Prokrastination

Auf­schie­be­ritis – und was man dagegen tun kann

Nina Anika KlotzLesedauer: 5 Minuten
Für das unschöne Laster, Arbeiten vor sich herzuschieben, gibt es ein schönes, englisches Wort: Procrastination. Es gibt Wissenschaftler, die sich mit diesem psychologischen Phänomen auseinandersetzen und ein kleines bisschen Hilfe gibt es auch.

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Bevor ich den ersten Satz dieses Textes geschrieben habe, habe ich zwanzig Minuten nach "Stiefel, flach, grau" gegoogelt – ohne nennenswerten Erfolg. Dann habe ich zwei Artikel auf der Startseite von Spiegel Online angelesen ("Ex-Präsident Chirac muss vor Gericht" und "Die neuen Tricks der Disney-Erben") und ein Video über die Versteigerung von "Playboy"- Fotos geguckt (Keine Ahnung, wieso!). Dann war ich ein paar Minuten auf Facebook, habe meinen Mann angerufen und einen Kaffee gekocht. Dann habe ich das Radio eingeschaltet, dann habe ich es wieder ausgeschaltet und dann habe ich mich fürchterlich geärgert, dass ich immer noch nicht den ersten Satz zu diesem Artikel hier geschrieben habe. Mittlerweile war fast eine Stunde vergangen. Was ist nur los mit mir? Eigentlich nichts Besonderes: Ich schiebe Dinge auf. Wichtige Dinge! Unbequeme Dinge. Arbeit halt. So, wie einer Umfrage zufolge, die Hälfte alle Menschen in Deutschland es tut. "Wenn wir uns in einem homöostatischen Zustand befinden, also in einem Gleichgewicht, erfordert es einen gewissen Energieaufwand, sich dort hinaus zu bewegen", erklärt der Diplompsychologe und Psycholanalytiker Hans-Werner Rückert von der Freien Universität Berlin, Autor des Buches "Schluss mit dem ewigen Aufschieben". Und diesen Energieaufwand scheuen Menschen eben manchmal. Oder: oft. Rückert befasst sich seit fast zwanzig Jahren mit dem Phänomen, das erstmals in den USA zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurde und deshalb auch hierzulande oft mit dem englischen Begriff "procrastination" bezeichnet wird. Prokrastination, zu Deutsch: Aufschieben, vulgo "Aufschieberitis". Im Unterschied zu bloßer Faulheit, die Menschen davon abhält, bestimmte Dinge zu tun, ist das Aufschieben an ein starkes Bewusstsein dessen gebunden, dass diese Aufgabe EIGENTLICH unbedingt erledigt werden MUSS. Wer aufschiebt, weiß ganz genau, dass er die Aufgabe eigentlich anpacken SOLLTE und oft spricht er auch viel und gern von der aufgeschobenen Aufgabe.

Dreckige Fenster oder Steuererklärung? Können warten!

Da es sich meist um Aufgaben handelt, deren Aufschieben keine unmittelbaren und allzu gravierenden Konsequenzen hat (die Fenster können auch nächste Woche noch geputzt werden und für die Steuererklärung kann man ja eine Fristverlängerung beantragen), ist Prokrastination oft nicht weiters schlimm. Einzig unser schlechtes Gewissen straft uns und nervt. Bei einigen Menschen kann das Aufschieben aber chronische Züge annehmen und damit teils schwerwiegende Folgen für das berufliche und private Leben haben. Hans-Werner Rückert findet unter den Menschen, die bei ihm Rat suchen, nicht selten Juristen. Wer seine Schriftsätze nicht rechtzeitig einreicht, weil er sie zu lange vor sich her schiebt, und Prozesse damit verzögert, kann schnell Mandanten verlieren! Auch für Partnerschaften kann Prokrastination Gift sein: "Wer seinem Partner ewig etwas in Aussicht stellt, das nie kommt und immer weiter vertagt wird, sorgt für große Enttäuschungen und Wut", so Rückert. Extreme Formen des Aufschiebens können mit ernstzunehmenden, psychischen Erkrankungen einhergehen, wie etwa Depressionen. Depressiven Menschen fehlt oft die Energie, Aufgaben anzupacken. Zugleich kann hartnäckiges Aufschieben eine Depression auslösen, erklärt Rückert: "Wenn man sich selbst immer Dinge verspricht, die man nicht halten kann, geht die Selbstachtung flöten. Und das kann die Seele belasten."

