Rechtsalltag als Blinder

Zuhören ohne Ablenkung

von Simon HeinrichLesedauer: 6 Minuten
Moritz Bißwanger ist Mitte zwanzig und hat vor einem halben Jahr seine Promotion begonnen, Thomas Drengenberg ist Ende vierzig und seit knapp zwanzig Jahren Richter am Amtsgericht in Marburg. Zwei Juristen, die neben ihren guten Staatsexamina noch eine weitere Gemeinsamkeit haben: Sie sind beide blind.

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Moritz Bißwanger musste nicht lange überlegen, um auf ein Thema für seine Promotion an der Universität Augsburg zu kommen. Er wählte es aus seinem täglichen Leben: "Blindenführhund - rechtliche Betrachtung eines außergewöhnlichen Hilfsmittels". Laut Bißwanger gibt es kein anderes Hilfsmittel, das im Alltag derart viele rechtliche und tatsächliche Probleme mit sich bringt. Vor einem halben Jahr hat er eine Promotion zu dem Thema begonnen, doch auch in seiner Freizeit befasst er sich damit, indem er von der Problematik betroffene Menschen beispielsweise in rechtlichen Fragen gegenüber der Krankenkasse vertritt. Bereits im Vorschulalter hat Bißwanger sein Augenlicht verloren – als Folge mehrerer Operationen wegen eines Tumors an der Sehnervenkreuzung. Seine Lebensplanung wollte er deshalb aber nicht über den Haufen werfen. "Ich musste mich oft durchkämpfen, habe nicht immer den leichtesten Weg genommen", sagt er. Er ging nicht auf eine Blindenschule, sondern auf ein reguläres Gymnasium. Mit Hilfe einer sogenannten Braille-Zeile an seinem Computer, die Geschriebenes und Eingescanntes in Blindenschrift übersetzt, kann er fast wie jeder andere normal am Unterricht teilnehmen.

Die Braille-Zeile als Weg zur Wissenschaft

Doch entsprechende Gerätschaften müssen zunächst angeschafft werden. Für mehrere Schulen war das ein zu großer Aufwand - und eine Rechtfertigung, um Bißwanger als Schüler abzulehnen. Auch zu Beginn des Studiums gestaltete sich die Versorgung mit den notwendigen Hilfsmitteln als schwierig, da sich zunächst keine Behörde für ihn zuständig fühlte. Besonders dankbar ist er daher der Universität Augsburg, die beschloss, in der Bibliothek ein speziell für blinde Studenten ausgestattetes Büro einzurichten. Schon in der neunten Klasse hatte sich Bißwanger vorgenommen, später einmal Jura zu studieren. Kein einfaches Unterfangen, besteht das Studium doch zum großen Teil aus dem Lesen von Gesetzestexten und längeren Aufenthalten in der Uni-Bibliothek. Doch eine Assistenzkraft, die als Zivildienstleistende für das rote Kreuz tätig war, unterstützte ihn dabei, suchte die notwendige Literatur aus der Bibliothek und scannte sie ein. Die Scans konnte Bißwanger dann mit Hilfe der Braille-Zeile an seinem Notebook lesen. Das dauert jedoch seine Zeit. Vor allem, da Scans häufiger fehlerhaft sind, Fußnoten und Randnummern in falscher Reihenfolge oder gar nicht erkannt werden. Das korrekte Zitieren in Haus- und Seminararbeiten – für manchen ohnehin schon eine Herausforderung – wird so doppelt mühevoll.

Gelesenes oder Gehörtes wird sofort gespeichert

Auch Inhaltsverzeichnisse, die andere Studenten schnell überfliegen konnten, musste Bißwanger mühsam und Zeile für Zeile durcharbeiten. Bei den Klausuren machten ihm vor allem jene aus dem Öffentlichen Recht zu schaffen, die regelmäßig mit zahlreichen Datumsangaben zwecks Fristberechnung gespickt waren. Um nicht ständig und aufwändig "Umblättern" zu müssen, entwickelte Bißwanger ein hervorragendes Gedächtnis, in dem meist alle relevanten Informationen nach einmaligem Lesen haften blieben. Letztlich konnte er die Klausuren genauso schreiben, wie seine Kommilitonen auch - nur am Computer, statt mit Zettel und Stift. Nach neun Semestern hatte er das erste Staatsexamen in der Tasche, eine Promotion sollte folgen. Der Antrag auf einen Zuschuss für die Kosten einer Hilfskraft, die Bißwanger weiterhin seine Bücher aus der Bibliothek suchen und einscannen könnte, wurde von der zuständigen Behörde jedoch abgelehnt. Die nüchterne Begründung: "Wenn Sie gut genug sind, um zur Promotion zugelassen zu werden, dann schaffen Sie es auf dem Arbeitsmarkt auch ohne Promotion". Die Unistiftung und ein Unternehmer im Wohnort seiner Eltern sprangen ein, sodass ihm nun zumindest für zehn Stunden pro Woche eine Hilfskraft zur Verfügung steht. Mitte 2015 will er fertig sein.

