Vorstellungsgespräche im postfaktischen Zeitalter

Mit der Lizenz zum Lügen

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Der Mensch lügt angeblich durchschnittlich 200 Mal am Tag. Diese Behauptung hält sich hartnäckig – und ist vielleicht selbst eine Lüge. Welche Folgen "alternative Fakten" im Vorstellungsgespräch haben können, erklärt Jan Ricken.

Sich selbst möglichst positiv darzustellen, ist Teil eines jeden Bewerbungsgesprächs – und zwar für beide Seiten. Wenn der Traumjob für den Bewerber zum Greifen nahe liegt und lediglich noch die Hürde des Vorstellungsgesprächs zu überwinden ist, werden Schwächen verborgen und Stärken herausgestellt. Das alles ist auch in Ordnung – Ausschmückungen und Übertreibungen gehören dazu, wenn man die Konkurrenz ausstechen und sich selbst in rechte Licht rücken möchte.  

Den Bezug zur Wahrheit sollte der Bewerber dabei allerdings nicht verlieren. Sonst riskiert er die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses – auch noch Jahre nach dem Vorstellungsgespräch und trotz tadelloser Tätigkeit. Wenn eine Lüge des Bewerbers im Vorstellungsgespräch für die spätere Anstellung ursächlich gewesen ist, kann der Arbeitgeber sogar berechtigt sein, den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten. Dafür hat der Arbeitgeber eine Bedenkzeit von einem Jahr ab Kenntnis von der Täuschung.

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Lizenz zum Lügen

Bei wirksamer Anfechtung des Arbeitsvertrages ist das Arbeitsverhältnis sofort beendet. Es besteht kein Kündigungsschutz und nicht einmal Kündigungsverbote – wie etwa bei Schwangerschaft – greifen. Den bis zur Anfechtung gezahlten Arbeitslohn kann der Mitarbeiter zwar behalten. Allerdings kann der Arbeitgeber berechtigt sein, für entstandene Schäden Ersatz zu verlangen, z.B. für vergebliche Headhunter-Kosten.  

Dies heißt jedoch nicht, dass der Bewerber jede Frage des Arbeitgebers wahrheitsgemäß beantworten muss. Denn der Neugier des Arbeitgebers sind Grenzen gesetzt – insbesondere durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Bewerbers und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Wenn sich Arbeitgeber mit ihren Fragen außerhalb dieser Grenzen bewegen, erteilen der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundesarbeitsgericht (BAG) dem Bewerber sogar eine Lizenz zum Lügen. Denn sonst müsste der Bewerber sich durch vielsagendes Schweigen entblößen. 

Was geht?

Der Arbeitgeber darf nur Fragen stellen, an deren wahrheitsgemäßer Beantwortung er ein berechtigtes und schützenswertes Interesse hat. Dabei muss er aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Bewerbers und dessen Interesse, seine persönlichen Lebensumstände nicht offenzulegen, beachten.

Diese gegenläufigen Interessen müssen in Ausgleich gebracht werden. Nur wenn das Interesse des Arbeitgebers an der Beantwortung der Frage überwiegt, ist die Frage zulässig und muss wahrheitsgemäß beantwortet werden. Dabei kommt es entscheidend auf das Anforderungsprofil der Stelle an, die besetzt werden soll. Denn zulässig sind nur solche Fragen, deren Beantwortung den Rückschluss auf Eigenschaften und Fähigkeiten des Bewerbers zulässt, die für die Besetzung der Stelle erforderlich sind.

Somit kommt es letztlich immer auf den Einzelfall an. Das ist nicht unproblematisch, da Bewerber im Vorstellungsgespräch nur selten die Zeit finden werden, eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Eine Orientierungshilfe kann die Rechtsprechung des EuGH und BAG bieten, der sich mittlerweile recht verlässliche Leitlinien zu häufig vorkommenden Fragen entnehmen lassen.

Keine Fragen zu Familie, Lebensplanung, Gesundheit 

Fragen nach dem persönlichen und familiären Lebensbereich des Bewerbers erfreuen sich noch immer großer Beliebtheit bei Arbeitgebern. Fragen nach einer Schwangerschaft sind jedoch unzulässig. Das haben der EuGH (insbes. Urt. v. 04.10.2001, Az. C-109/00) und ihm folgend das BAG (Urt. v. 06.02.2003, Az. 2 AZR 621/01) seit langem geklärt. Das gleiche gilt für – vermeintlich originelle – Umgehungsfragen, wie z.B. nach der Familienplanung. Der persönliche und familiäre Lebensbereich des Bewerbers ist für den Arbeitgeber weitestgehend tabu. Eine bevorstehende Heirat, die Betreuung der Kinder und die sexuelle Orientierung des Bewerbers bleiben dem Arbeitgeber somit verborgen.

