Ein Jahr nach den BSG-Entscheidungen

Was die Syndikus-Urteile mit der Anwaltschaft machten

von Martin W. HuffLesedauer: 6 Minuten
Am 3. April 2014 hat der 5. Senat des BSG die spektakulären Entscheidungen zur rentenversicherungsrechtlichen Einstufung der Syndikusanwälte verkündet. Seitdem ist viel geschehen, neben der Justiz sind nicht nur die Verbände, sondern Wirtschaft, Politik, Verwaltung und der Gesetzgeber aktiviert. Und längst geht es um viel mehr als nur die Rente. Ein Rückblick von Martin W. Huff.

Als am Nachmittag des 3. April 2014 der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) die mündliche Verhandlung fortsetzte, gab es – für ein oberstes Bundesgericht durchaus ungewöhnlich – keinerlei Anzeichen dafür, wie der Senat entscheiden würde. Verfahrensbeteiligte und Beobachter gingen davon aus, dass es eine differenzierte Stellungnahme des Gerichts geben würde. Was stattdessen folgte, hat in den darauffolgenden 12 Monaten bis heute die deutsche Anwaltslandschaft verändert. Die Kasseler Richter stellten relativ lapidar fest, dass ein bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber tätiger Rechtsanwalt kein Rechtsanwalt sei (Urt. v. 03.04.2014, Az. B 5 RE 13/14 R u.a.) Der Unternehmensjurist könne daher, so der Senat nicht nach § 6 Sozialgesetzbuch (SGB) VI von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden- und damit, wenn er nicht doppelt zahlen wollte, nicht in das Versorgungswerk für Rechtsanwälte einzahlen. Wer einem Angestelltenvertrag unterliege, sei, egal was im Vertrag steht, niemals weisungsfrei - und daher kein Rechtsanwalt.

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Wie alles begann

Die Urteile des BSG waren ein weiterer Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) und den Syndikusanwälten. Es ist fast schon in Vergessenheit geraten, dass die DRV bereits seit Mitte 2009 begonnen hatte, aus welchen Gründen auch immer, ihre bisherige Entscheidungspraxis bei Befreiungen drastisch zu ändern. Die 2005 von ihr geschaffenen und bis dahin in klaren Fällen problemlos angewendeten sog. Vier-Kriterien-Theorie, bei deren Vorliegen sie von einer anwaltlichen und damit befreiungsfähigen Tätigkeit ausging, wurden nun entgegen den eigenen Richtlinien angewandt. Rechtsberatung, Rechtsgestaltung, Rechtsentscheidung und Rechtsvermittlungen trieben in der neuen Anwendung hunderte, wenn nicht tausende von Syndikusrechtsanwälten in Widerspruchs- und Klageverfahren. Ein gleichförmiges Verwaltungshandeln war oft nicht zu erkennen: Ein Anwalt, der dieselbe Stellenbeschreibung besaß wie sein Bürokollege, wurde befreit, der Tischnachbar nicht. "Keine Gleichheit im Unrecht", lautete die lapidare Auskunft der DRV, wenn man sie darauf aufmerksam machte.

Die Sozialgerichte übernahmen die Deutungshoheit über den Anwaltsberuf

Anfang des Jahres 2010 gab es die ersten – meist positiven – Entscheidungen der Sozialgerichte. Viele – meist jüngere – Sozialrichter sahen die Unternehmensjuristen sehr wohl als Anwälte an und befreiten diese anhand der vier Merkmale. Es war der Beginn einer Flut von Entscheidungen, die der deutschen Anwaltschaft schnell zu zeigen begannen, dass die Deutungshoheit darüber, was denn unter anwaltlicher Tätigkeit zu verstehen sei, auf die Sozialgerichte überging. Damit einher ging eine Diskussion darüber, was eigentlich unter anwaltlicher Tätigkeit zu verstehen sei. Es wurde immer deutlicher, dass die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) eigentlich nur auf den in eigener Kanzlei oder Sozietät tätigen Anwalt ausgerichtet ist. Der angestellte Rechtsanwalt dagegen kommt eigentlich nicht vor und zum Syndikusanwalt enthält sie nur rudimentäre Regelungen. Und so flammte die alte Diskussion auf, was denn nun wirklich unter der sog. "Doppelberufstheorie" des Bundesgerichtshofs (das Bundesverfassungsgericht hat eine solche wohl nie vertreten) zu verstehen sei. Es dauerte sehr lange, bis die ersten Landessozialgerichte entschieden. Ihre Urteile fielen diametral entgegengesetzt aus. Sehr offen zeigte sich das LSG Baden-Württemberg, radikal gegen die Syndikusanwälte positionierte sich die zweite Instanz in Essen (NRW) und München (Bayern).