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2/2: Staatsexamen nach sieben Semestern

Das Jurastudium liegt für Thomas Drengenberg schon weit in der Vergangenheit. Besonders lang gedauert hat es allerdings ohnehin nicht. Scheinfrei nach vier Semestern, das Staatsexamen nach sieben. Damit war Drengenberg schneller als beinahe alle seiner Mitstudenten – und das, obwohl er mit 16 Jahren sein Augenlicht bei einem Motorradunfall verloren hatte. Ein 286er Computer – heute ein Objekt von fast schon antiquarischem Wert - hatte ihm dabei geholfen, die eingescannten Gesetzestexte und Lehrbücher zu verstehen. Das Programm, das ihm die Passagen in blecherner Stimme vorlas, kostete damals stolze 2000 Mark. Drengenberg meldete sich gleichzeitig für das Erste Staatsexamen und das Referendariat an, hatte somit lediglich zehn Tage Leerlauf zwischen dem Ende des einen und dem Beginn des nächsten. Obwohl er blind ist, stellte er einen Verkürzungsantrag für sein Referendariat – der gebilligt wurde. Somit sparte er ein halbes Jahr ein und arbeitete während des Referendariats obendrein noch an seinem Fachanwaltstitel für Steuer- und Arbeitsrecht.

Handelsreisender in Sachen Recht

Die ersten Jahre arbeitete Drengenberg als Rechtsanwalt – und sah sich häufig mit Vorurteilen konfrontiert. "Der kann mich nicht vertreten, der sieht ja nicht einmal den Richter", hätten viele seiner Mandanten gedacht, und auch die Gegenanwälte trautem ihm vergleichsweise wenig zu. Genau darin habe jedoch eine seiner Stärken gelegen. "Ich wurde oft unterschätzt, doch gerade bei Mammutverhandlungen mit einem Dutzend Zeugen ließen sich die anderen irgendwann optisch von irgendwas ablenken, ich konnte mich bis zum Schluss konzentrieren", sagt er. Das habe sich schnell rumgesprochen. Neben der schwierigen Büroorganisation hätten ihn vor allem die vielen auswärtigen Termine dazu gebracht, vom Anwaltsberuf ins Richteramt ans Amtsgericht Marburg zu wechseln. Als "Handelsreisender in Sachen Recht" habe er sich gesehen, doch als Blinder sei es mühselig, in einer fremden Stadt vom Bahnhof ins Gericht und zurück zu kommen. "Es ist natürlich von der Materie abhängig, ob mir ein Prozess leichter oder schwerer fällt", meint Drengenberg. Bau- und Architektenprozesse seien schwierig, da optische Wahrnehmung dort eine größere Rolle spiele. Bei Verträgen hingegen seien blinde Juristen definitiv nicht im Nachteil, oft sogar genauer als die sehenden Kollegen. Eine besondere Vorliebe von Drengenberg sind Verkehrsfälle. An sich zwar eine untypische Leidenschaft für einen Blinden, doch Autos und Motorräder waren schon immer sein Hobby . Den Zwei- und Vierrädern ist er trotz seines Unfalls treu geblieben; auf einem abgesperrten Platz fährt er bis heute.

Richterliche Fähigkeiten wie bei einem Sehenden

Seine Akten lässt Drengenberg sich einscannen und dann von einem Sprachprogramm vorlesen. Ein einmaliger Durchgang reiche im Normalfall aus, dann habe er die Akte komplett im Kopf. "Schon als Kind habe ich meinem Lehrer meine Hausaufgaben aus dem Heft vorgelesen, selbst dann, wenn ich es nicht dabei hatte. Ich konnte mir schon immer quasi alles merken", sagt er. Auch während der Verhandlungen macht er sich keine Notizen, sondern erst danach – und egal, ob die Verhandlung eine oder zehn Stunden gedauert hat. Drengenberg ist sich sicher, dass ihn von seinen Fähigkeiten als Richter nichts von seinen Kollegen unterscheidet. Er habe bei Gericht zwar eine Vorlesekraft und benötige somit eine Dreiviertelstelle mehr als Sehende, aber das sei auch schon der einzige Unterschied. Die Zeit, die er zum Verinnerlichen der Akten mehr benötige, hole er beim Erfassen und Diktieren wieder rein. "Ich bearbeite die gleiche Anzahl an Fällen wie meine Kollegen, und meine Urteile werden nur in ganz wenigen Fällen von der Berufungsinstanz aufgehoben", sagt er. Einmal war Drengenberg jedoch froh, einen sehenden Referendar neben sich sitzen zu haben. Ein Angeklagter hatte die Fragen des Richters mehrmals beantwortet, um sich nur wenige Sekunden später wieder zu korrigieren. Drengenberg wunderte sich, fand jedoch keine Erklärung für das Verhalten, bis der Referendar ihm mitteilte, dass der Anwalt des Angeklagten seinem Mandanten immer wieder Kärtchen hinhielt, die diesen offenbar zur Änderung seiner Antworten bewegten. Eine eidesstattliche Erklärung des Referendars später hatte der Anwalt die Rolle desjenigen, den er eben noch so engagiert gecoacht hatte, selber inne. Nun saß er auf der Anklagebank.

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Jurastudium

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