Die Justiz an der Belastungsgrenze

Wenn weiter gespart wird, droht ein Deichbruch

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Deutschlands Gerichte sind überlastet, Verfahren ziehen sich immer weiter in die Länge. Nun meldet das BVerfG eine Rekordzahl an Neueingängen und spricht von einem "zunehmend kritischen Zustand". Manche Juristen gehen derweil in die Offensive: Am Donnerstag und Freitag werden vor dem VG Minden und dem OLG Stuttgart Klagen von Richtern verhandelt, die sich gegen die Überlastung zur Wehr setzen.

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Beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sind so viele Verfahren anhängig wie noch nie. Im vergangenen Jahr lagen dem höchsten deutschen Gericht 6.686 Verfahren vor - rund 700 mehr als im Vorjahr, wie Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am Mittwochabend in Karlsruhe berichtete. "Die Hoffnung, es könne eine Entspannung der seit Jahren stark belasteten Arbeitssituation des Gerichts eintreten, hat sich folglich ins Gegenteil verkehrt", heißt es in der Erklärung Voßkuhles zur Jahresstatistik des Gerichts. Derzeit gebe es "keinerlei Anzeichen dafür, dass sich dieser für das Gericht zunehmend kritische Zustand zum Besseren wenden könne". Voßkuhle verwies auf anhängige Großverfahren unter anderem zum Atomausstieg und das Parteiverbotsverfahren gegen die NPD. Bereits seit längerem wirbt der Gerichtspräsident für den Vorschlag, eine "Mutwillensgebühr" für offensichtlich unzulässige oder unbegründete Verfassungsbeschwerden einzuführen. Dieser habe aber bislang wenig Unterstützung in der Politik gefunden. Voßkuhle kündigte an, das Gericht werde in der neuen Legislaturperiode weitere Gespräche mit den politisch Zuständigen führen, um eine dauerhafte und spürbare Entlastung zu erreichen. Eine solche wäre indes sicher nicht nur am BVerfG willkommen. In den vergangenen Monaten hatten unter anderem das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, der Bundesfinanzhof und das Bundesverwaltungsgericht über Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer zu entscheiden.

Geschäftsverteilungspläne weisen jedem Richter zu hohe Fallzahl zu

Am Donnerstag sucht derweil ein 66-jähriger Amtsrichter a.D. beim Verwaltungsgericht (VG) Minden gerichtliche Abhilfe von der angeblich erdrückenden Verfahrenslast. Besonders optimistisch ist er allerdings nicht: "Ich weiß, dass ich wieder verlieren werde", sagt Helmut Knöner, der sich zum Anwalt all seiner Kollegen in der Justiz macht, die unter Aktenbergen ächzen. Knöner will nicht weniger als das Land in die Knie zwingen. Es soll zugeben, dass es auf dem Rücken der Richter und Staatsanwälte Geld spart. Es werde ein Bedarf errechnet, aber nicht eingehalten, kritisiert er. Stattdessen würden die Fälle mit den Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte auf zu wenige Richter verteilt, ständige Überlastung sei damit vorprogrammiert. Darum klagt er gegen diese Verteilung. Und Knöner fordert, dass die Arbeitszeitverordnung der Beamten auch für Richter gelten müsse. Demnach würden älteren Richtern geringere Arbeitszeiten zustehen, was die Personallage an den Gerichten weiter verschärfen würde. Der Deutsche Richterbund in NRW sieht das grundsätzliche Problem genauso. "Ganz klar, da hat er recht", sagt Verbandsgeschäftsführer Christian Friehoff, selbst Direktor am Amtsgericht Rheda-Wiedenbrück. Nach Ansicht des Richterbunds fehlen landesweit 700 Richter und Staatsanwälte, davon allein 400 an den Land- und Amtsgerichten. "Das entspricht der Summe aller Richter der Landgerichte und Amtsgerichte in den Gerichtsbezirken Bielefeld, Arnsberg und Bochum." Das Justizministerium widerspricht der Klage. Das Land habe mit den Geschäftsverteilungsplänen nichts zu tun. Die Arbeitszeitverordnung sei auf Richter nicht anwendbar. Und ohnehin steige die Zahl der Richter, während zugleich die Zahl der Fälle abnehme. Das sei zwar so, sagt Friehoff. "Das geschieht aber sehr langsam. Wenn man die Entwicklung hochrechnet, dauert es noch bis zum Jahr 2027, bis die Zahl der Richter der Zahl der Fälle entspricht."

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2/2: Richterliche Unabhängigkeit durch feste Erledigungsquote in Gefahr?

