Juristen zu Stuttgart 21

"Juris­tisch rele­vant, selbst wenn es poli­tisch kein Thema mehr ist"

Anna K. BernzenLesedauer: 4 Minuten
Sie protestieren nicht mit gemalten Plakaten vor dem Bahnhofseingang, ihr Protest gegen S21 wird aus den Anwaltskanzleien und Amtsstuben der Region geführt: Im Arbeitskreis "Juristen zu Stuttgart 21"  befassen diese sich mit den rechtlichen Dimensionen des Großvorhabens. Was daran rechtlich auszusetzen ist und wie sie dagegen vorgehen, erzählten sie Anna K. Bernzen.

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Mütter, die ihre Kinderwagen zwischen den Demonstranten durch die Stadt schieben, Rentner, die mit dem Sonntagshut auf dem Kopf hinterher marschieren, Gruppen von Jugendlichen, die mit den Schultaschen unter dem Arm dazu stoßen: Die Protestzüge gegen Stuttgart 21, das Großbauprojekt der Deutschen Bahn in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, vereinen Gegner aller Altersgruppen, mit diversen politischen und beruflichen Hintergründen. Ingenieure protestierten Seite an Seite mit Theologen, zu den Umweltschützern gesellten sich diejenigen, denen es an demokratischer Legitimation für das Projekt mangelte. Seit etwa einem Jahr sind auch die Rechtswissenschaftler zu einem festen Bestandteil der Gegnerschaft geworden. "Juristen zu Stuttgart 21" nennt sich der Arbeitskreis, in dem von Rechtsanwälten und Richtern über Verwaltungs- bis hin zu Unternehmensjuristen alle rechtswissenschaftlichen Berufsfelder vertreten sind. Dass auf den monatlichen Treffen seltener Plakate gemalt werden und über Schlachtrufe für die nächste Demonstration nachgedacht wird, liegt nahe. Ziel der Juristen, die dem Projekt kritisch gegenüberstehen, ist es, "einen Beitrag zur Transparenz zu leisten", so Bernhard Ludwig vom Arbeitskreis.

Durch den Polizeieinsatz zusammengeschweißt

Auch wenn die Gruppe sich schon früh informell zusammenfand: Auf ihre jetzige Stärke von rund 35 Juristinnen und Juristen kam sie, nachdem am 30. September 2010 am Stuttgarter Schlossgarten die Polizei gegen Demonstranten vorging, die dort gegen das geplante Baumfällen protestierten. Eine Untergruppe zu dem Thema befasste sich mit den verwaltungs- und strafrechtlichen Aspekten des Einsatzes und untersuchte mögliche Eingriffe in die Demonstrationsfreiheit. Mit deren Ergebnissen traten die "Juristen zu Stuttgart 21" erstmals an die Öffentlichkeit. "Ein solch schwerer Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Versammlungsfreiheit lässt sich mit Provokationen durch Einzeltäter juristisch nicht rechtfertigen", heißt es in der Pressemitteilung, die fast einen Monat nach dem 30. September erschien. Ab diesem Zeitpunkt spielen die Juristen eine aktive Rolle im Lager der Stuttgart 21-Gegner. Sie planen ein Bürgerbegehren, das sie zusammen mit dem "Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21" initiieren. Als das vom Gemeinderat im Juni 2011 zurückgewiesen wird und auf den Widerspruch nicht fristgerecht geantwortet wird, erheben die Vertrauensleute des Begehrens Untätigkeitsklage, unter ihnen Bernhard Ludwig. "Wir arbeiten anlassbezogen. Das heißt, wir greifen die Themen auf, die im Protest derzeit relevant sind und befassen uns mit ihren juristischen Dimensionen", erklärt Ludwig das Vorgehen.

