Bei der Digitalisierung der Justiz hinkt Deutschland massiv hinterher, der Bundesjustizminister warnt auf einer Konferenz der Anwaltschaft vor einem Vertrauensverlust in den Rechtsstaat. Bei Anwälten und Richtern herrscht Unmut.
"In der Wüste oder auf dem Sprung?" Die Fragestellung, die der Deutsche Anwaltverein (DAV) in einer Presseerklärung zum Thema Digitalisierung auf dem Deutschen Anwaltstag (DAT) in Hamburg voranstellte, passte ganz gut zu den hochsommerlichen Temperaturen in der Hansestadt. Traten die rund 1.500 Anwältinnen und Anwälte aus dem klimatisierten Kongresszentrum hinaus ins Freie, konnte es einem schon so vorkommen, als befinde man sich nicht im hohen Norden, sondern in einem Wüstenstaat.
Beim Thema Digitalisierung in der Justiz trifft diese geografische Verortung definitiv zu. Deutschland ist in dieser Hinsicht ein Wüstenstaat, u.a. eine Studie der Bucerius Law School attestierte der deutschen Justiz einen Rückstand von zehn bis 15 Jahren im Vergleich zu internationalen Vorreiterländern, wie etwa den baltischen Staaten.
LG-Präsidentin: "Man fragt sich, wo man lebt"
Nach dem, was auf dem DAT nun zu hören war, ist zu befürchten, dass sich dieser Zustand in den nächsten Jahren nicht wesentlich verbessern wird. Aus Perspektive der Justiz berichtete die Präsidentin der Landgerichts Wiesbaden, Dr. Cornelia Menhofer, von desolaten Zuständen in ihrem Gerichtsbezirk. Da es in Hessen noch keine elektronische Akte gebe, seien sie jetzt die "Druckstraße der Nation": Immer umfangreichere Anwaltsschriftsätze mit immer mehr Anlagen druckten die Gerichte aus. An ihrem LG hat sich Menhofer bereits über einen Erlass des Landes hinweggesetzt, der den Gerichten vorschreibt, tatsächlich alles, was elektronisch reinkommt, auszudrucken, um es dann - irgendwann – in eine elektronische Akte zu geben. "Man fragt sich, wo man lebt", kommentierte Menhofer die Vorgabe ihres Bundeslandes.
Dass in einem Wüstenstaat manchmal auch Güter knapp werden, bekommt auch die LG-Präsidentin zu spüren: "Wir haben nicht nur mit dem Papierkram zu kämpfen, sondern auch mit der Sorge, bald kein Papier mehr zu bekommen ", so die Gerichtspräsidentin. Fünf Paletten Papier seien kürzlich nicht geliefert worden, klagte Menhofer. Gut möglich also, dass in manchen Gerichten künftig die Arbeit komplett stillsteht – wegen Papiermangels.
Eine Lösung ist noch nicht in Sicht
Ob die Politik derartige Zustände halbwegs zeitnah ändern wird, ist zweifelhaft. Bundesjustizminister Marco Buschmann warnt in seiner Rede auf dem Anwaltstag zwar, doch von konkreten Lösungen ist wenig zu hören: "Der Respekt vor dem Rechtsstaat leidet, wenn die Verfahren und Arbeitsweisen wirken wie aus der Zeit gefallen." Es drohe ein Vertrauensverlust in den Rechtsstaat, "wenn es uns nicht gelingt, das Recht und den Zugang zum Recht auf die Höhe der kommunikativen Wirklichkeit in diesem Land zu bringen".
Buschmann zufolge ist die Digitalisierung "ein Schwerpunkt unserer rechtspolitischen Agenda" und man habe in dieser Legislaturperiode "schon einiges vorangetrieben". Auf den Weg gebracht worden sei ein zivilgerichtliches Online-Verfahren zur Durchsetzung kleinerer Forderungen und im Gesellschaftsrecht sei die Ausweitung der Möglichkeiten zur Online-Beurkundung und Online-Beglaubigung auf den Weg gebracht. Und zur audiovisuellen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sei ihm gerade der Referentenentwurf vorgelegt worden.
