Berufsbild des Anwalts: Groß­kanz­leien, Geld und Werte

von Markus Hartung

10.01.2018

Auch nach Jahrzehnten passen die Großkanzleien für so manchen Durchschnittsanwalt noch nicht ins Berufsbild. Aber sind sie bloß juristische Kaufleute ohne Grundwerte? Oder ist es Zeit, das Berufsbild zu überdenken, fragt Markus Hartung.

Großsozietäten bilden immer noch einen Fremdkörper innerhalb der Anwaltschaft – auch wenn sie nicht mehr so feindlich betrachtet werden wie noch vor gut zehn Jahren. Die Gründe für diese bleibende Fremdheit sind nicht völlig klar, aber ihr wirtschaftlicher Erfolg und der große Profitabilitätsabstand zwischen ihnen und dem Durchschnitt der deutschen Anwaltschaft werden argwöhnisch betrachtet. Von juristischen Kaufleuten ist dann die Rede.

Vermutlich muss man gleich zu Beginn die Frage des anwaltlichen Berufsbildes ansprechen, zusammen mit der Freiheit der Advokatur und der Eigenschaft des Rechtsanwalts als unabhängigem Organ der Rechtspflege nach § 1 Berufsordnung der Rechtsanwälte (BORA). Nach § 1 Abs. 2 BORA dienen die Freiheitsrechte des Rechtsanwalts der Teilhabe des Bürgers am Recht. Die anwaltliche Tätigkeit dient der Verwirklichung des Rechtsstaats, § 1 Abs. 2 S. 2 BORA. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Sozietätswechselentscheidung vom 3. Juli 2003 gesagt: "Als unabhängige Organe der Rechtspflege und als berufene Berater und Vertreter der Rechtsuchenden haben Anwälte die Aufgabe, sachgerechte Konfliktlösungen herbeizuführen, vor Gericht zugunsten ihrer Mandanten den Kampf um das Recht zu führen und dabei zugleich staatliche Stellen möglichst vor Fehlentscheidungen zu Lasten ihrer Mandanten zu bewahren (...). Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus".

Das wirft zwei Fragen auf: Kann man sich danach Anwälte in Großsozietäten überhaupt als Anwälte im Sinne des Gesetzes und dem Verständnis des BVerfG vorstellen? Und falls die Antwort ja lautet: Ist bei Großsozietäten gesichert, dass § 43a Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), in dem die Grundpflichten eines Anwalts - von der Sicherstellung der anwaltlichen Unabhängigkeit bis zur Fortbildungspflicht - befolgt wird?

Anwälte oder Unternehmer mit juristischer Expertise

Zur ersten Frage: Kann man Anwälte in Großsozietäten noch als Organe der Rechtspflege bezeichnen? Helfen sie dem Bürger beim Zugang zum Recht? Sind diese Kanzleien nicht viel eher gewerbliche und kommerzielle Unternehmen, deren Eigentümer und fachliche Mitarbeiter hohe juristische Expertise aufweisen? Sind diese Eigentümer, also die Rechtsanwälte als Partner, nicht eher hochspezialisierte Kaufleute? Aber diese Fragen führen nirgendwo hin. Denn, bei allem Respekt vor dem BVerfG, muss doch die Frage lauten, ob das Gericht noch die Realität vor Augen hatte, oder von welcher Realität es im Jahre 2003 ausgegangen war.

Der erste Satz des vorgenannten Zitats legt den forensischen Anwalt zugrunde, der seine Mandanten ganz überwiegend vor Gericht vertritt und auf jedem Fall konfliktbegleitend tätig wird. Aber: Was ist mit den wirtschaftsberatenden Anwälten, die ihre Unternehmensmandanten gesellschafts- oder aktienrechtlich beraten, um zu gewährleisten, dass eine Hauptversammlung möglichst friedlich und ohne Konflikt über die Bühne geht? Oder mit dem Anwalt, der eine von beiden Seiten gewollte Transaktion strukturiert und begleitet, ohne dass es streitig wird, wenn man von ein paar rituellen Verhandlungsrunden absieht? Oder mit dem Anwalt, der für einen Mandanten eine umfangreiche Due Diligence durchführt und seinem Mandanten dann vom Kauf abrät, weil die entdeckten Risiken unkalkulierbar hoch sind? Sollen das alles keine Anwälte sein, ist das keine anwaltliche Tätigkeit? Und was ist mit dem Anwalt, der Verkehrsunfälle zugunsten von Verbrauchern abwickelt, wovon geschätzte 75 Prozent unstreitig sind und auf ein reines Inkasso hinauslaufen – sind das auch keine Rechtsanwälte? Schon damals konnte man Zweifel haben, ob das BVerfG nicht von einem sehr beschränkten Berufsbild ausgeht und die Wirklichkeit anwaltlicher Tätigkeit aus dem Blick verloren hatte.