"Juristisch relevant, selbst wenn es politisch kein Thema mehr ist"

Zurzeit lassen sich diese Themen auf drei Gebiete eingrenzen, die das Zivil-, Straf und das öffentliche Recht berühren: Die Mischfinanzierung durch Bahn und Bund einerseits und Stadt, Land und Region andererseits halten die "Juristen zu Stuttgart 21" für verfassungsrechtlich bedenklich. Artikel 104a des Grundgesetzes, in dem die Aufgaben- und Lastenteilung zwischen Bund und Ländern geregelt ist, verbiete eine solche Finanzierung, so Bernhard Ludwig: "Das ist juristisch relevant, weil es in laufenden und künftigen Gerichtsverfahren gegen das Projekt noch thematisiert werden könnte, selbst wenn es politisch gerade kein Thema mehr ist." Kritik üben die Juristen auch am Finanzierungsvertrag zwischen Bahn und Land: Sie mutmaßen, dass die Bahn bereits bei Abschluss des Vertrages wusste, dass ihre Kostenkalkulation zu niedrig angesetzt war. "Das würde die Bindungswirkung des Vertrages in Frage stellen", sagt Ludwig – und könnte dem Land so eventuell die Möglichkeit geben, sich vom Vertrag zu lösen oder mit dem Verweis auf eine Kostentäuschung die Beteiligung an Mehrkosten abzulehnen. Dass im Vertrag nicht geregelt ist, wer die Mehrkosten trägt, findet er einen "fundamentalen juristischen Fehler". Der, so kündigte es Ende November Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann an, zu "massiven Differenzen bei der Kostenfrage" führte. Ein weiteres rechtliches Hindernis sind für die kritischen Juristen die ausstehenden Planfeststellungsbeschlüsse für Teile des geplanten Baugebiets. Nach deutschem Verwaltungsrecht für Bauvorhaben dieser Art muss die Bahn sieben Beschlüsse einholen, zwei stehen nach Recherchen des Arbeitskreises noch aus.* In ihren Augen juristisch fragwürdig.

Die Volksabstimmung als "Legitimationsteppich"

Neben den Strafanzeigen anlässlich des Polizeieinsatzes am Schlossgarten und der Untätigkeitsklage zum Bürgerbegehren planen die "Juristen zu Stuttgart 21" derzeit keine rechtlichen Schritte. "Wir wollen kritisch hinterfragen und bei Bedarf richtig stellen", so fasst Bernhard Ludwig die derzeitigen Bemühungen zusammen. Seit Ministerpräsident Kretschmann verkündete, die Landesregierung werde "jetzt umschalten von ablehnend-kritisch auf konstruktiv-kritisch", sei es umso wichtiger, das Projekt differenziert zu hinterfragen, da es im Landtag an einer Opposition fehle. So kommt die Kritik an der aus Sicht der Projektgegner gescheiterten Volksabstimmung im November wenig überraschend: "Das Abstimmungsergebnis birgt die Gefahr, wie ein Legitimationsteppich über das ganze Projekt gelegt zu werden, unter den alle Probleme gekehrt werden, obwohl es bei der Abstimmung nur darum ging, ob die Landesregierung aktuell ihr Kündigungsrecht ausüben soll oder nicht", sagt Bernhard Ludwig. Nach der Abstimmung sehen die "Juristen zu Stuttgart 21" ihre Aufgabe also noch lange nicht als erledigt: "Wir sehen noch ein ganzes Bündel an juristischen Problemen auf das Projekt zukommen." (*Anm. d. Red.: In der ursprünglichen Version dieses Textes hatten wir geschrieben, dass die Bahn neun Planfeststellungsbeschlüsse einholen müsse. Tatsächlich sind es nur sieben. Diese Angabe haben wir am 23.12. korrigiert.) Mehr auf LTO.de: Stuttgart 21: Das Volk ist am Zug – allerdings auf dem falschen Gleis Stuttgart 21: Wie weit die Polizei gehen darf BGH zum Urheberrechtsstreit um "Stuttgart 21": Nichtzulassungsbeschwerde des Architekten-Erben zurückgewiesen

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