Die Zulässigkeit von Fragen zur Gesundheit des Bewerbers hängt davon ab, ob diese für das einzugehende Arbeitsverhältnis relevant sein können. Unzulässig sind jedenfalls Fragen nach genetischen Veranlagungen sowie nach früheren ausgeheilten Erkrankungen. Auch Fragen nach einer Schwerbehinderung sind grundsätzlich unzulässig. 

Anders verhält es sich mit Fragen nach vorliegenden Krankheiten. Der Arbeitgeber darf sich Gewissheit darüber verschaffen, ob Krankheiten vorliegen, die der Ausübung der in Aussicht genommenen Tätigkeit entgegenstehen. Darüber hinaus darf er nach Krankheiten fragen, welche zur Ansteckung von Kunden bzw. Arbeitskollegen führen könnten: Geht es um Heilberufe, kann wegen des möglichen Blutkontakts beispielsweise die Frage nach einer HIV-Infektion bzw. AIDS-Erkrankung zulässig sein.

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2/2: Vorstrafen und sonstige unzulässige Fragen

Fragen nach Vorstrafen sind nur ausnahmsweise und in engen Grenzen zulässig, etwa, wenn die erfragten Vorstrafen für die Vertragsdurchführung relevant sein können. So kann z.B. ein Bewerber für die Position des Bankangestellten nach vermögensrechtlichen Vorstrafen gefragt werden.

Bei Fragen, deren wahrheitsgemäße Beantwortung zu einer Benachteiligung wegen eines diskriminierenden Merkmals nach § 1 AGG führen können, besteht regelmäßig kein berechtigtes Interesse. Das sind insbesondere Fragen nach Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Alter und sexueller Identität. Auch Fragen nach der Partei- und Gewerkschaftszugehörigkeit sind unzulässig.

Werden unzulässige Fragen gestellt, hat er Bewerber das Recht, diese mit einer Lüge zu beantworten. Viele Arbeitgeber gehen davon aus, dass ihre potenziellen Mitarbeiter daher ausreichend geschützt sind und stellen ihre unzulässigen Fragen. 

Doch das wird die besten Bewerber in aller Regel abschrecken. Zudem kann sich der Arbeitgeber nicht sicher sein, ob der Bewerber die unzulässige Frage wahrheitsgemäß beantwortet hat. Abgelehnte Bewerber könnten sogar mit einer Entschädigungsklage zurückschlagen, wenn Fragen zu diskriminierenden Merkmalen nach § 1 AGG gestellt werden. Denn dann könnte der Bewerber behaupten, er sei nicht eingestellt worden, weil der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung auf ein Diskriminierungsmerkmal geachtet habe. Unzulässige Fragen, die den Bewerber in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzen, können zudem Schadensersatzansprüche auslösen. 

Ich muss ja nicht fragen…

Viele Arbeitgeber erliegen der Versuchung, sich nicht erfragbare Informationen auf andere Weise zu verschaffen. Insbesondere in den Untiefen des Internets lassen sich oft interessante Zusatzinformationen über Bewerber finden. Und nicht selten lassen aufschlussreiche Fotos und ausdrucksreiche Posts in sozialen Netzwerken mehr Rückschlüsse über den Bewerber zu, als dessen Aussagen im Vorstellungsgespräch. Bisweilen finden sich sogar Antworten auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden.

Aber auch dabei ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Bewerber zu beachten. Die Erhebung von Bewerberdaten über das Internet verstößt zudem gegen datenschutzrechtliche Grundsätze. Und solche Regelverstöße können – wenn sie entdeckt werden – für Arbeitgeber teuer werden.

Arbeitgeber und Bewerber sind daher im eigenen Interesse gut beraten, die Spielregeln bei Vorstellungsgesprächen einzuhalten. Der Arbeitgeber sollte nur zulässige Fragen stellen. Dabei kann ein Leitfaden zu Fragen in Bewerbungsgesprächen hilfreich sein. Und ein Bewerber sollte die gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantworten - auch im postfaktischen Zeitalter.

Der Autor Jan Ricken ist Counsel und Fachanwalt für Arbeitsrecht im Düsseldorfer Büro der Kanzlei Kliemt & Vollstädt, einer der führenden auf Arbeitsrecht spezialisierten Kanzleien in Deutschland. Er berät Unternehmen bundesweit in arbeitsrechtlichen Fragen, insbesondere im Betriebsverfassungsrecht und Fragen des Kündigungsschutzes.

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Thema:

Individual-Arbeitsrecht

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