Großsozietäten denken unternehmerisch, strategisch und kommerziell

Dass Großsozietäten unternehmerischer als Einzelanwälte oder Kleinkanzleien sind, dass sie strategisch denken, auch kommerziell, braucht man nicht zu diskutieren, das ist so. Aber das widerspricht nicht dem Berufsbild des Anwalts. Allerdings muss man wohl konstatieren, dass die ganze Diskussion immer dann besonders schwierig wird, wenn es ums Geld geht: Die Anwaltschaft hat ein völlig verqueres Verhältnis dazu. Das ist etwa einer der Gründe, warum Erfolgshonorare lange Jahre verboten waren und heute noch nur unter engen Voraussetzungen erlaubt sind: Denn offenbar traut sich die Anwaltschaft selber nicht über den Weg, wenn sie mit Geld in Berührung kommt. Wer etwa in Diskussionen unter Anwälten die Auffassung vertritt, Erfolgshonorare beeinträchtigten die anwaltliche Unabhängigkeit erheblich, erntet wohlwollendes und zustimmendes Kopfnicken, auch wenn inzwischen nachgewiesen ist, dass diese Thesen in aller Regel falsch sind.

Vermutlich aus einem ähnlichen Grund betrachtet die Anwaltschaft den wirtschaftlichen Erfolg der Großsozietäten skeptisch und moralisierend, findet es aber offenbar normal, dass sich in der Anwaltschaft Existenzen tummeln, die fachlich und unternehmerisch so unfähig sind, dass sie alle möglichen Nebentätigkeiten annehmen müssen, um über die Runden zu kommen. Das können Tätigkeiten als Taxifahrer sein, aber es wird viele weitere Berufe geben, die Anwälte wahrnehmen, weil sie in ihrem Bereich als Anwalt völlig erfolglos sind. Wenn man dieses Thema und die damit verbundenen Gefahren für das Ansehen der Anwaltschaft anspricht, kann man schnell zur persona non grata werden – der Journalist und Jurist Joachim Wagner kann da was zu erzählen.

Abschließend: Für die Anwaltschaft insgesamt gilt das, was das BVerfG ihr in der Erfolgshonorarentscheidung (Urt. v. 12.12.2006, Az. 1 BvR 2576/04) ins Stammbuch geschrieben hat: Kommerzielles Denken ist mit dem Anwaltsberuf nicht schlechthin unvereinbar, und als freiberufliche Unternehmen tragen Anwälte auch eine wirtschaftliche Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. Wenn sie dieser Verantwortung nachkommen, kann man ihnen das nicht zum Vorwurf machen.

BRAK und die Core values der Anwaltschaft

Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hatte im Jahr 2005 anlässlich einer Diskussionsrunde mit Großsozietäten ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie die besonderen Eigenschaften des Anwaltsberufs aufgeführt hatte, welche in ihrer Summe die Anwaltschaft charakterisieren und die auch nur im Anwaltsberuf existieren. Es sind dies (i) Qualität, gewährleistet durch Ausbildung und Qualitätssicherung, (ii) Dienst am Gemeinwohl, damit verbunden Einschränkungen der wirtschaftlichen Gestaltungsfreiheit, (iii) Unabhängigkeit, verstanden als Freiheit von Weisungen Dritter, seien es staatliche Institutionen oder private Personen, und (iv) Interessenvertretung.

Diese Eigenschaften entsprechen im Wesentlichen den core values der Anwaltschaft gemäß § 43a BRAO, nämlich der Pflicht zur Unabhängigkeit (Abs. 1), der Verschwiegenheitspflicht (Abs. 2), dem Sachlichkeitsgebot (Abs. 3), dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen (Abs. 4), der Pflicht zum sorgsamen Umgang mit fremden Geldern (Abs. 5) und der Fortbildungspflicht (Abs. 6).