Wird das der Justiz den nötigen Schwung verleihen? Den Präsidenten der hanseatischen Rechtsanwaltskammer (RAK) Hamburg und IT-Fachanwalt Dr. Christian Lemke bringen die Ankündigungen des Ministers zur Weißglut: "Wir brauchen jetzt keine beschleunigten Online-Verfahren, sondern erst einmal die digitale Akte", schimpfte Lemke während einer Fachveranstaltung, die das Programm des DAT abrunden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Buschmann den Anwaltstag längst verlassen. Am nächsten Morgen twitterte der Minister, so als ob ihm jemand noch im Nachhinein von dem Unmut der Anwälte und Richter über das digitale Wüstenklima im Land berichtet hätte. Man sei mit dem digitalen Bundesgesetzblatt noch einen weiteren Schritt gegangen: "Die digitale Verkündung von Gesetzen spart einen Papierstapel von 2,5 Kilometern und macht Gesetze transparenter und anwendungsfreundlicher." An der "Druckstraße der Nation", wie sie am LG Wiesbaden befahren wird, wird das trotzdem nicht für Entlastung sorgen.
Anwälte: Mit dem beA unseren Teil zur Digitalisierung erbracht
Die Anwaltschaft, so hat man den Eindruck, ist geneigt, sich bei dem Thema ein stückweit zurückzulehnen. Zwar pochte DAV-Präsidentin Edith Kindermann in Hamburg darauf, dass die Anwaltschaft bei dem von der Ampel angekündigten "Digitalpakt Justiz" eng mit einbezogen werden müsse. Ansonsten hört man aber immer wieder, dass die Anwaltschaft – anders als die Justiz - mit dem besonderen elektronischen Analtspostfach (beA) ihren Teil zur Digitalisierung bereits beitrage.
In einem "Praxis Review" zu "Sechs Monate aktive beA – Nutzungspflicht" klopfte sich die in der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) für das beA zuständige Julia von Seltmann quasi selbst auf die Schulter. Den 'Hauruck-Start' hätten die Systeme ausgehalten; es habe auch erstaunlich wenig Berichte über missglückte Kommunikation mit den Gerichten gegeben. "Es läuft", so von Seltmann. Für Herbst kündigte die BRAK-Vertreterin die Einführung einer Liste an, die es den Gerichten möglich machen soll, spezielle, eilbedürftige Verfahren – z.B. in Unterbringungssachen – zügiger zu erkennen.
Hinsichtlich der desolaten Digitalisierungszustände in der Justiz appellierten auf dem DAT vor allem Vertreter aus der Richterschaft, gegenseitiges "Bashing" zu unterlassen. "Wir alle müssen unsere Arbeitsabläufe umstellen", so die Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle, Stefanie Otte. Die frühere Justizstaatssekretärin des Landes Niedersachsen warb für Kommunikationsformate, wie etwa die Einführung eines digitalen Lunches, in der alle Akteure der Justiz sich regelmäßig über den Stand austauschen könnten. Otte beklagte, dass von der Politik immer wieder innovative Digitalisierungsprojekte ausgebremst würden.
Wann auch immer der Digitalisierungs-Klimawandel in der Justiz Fahrt aufnimmt: DAV-Präsidentin Kindermann betonte auf dem DAT mehrfach, was der Anwaltschaft wichtig ist. "Wir brauchen keine Insellösungen, sondern bundesweit eine einheitliche Technik , zum Beispiel für Videokonferenzen." Stand jetzt sind die Gerichte in Deutschland aber von einem einheitlichen Standard offenbar noch meilenweit entfernt. In Hessen, bestätigte die LG-Vorsitzende Menhofer, gebe es sogar von Gericht zu Gericht sehr unterschiedliche technische Voraussetzungen.
Deutscher Anwaltstag 2022: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48847 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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