung, meint Dirk Uwer. Sie riskierten die Teilnahmeberechtigung am rechtspolitischen Diskurs.
Die Reaktionen der Rechtsanwaltskammern (RAK) auf die vom BMJV am 27. August 2019 veröffentlichten Eckpunkte für eine Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften kamen so organisationstypisch langsam wie inhaltlich vorhersehbar. Unsere britischen Freunde pflegen den unverzeihlichen Mangel an Originalität mit dem Verdikt "You are so predictable" zu belegen.
Während andernorts der Anwalt 4.0 und die Notwendigkeit einer – horribile dictu – massiven Liberalisierung des anwaltlichen Berufsrechts thematisiert werden, um Anwälten ein Mindestmaß an Konkurrenzfähigkeit in der Legal-Tech-Welt zu sichern, dekretierte beispielsweise ein Schreiben aus dem Vorstand der RAK Hamm an die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und an alle regionalen Kammern: Die vom BMJV (nur vorsichtig vorgebrachte) "Argumentation, mit welcher ein Wagniskapital für die Entwicklung von bspw. Legal Tech Produkten zugelassen werden soll, ist in keiner Weise nachvollziehbar."
Wie es immer so ist mit der anwaltstypischen, doch unbedachten und stets unbeholfenen Formulierung vermeintlich fehlender Nachvollziehbarkeit: Semantisch dokumentiert sie ungewollt ein Verständnisdefizit allein beim Schreiber, der am intellektuellen Nachvollziehen des Gelesenen scheitert.
In einer Welt, die schon jetzt und in Zukunft unausweichlich geprägt sein wird von Predictive Analytics, drohen die Anwaltskammern erneut aus der Zeit zu fallen. Während der frühere Columbia-Universitätsprofessor Eric Siegel das Data Mining zur Vorhersage künftiger Entwicklungen auf der Grundlage historischer Daten ebenso instruktiv wie plakativ als "reinventing industries" (und das umfasst auch die "legal industry") und "running the world" beschreibt, lässt so manchen Kammerfunktionär allein der Begriff der legal industry schaudern. Es besteht die Gefahr, so die Teilnahmeberechtigung am (rechts-)politischen Diskurs zu verspielen, der sich weder mit Realitätsverweigerung aufhalten lässt noch in Berufsrechtssklerose erstarren darf.
"Unterwanderung des unbedingt schützenswerten Fremdbesitzverbotes"?
Der solchermaßen ein- und missgestimmte Leser wird von der RAK Hamm noch strenger belehrt: "Jegliche Form der Kapitalbeteiligung, sei es in Form der Fremdkapitalbeteiligung oder auch in Form der Wagniskapitalbeteiligung, im Wege der zweckgebundenen Beteiligung, ist strikt abzulehnen." Alles andere führe "zu einer Unterwanderung des unbedingt schützenswerten Fremdbesitzverbotes."
Starke Worte; kleiner hatte man es offenbar nicht. Dabei sind die ministeriellen Vorschläge weder revolutionär noch besonders innovativ. Teilweise beschränken sie sich darauf, Anachronismen der Bundesrechtsanwaltsordnung von 1959 zu beseitigen, die noch immer im Wesentlichen nur den Einzelanwalt als Adressaten statusbegründender Berufspflichten kennt.
Das anwaltliche Gesellschaftsrecht hat sich von der Wirklichkeit der Rechtsdienstleistungsmärkte abgekoppelt und ist dringend reparaturbedürftig. Das räumen auch die Anwaltskammern ein. An ihrer überwiegend aus nostalgischer Retrospektion gespeisten Veränderungsresistenz ändert das freilich nichts.
Chimäre Fremdbesitzverbot
Allzu viel rhetorischer Schaum vor dem empörten Mund beeinträchtigt irgendwann das Sehvermögen und damit auch den kühlen Blick auf die (Rechts-)Wirklichkeit: Das offenbar als absolut missverstandene "Fremdbesitzverbot" ist eine Chimäre aus rudimentären gesetzlichen Vorgaben vor allem für die interprofessionelle Berufsausübungsgemeinschaft und imaginierten Zuschreibungen ohne Verortung im positiven Recht.