Unabhängigkeit, Blacklisting und Management

Handelt es sich um berufsrechtliche Hürden, die von Großsozietäten gerissen werden? Das war, vgl. oben, der zweite Teil des Berufsbildtests aus der Sozietätswechselentscheidung des BVerfG. Etwa bei der Unabhängigkeit nach § 43a Abs. 1 BRAO geht es um das Verbot Bindungen einzugehen, welche die berufliche Unabhängigkeit gefährden. Natürlich streben wirtschaftsberatende Kanzleien, gerade auch Großsozietäten, mit Unternehmen und Banken regelmäßig sog. institutionelle Mandantenbeziehungen an. Das hat zur Folge, dass über die gute Beziehung erhebliches Mandatsgeschäft generiert wird, auch wenn sie nicht die einzige beauftragte Kanzlei sind.

Darüber hinaus bewegen sich Kanzleien im Bank- und Kapitalmarktrecht in einem eher kleinen Markt, in dem sie mit vielen der Unternehmen und Banken Mandatsbeziehungen haben oder doch anstreben, so dass viele Großsozietäten z.B. keine Gerichtsverfahren gegen Banken führen, um ein sog. Blacklisting zu vermeiden. Diese Sorge ist nicht unberechtigt, der bekannteste Fall betrifft Linklaters: Im Jahr 2007/2008 führte das New Yorker Büro von Linklaters einen Prozess gegen die Investmentbank Bear Stearns. Linklaters Mandantin war Barclay’s Bank, einer der großen Mandanten der Sozietät. Während des Prozesses wurde Bear Stearns von JP Morgan erworben, die wiederum Linklaters größter Mandant war, mit einem jährlichen Honorarvolumen im hohen zweistelligen Millionenbereich.

Dem ultimativen Verlangen von JP Morgan, das Mandat niederzulegen, kam Linklaters nicht nach, was auch wegen des New Yorker Anwaltsrechts nicht möglich war. Daraufhin kündigte JP Morgan in einem dramatischen Schritt die Mandatsbeziehung zu Linklaters. Die Folgen waren kurzfristig unangenehm und schmerzlich, langfristig haben sie nicht geschadet: Linklaters ist stärker denn je, und die Mandatsbeziehung zu JP Morgan ist längst wiederhergestellt.

Ist schließlich eine bestimmte Form von Management in großen Kanzleien unvereinbar oder jedenfalls nur schwer vereinbar mit der anwaltlichen Unabhängigkeit? Sind die stärkere Kommerzialisierung, das deutlich stärkere Unternehmertum, die teilweise sehr unternehmensgleichen Hierarchiestrukturen, die Delegation von Macht an Sozietätsgremien oder einzelne Personen verbunden mit einem Verzicht auf das partnerschaftliche Vetorecht, schließlich das Risiko, hinausgekündigt zu werden, wenn man nicht mehr profitabel genug ist – sind dies Erscheinungsformen, die mit einem traditionellen Berufsbild nichts mehr zu tun haben? Die Antwort lautet ja, dies hat mit einem traditionellen Berufsbild nichts mehr zu tun. Aber hier stellt sich, wie oben, die Frage nach dem anwaltlichen Berufsbild. Davon sollte man sich ohnehin verabschieden, denn es prägt die Anwaltschaft schon längst nicht mehr.

Der Autor Rechtsanwalt Markus Hartung ist Direktor des Center on the Legal Profession an der Bucerius Law School, Hamburg/Berlin. Der Artikel ist ein Auszug aus einem Beitrag in der Festschrift für Michael Oppenhoff anlässlich dessen 80. Geburtstag im November 2017 (Goltz/Maier-Reimer/Wurth, Liber amicorum Michael Oppenhoff, Verlag Otto Schmidt, ISBN  978-3-504-06047-3 - Angaben ergänzt am 14.01.2018, 13:41 h). 

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Zitiervorschlag

Markus Hartung, Berufsbild des Anwalts: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26403 (abgerufen am: 09.12.2024 )

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