Und auch in Baden-Württemberg sorgt das derzeitige Arbeitsaufkommen für Ärger. Ein Karlsruher Richter war von seiner Vorgesetzten ermahnt worden, weil er zahlreiche Verfahren "nicht oder jedenfalls nur völlig unzureichend bearbeitet" habe. Also ging er selbst vor Gericht, reichte gleich drei Klageanträge ein - und scheiterte vor dem Landgericht (LG) Karlsruhe. Am Freitag muss nun der Dienstgerichtshof für Richter beim Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart über den Fall verhandeln. Dem Kläger geht es nicht um Faulheit oder Schnelligkeit, sondern um seine Unabhängigkeit als Richter. Seine Anwältin Christina Gröbmayr ist sicher: "Dieses Verfahren hat für Deutschland insgesamt ganz wichtige Auswirkungen, alle Richter werden da genau hinschauen." Der Fall sei symptomatisch für die Justiz. "Den teils offen, teils subtil ausgeübten Druck, eine bestimmte Anzahl von Verfahren zu erledigen, gibt es überall. Das fängt schon bei Richtern auf Probe an und spielt eine ganz wichtige Rolle bei der Verbeamtung." In der 2011 von der Karlsruher OLG-Präsidentin Christine Hügel ausgesprochenen Ermahnung wird dem Zivilrichter vorgehalten, er habe nur etwa 68 Prozent der Durchschnittsleistung anderer Richter erreicht - 2010 waren es für ihn insgesamt 82 erledigte Fälle. Deswegen sei die Zahl der offenen Verfahren in seinem Bereich um 67 Prozent gestiegen. "Es mag diesen faulen Richter noch geben, aber das ist die ganz kleine Ausnahme", sagt die Freiburger Anwältin Gröbmayr. Ihr Mandant habe einfach gründlich gearbeitet, gehe vielen Fragen analytisch nach, und zudem gehe es gerade im Zivilrecht um zunehmend komplexere Sachverhalte. Die richterliche Unabhängigkeit erfordere es, sich eingehend mit jedem Fall zu beschäftigen. Eine vorgegebene Erledigungsquote dürfe da keine Rolle spielen.

Wenn weiter gespart wird, droht ein Deichbruch

Richter stünden immer vor der Aufgabe, Verfahren zügig zu erledigen, erklärt der Vorsitzende des Vereins der Richter und Staatsanwälte in Baden-Württemberg, Matthias Grewe. "Es gibt da ein Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit, aber es gibt auch eine Grenze, jenseits derer eine Ermahnung gerechtfertigt ist." Für den Ravensburger Richter ist das Verfahren am OLG Stuttgart ein Einzelfall. Der dem Deutschen Richterbund angeschlossene Verein kritisiert aber die geplanten Einsparungen in der Justiz Baden-Württembergs. Für die als linksliberal geltende Neue Richtervereinigung wirft der Stuttgarter Fall ein Schlaglicht auf die Lage der Justiz. Die Arbeitssituation, der Druck und die Zahl der anhängigen Fälle hätten sich dramatisch verändert, sagt der Sprecher des Landesverbands, Johann Bader. "Wenn der Finanzminister und der Justizminister weiter an der Sparschraube drehen, dann haben wir nicht nur ein Verfahren, sondern einen Deichbruch." Den Zeitpunkt dafür könne niemand angeben, "aber diese Entwicklung ist nicht gut", warnt der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Stuttgart. Das Problem könne nur mit einer besseren Ausstattung der Justiz gelöst werden, nicht aber über Selbstausbeutung der Richter oder Ermahnungen von oben. Bei aller Brisanz und Beachtung muss der Stuttgarter Dienstgerichtshof jetzt in den drei Einzelverfahren prüfen, ob die Verfügungen der Karlsruher Gerichtspräsidentin rechtmäßig waren oder nicht. Disziplinarrechtliche Schritte gab es nicht. Es handele sich deshalb nur um eine einfache verwaltungsrechtliche Prüfung, erklärt der Stuttgarter OLG-Sprecher Stefan Schüler. Aber "das Verfahren ist einzigartig". Anwältin Gröbmayr will nicht locker lassen. In der Justiz dürfe die Effizienz nicht so ermittelt werden wie in Unternehmen, sonst werde das Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigt. "Da gehen wir bis zum Bundesgerichtshof und zum Bundesverfassungsgericht." Womit sich dann die dortige Fallzahl noch weiter in die Höhe schrauben dürfte. dpa/cvl/LTO-Redaktion

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