Doch der Reihe nach: Begrifflich ist "Fremdbesitz" im anwaltlichen Gesellschaftsrecht von vornherein ein unpassender Begriff. Es geht ja nicht wie bei § 872 Bürgerliches Gesetzbuch um die Abgrenzung zum Eigenbesitzer, sondern um die Inhaberschaft von Gesellschaftsanteilen der Berufsausübungsgemeinschaft durch Nicht-Anwälte. Dieser "Fremdbesitz" ist seit einem Vierteljahrhundert gesetzliche Realität: Die Vorschrift des § 59a Abs. 1 und 2 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) sieht genau das vor. Sie regelt die Zulässigkeit der beruflichen Zusammenarbeit mit Nicht-Anwälten bestimmter Professionen, und zwar rechtsformunabhängig.
Nur für die (interprofessionelle) Rechtsanwalts-GmbH bestimmt § 59e Abs. 2 Satz 1 BRAO, dass die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte Rechtsanwälten zustehen muss. Mit den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsanwalts- und Patentanwalts-GmbH vom 14. Januar 2014 (1 BvR 2998/11) und zur interprofessionellen Partnerschaft eines Rechtsanwalts mit einer Ärztin und Apothekerin vom 12. Januar 2016 (1 BvL 6/13 - Horn) haben diese "Fremdbesitz"-Tatbestände massive verfassungsrechtliche Liberalisierungen erfahren.
Dass bei einer GmbH von Rechts- und Patentanwälten Regelungen die Berufsfreiheit verletzen, die zugunsten einer der beteiligten Berufsgruppen deren Anteils- und Stimmrechtsmehrheit sowie deren Leitungsmacht und Geschäftsführermehrheit vorschreiben, ist freilich eine Erkenntnis, deren Vermittlung nicht zwingend eines Karlsruher Senatsbeschlusses bedurfte hätte. Gleiches gilt für das Sozietätsverbot aus § 59a Abs. 1 S. 1 BRAO, das mit der Berufsfreiheit unvereinbar ist, soweit es Rechtsanwälten die gemeinschaftliche Berufsausübung mit Ärzten oder Apothekern im Rahmen einer Partnerschaftsgesellschaft untersagt. Ohne die vom BMJV erwogenen Erweiterungen interprofessioneller Berufsausübung und die Abschaffung anwaltlicher Mehrheitserfordernisse wäre es weiterhin Sache des BVerfG, der Anwaltschaft durch Regulierungsrückbau jenen Freiheitsgewinn zu vermitteln, den viele ihrer Kammerorgane anscheinend für einen unzumutbaren Affront gegen den hochregulierten Besitzstand halten.
Sozietätsfreiheit ist die Regel
Es gibt also kein pauschales "Fremdbesitzverbot" im bestehenden anwaltlichen Gesellschaftsrecht, sondern, wie das BMJV erkannt hat, einen verfassungsrechtlich kränkelnden Rechtsrahmen für die interprofessionelle Berufsausübung. Er beschränkt die Sozietätsfähigkeit verfassungswidrig auf bestimmte Berufe und statuiert rechtsformabhängig Beschränkungen für die Höhe der Kapitalbeteiligung und die Stimmrechte von Nicht-Anwälten.
Das ist der Befund de lege lata, und er bedarf de lege ferenda mutiger, nachhaltiger Korrekturen. Was immer man in Kammervorständen für ein "unbedingt schützenswertes" Verbot halten und unter Unterwanderungsschutz stellen mag: der "Fremdbesitz" wird so zum argumentativen Mähdrescher in den zartgeblümten Rabatten des Artikels 12 Grundgesetz (GG).
Dabei umfasst die Berufsfreiheit selbstverständlich auch die Freiheit der gemeinschaftlichen Berufsausübung. Sozietätsbeschränkungen gleich welcher Art sind rechtfertigungsbedürftige Berufsausübungsregelungen. Die Zusammenarbeit von Anwälten mit anderen Berufen ist als Freiheitsbetätigung die nicht rechtfertigungsbedürftige Regel; jede Rechtsnorm zur Beschränkung dieser a priori unbeschränkten Zusammenarbeitsfreiheit muss den formellen und materiellen Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG und insbesondere dem Übermaßverbot genügen. Dass etwas "immer schon so war" und deshalb "schützenswert" ist, hat verfassungsrechtlich keine Bedeutung.