Die Stunde der Verbände

Was nach den Entscheidungen begann, kann man schon ein Jahr später als Lehrstück ansehen in Bezug auf die Abläufe in Verbänden und Vereinen. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) sah sich bestätigt, da er sich ja schon immer für die berufsrechtliche Gleichstellung von Unternehmensjuristen mit allen Anwälten eingesetzt hatte. Der neu gegründete Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) konnte sich aufgrund seines raschen Wachstums mit angesehenen Syndizi schnell und klar positionieren. Am schwersten hatte es die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) mit ihren 28 Mitgliedern, von denen jede Kammer eine Stimme hat. Hier gibt es bis heute gegensätzliche Ansätze. Sie reichen von der Aussage, Syndikusanwälte seien keine Anwälte bis zur Ansicht, wer weisungsfrei rechtsberatend für seinen Arbeitgeber oder dessen Mitglieder tätig sei, sei ein "normaler" Rechtsanwalt. Nachdem die Syndikusanwälte im Mai 2014 bei der Kammerversammlung in München und noch stärker im März 2015 bei der Versammlung in Berlin von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten, ist die Kammerlandschaft in Bewegung. In Berlin wurden von den 14 zu vergebenden Vorstandsposten acht mit Syndikusanwälten besetzt. Für die gerade laufenden Wahlen zur Satzungsversammlung, dem Parlament der Anwälte, kandidieren viele Syndikusanwälte und werden, wie etwa in Frankfurt, auch gewählt. Schon heißt es etwa in den Anwaltsvereinen in Essen und Bochum, man dürfe sich nicht von den Syndikusanwälten überrennen lassen. Die Kollegen verkennen, dass demokratische Prozesse ablaufen: Es gewinnt, wer Mehrheiten organisieren kann.

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Ein Jahr danach: Verfassungsbeschwerden, ein Gesetzentwurf, Anwälte im Kampf mit sich selbst

Längst steht nicht mehr nur die rentenversicherungsrechtliche Diskussion im Raum. Es geht um das Selbstverständnis, um die Frage nach der Definition, was eigentlich anwaltliche Tätigkeit ausmacht. Sie stellt sich in einer Zeit, in der ca. 40 Prozent der Anwälte auf Dauer angestellt tätig sind, ca. 25 Prozent in Unternehmen und Verbänden arbeiten und nur noch ca. 30 bis 40 Prozent wirklich Inhaber von eigenen Kanzleien sind. Auch die Wirtschaftsverbände wurden nach dem 3. April 2014 wach. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass diese paritätisch die Führung der DRV mitbestimmen, also auch diese Interessen eigentlich mit vertreten sollten. Doch das Verhalten der DRV ist in dieser Auseinandersetzung ein Kapitel für sich. Mit einer ordnungsgemäß arbeitenden Verwaltung hat es manchmal nur noch wenig zu tun. So wurden Anträge monatelang gar nicht beschieden, ohne ordnungsgemäße Begründung versandt, auf Vertrauensschutzargumente wird erst gar nicht eingegangen. Beschwerden blieben weitgehend erfolglos. Nach dem 3. April 2014 geriet auch die Politik unter Handlungsdruck. Viele Abgeordnete bemerkten, wie viele Anwälte in Unternehmen in ihren Wahlkreisen tätig sind. So ergriff Justizminister Heiko Maas (SPD) Ende 2014 die Initiative und kündigte gesetzgeberische Maßnahmen an.

Verfassungsbeschwerden, ein Gesetzentwurf und die Frage nach dem neuen Selbstverständnis

Gegen die nach langen Monaten des Wartens zugestellten Urteile des BSG sind Verfassungsbeschwerden erhoben worden. Schon nach wenigen Wochen wurden diese im Dezember 2014 an einen großen Kreis zugestellt, Ende März 2015 kündigte das höchste deutsche Gericht an, über die Verfassungsbeschwerden noch in diesem Jahr entscheiden zu wollen. Dem Eckpunktepapier von Heiko Maas, vorgestellt am 13.1.2015, folgte jetzt am 26.3.2015 der ausformulierte Gesetzentwurf. Alles ist also – auch nach einer in ihrem Rechtscharakter durchaus fragwürdigen "Vertrauensschutzregelung" der DRV vom 12. Dezember 2014 – weiterhin im Fluss. Die DRV und viele Rechtsanwälte sind mit einer Vielzahl von Verfahren befasst. Es wird immer deutlicher, dass die Behörde zumindest bis Ende 2008 selber davon ausging, dass Befreiungen auf Dauer ausgesprochen seien und Anträge, so Kollegen sie bei einem Wechsel dennoch stellten, gar als gegenstandslos betrachtete. Ein Jahr nach dem Paukenschlag aus Kassel ringt die deutsche Anwaltschaft um ihr Selbstverständnis. Die Syndikusanwälte nehmen – für viele überraschend - ihre Rechte wahr. Der Gesetzgeber geht voran, zum Erstaunen vieler Anwälte. Und wenn alles so kommt, wie man nach dem Entwurf berechtigterweise hoffen darf, kann es 2016 heißen: Wer wirklich Syndikusanwalt ist, ist Rechtsanwalt. Er kann von der Rentenversicherungspflicht befreit werden, die Übergangsregelungen dürften die allermeisten Kollegen zufrieden stellen. Nicht zuletzt hat sich das Berufsrecht zu Recht weiterentwickelt. Wenn nun noch das BVerfG Ausführungen zur Reichweite des Art. 12 Grundgesetz veröffentlicht, hat die Auseinandersetzung auch das Recht voran gebracht.

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