Angst vor dem Erfolg als Ursache – auch das gibt es

Der Psychologe unterscheidet zwischen bewussten und unbewussten Gründen für das Aufschieben bestimmter Aufgaben. Die häufigste Ursache von Prokrastination ist die Angst zu Scheitern. Besonders unter Studierenden ist das Phänomen weit verbreitet und oft mit Prüfungsängsten verbunden. Angst behindert unsere Lernfähigkeit und blockiert die Arbeitsfähigkeit. Wer Angst hat, seine Abschlussarbeit könnte schlecht bewertet werden, tut sich oft schwer, diese fertig zu schreiben. Auf der anderen Seite ist auch die Angst vor Erfolg ein Auslöser für Prokrastination: "In Managerkreisen kann man das beobachten", so Rückert. "Erfolg mit einem bestimmten Projekt würde für den Manager eine Beförderung bedeuten, die mit mehr Verantwortung oder vielleicht einer Versetzung verbunden ist, die er eigentlich gar nicht will. Also versucht er – bewusst oder unbewusst – es gar nicht soweit kommen zu lassen, den Erfolg nicht eintreten zu lassen." Das Projekt wird verzögert. Hinausgeschoben. Trotz kann ein weiterer Grund für das Aufschieben sein: Diese Arbeit ist blöd und überflüssig, die mache ich nicht. Oder Unwissenheit: "Oftmals packen Menschen Aufgaben gar nicht erst an, weil sie nicht wissen, wie sie gehen", so Rückert. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von Aufschiebern: Vermeidungsaufschieber, also Menschen, die unangenehme Gefühle, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Aufgabe stehen, meiden (meist indem sie etwas anderes tun), und Erregungsaufschieber. "Das sind Lifestyle-Aufschieber", erklärt Hans-Werner Rückert, "die den Kick mögen, der durch das Aufschieben entsteht." Menschen, die voll Stolz von durchgearbeiteten, letzten Nächten vor der Abgabe der Diplomarbeit erzählen, gehören zu dieser Gruppe.

Prokrastination kann ein Lifestyle sein

"An einen Lifestyle-Aufschieber als Kollegen oder Partner kann man sich mit etwas gutem Willen gewöhnen", findet Rückert. "Man regt sich zwar ab und zu auf, weil er immer alles auf den letzten Drücker erledigt, aber man weiß eben auch, dass das Teil seiner Persönlichkeit ist." Mit einem Vermeidungsaufschieber, der bestimmte Aufgaben einfach nicht erledigt, kann man gerade im Berufsalltag nicht so leicht Nachsicht haben. Was kann man gegen das ewige Aufschieben tun? Bei minderschweren Fällen helfen arbeitalltagsorganisatorische Klassiker: To-Do-Listen schreiben, sich feste Zeitfenster für bestimmte Aufgaben vornehmen, Eigenbelohnung mit kleinen Pausen nach erfolgreichem Abarbeiten bestimmter Tasks. Ein ordentlicher Schreibtisch und ein ruhiges Arbeitsumfeld gehören auch dazu. Facebook und Skype ausschalten und das Mailprogramm für eine gewisse Zeit schließen. Bei chronischen Aufschiebern allerdings helfen diese kleinen Kniffe nichts: "Will man das ernsthafte Aufschieben wirklich beenden, muss man sein Leben umstellen", so der Psychologe. "Und das klappt nur, wenn man sich genug davon verspricht, wenn man wirklich davon überzeugt ist, dass es einem ohne das Aufschieben besser ginge. Nur dann ist man motiviert." Als nicht-pathologischer Fall ist es mir nach einigen weiteren Minuten auf Facebook, zwei Youtube-Videos und ein paar SMS dann doch gelungen, den ersten Satz dieses Artikels zu schreiben. Nach ein paar privaten E-Mails und dem Online-Kauf eines Paars Winterstiefel ist er dann sogar fertig geworden. Mehr auf LTO.de: Facebook & Co: Hilfe, der Chef will mein Freund sein! Zeitmanagement im Arbeitsalltag: Wer hat an der Uhr gedreht?

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Thema:

Psychologie

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