Gegen jede Form der Kapitalbeteiligung?
Sobald man die Chimäre des "Fremdbesitzverbots" aus der Diskussion verabschiedet hat, kann man sich den anderen Beteiligungsformen zuwenden, deren Diskussion das Eckpunktepapier mobilisiert zu haben scheint. Auch hier muss wiederum die erwähnte Stellungnahme aus Hamm herhalten – als bloß exemplarischer Beleg jener argumentativen Unterbilanz im berufspolitischen Diskurs, denn solches liest man leider häufig: In einem Rundumschlag werden "jegliche Form der Kapitalbeteiligung" und als solche beispielhaft "Fremdkapitalbeteiligung" oder "Wagniskapitalbeteiligung" und eine ominöse "zweckgebundene Beteiligung" abgelehnt.
Rundumschläge sind bekanntlich selten zielgenau, und auch dieser ist nicht treffsicher: § 59a BRAO geht selbstverständlich davon aus, dass der Berufsträger in der Berufsausübungsgemeinschaft eine "Beteiligung" hält, die je nach Gesellschaftsform mit einem Anteil am Gesellschaftskapital, also einer Kapitalbeteiligung, einhergehen kann. Für die Rechtsanwalts-GmbH ist die "Kapitalbeteiligung" explizit in § 59e BRAO besonderen Regelungen unterworfen.
Diese Kapitalbeteiligung ist gesellschaftsrechtlich und bilanziell Eigenkapital und nicht Fremdkapital. Eine Kapitalbeteiligung wird auch nicht vom Eigen- zum Fremdkapital, wenn ein sozietätsfähiger nicht-anwaltlicher Berufsträger Gesellschafter ist. Wenn mit der Kapitalbeteiligung also keinesfalls die eines sozietätsfähigen nicht-anwaltlichen Gesellschafters gemeint sein kann, was also ist dann Fremdkapitalbeteiligung genau? Man ahnt es: Die Kapitalbeteiligung eines nicht-sozietätsfähigen Dritten – aber die wäre in der Regel auch bilanzielles Eigenkapital.
Am Scheidepunkt
Die ebenfalls inkriminierte Wagniskapitalbeteiligung, die in Ziffer 7 des Eckpunktepapiers zaghaft angesprochen wird, findet sich entweder als (außerbörsliches) Eigenkapital oder als Mezzanine-Kapital, das typischerweise wirtschaftliches Eigenkapital ist, aber auch als Debt Mezzanine in Form von nachrangigen, partiarischen Darlehen oder Gesellschafterdarlehen Fremdkapitalcharakter haben kann. Gleichviel, sie verfällt ohne Rücksicht auf solch sophistische Differenzierung pauschaler Ablehnung.
Es scheint, das BMJV wollte für den kapitalintensiven Legal-Tech-Sektor dem differenzierenden juristischen Argument die Tür einen Spaltbreit öffnen. Mit der Kraft des Ressentiments wollen die Kammern sie schnell wieder zuschlagen. Dass dies ohne jeden vergleichenden Blick auf Phänomenologie und Empirie fremdfinanzierter Kanzleien geschieht, beunruhigt: Den kurzen Weg von der Diskursverweigerung zur Ideologie sollten und dürfen Anwälte nicht gehen.
Das Eckpunktepapier des BMJV und das anwaltliche Gesellschaftsrecht markieren einen Scheidepunkt: Will die Anwaltschaft endlich das bedauerlicherweise nicht von ihren Berufsorganisationen, sondern vom Bundesverfassungsgericht und jetzt vom Bundesjustizministerium freigeräumte Tor der Freiheit durchschreiten? Oder will sie vor dem Tor erneut Barrikaden der "Standes"-Traditionen errichten? Hinter dem Tor übernehmen Predictive- Analytics -Unternehmen derweil den Rechtsberatungsmarkt, und weder warten sie auf die Anwaltschaft, noch wird diese sie aufhalten.
Der Autor Prof. Dr. Dirk Uwer, LL.M., Mag.rer.publ., Düsseldorf ist Rechtsanwalt und Partner von Hengeler Mueller, Mitglied des Vorstands der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf und des Berufsrechtsausschusses des DAV. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.
Nach den Eckpunkten zur BRAO-Reform: . In: Legal Tribune Online, 17.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38245 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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