Der Anwalt und das Arbeitszeitgesetz

Viel Gehalt, wenig Gesund­heits­schutz?

Gastbeitrag von Paul SchreinerLesedauer: 4 Minuten

Das Arbeitszeitgesetz passt nicht auf Anwälte in Großkanzleien. Selbst eine Gute-Nacht-Geschichte für die Kinder wäre wegen der gesetzlichen Ruhezeit kaum möglich. Höchste Zeit, die Anwälte auszunehmen, meint Paul Schreiner.

Das Arbeitszeitgesetz ist wieder in aller Munde, nicht zuletzt seit der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Entscheidung CCOO die Arbeitszeitrichtlinie dahingehend ausgelegt hat, dass der Arbeitgeber ein Zeiterfassungssystem zur Verfügung stellen müsse, welches im Einzelnen eine genaue Dokumentation von Arbeitszeiten und Pausen erlaubt (EuGH, Urt. v. 14.05.2019, Az. C-55/18). Ob hieraus eine Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers zur Anpassung des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) folgt, wird diskutiert – zu Unrecht: Es kann letztlich keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass das Gesetz an die Vorgaben des EuGH anzupassen ist.

Wenn das ArbZG aber ohnehin angepasst werden muss, so sollte dies zum Anlass genommen werden, es auch im Übrigen zu modernisieren. Es gibt schlicht zu viele Berufsbilder, die heute bereits annähernd zwangsläufig mit dem engen arbeitszeitrechtlichen Korsett kollidieren – das des Anwalts zum Beispiel.

Jedenfalls Anwälte in Großkanzleien sind in aller Regel nicht in der Lage, Überschreitungen der gesetzlichen Vorgaben zur Arbeitszeit zu vermeiden. Dies ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass die Erwartungshaltung des Marktes eine andere ist. Hochbezahlte Anwälte werden typischerweise für zeitkritische Aufgaben genutzt, sei es nun die Verhandlung einer Transaktion oder eines Interessenausgleichs. Weder die Parteien noch irgendein Berater unterbricht in einem solchen Fall seine Tätigkeit, weil die zehnstündige tägliche Arbeitszeit überschritten wird (§ 3 ArbZG) oder etwa feststeht, dass die gesetzlich geforderte Ruhezeit von elf Stunden (§ 5 ArbZG) nicht eingehalten werden kann.

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Abendessen mit Familie nicht mit Gesetz vereinbar

Die Politik weigert sich in wesentlichen Teilen diese Realitäten anzuerkennen, was insbesondere deswegen verwundert, weil es auch keinen Wahlkampf gibt, in dem es möglich wäre, die Vorgaben des ArbGZ einzuhalten. Trotz dieser Tatsache orientieren sich die gesetzlichen Vorgaben augenscheinlich ausschließlich an Prozessen aus einer industriellen Welt, in der die individuelle Arbeitszeit jederzeit planbar aus einem Schichtplan folgt.

Die Folgen sind gravierend: Die elfstündige Mindestruhezeit wird bereits dann unterbrochen, wenn auch nur eine Email zur Nachtzeit gelesen wird – mit der Folge, dass sie erneut vollständig absolviert werden muss. Das durchaus verbreitete Modell, die Arbeitszeit für das Abendessen mit der Familie und der Gute-Nacht-Geschichte für die kleine Tochter zu unterbrechen, ist daher zwar familienfreundlich, aber nicht mit den Vorstellungen des deutschen Gesetzgebers zu vereinbaren.

Betrachtet man die dem ArbZG zugrundeliegende Arbeitszeitrichtlinie, so ist dies allerdings unnötig. Nach Art. 17 der Richtlinie ist es möglich, Beschäftigtengruppen von der Geltung der dortigen Vorschriften auszunehmen, wenn sie denn in der Lage sind über ihre Arbeitszeit selbstständig zu disponieren. In einigen europäischen Ländern wurde von dieser Möglichkeit dadurch Gebrauch gemacht, dass Mitarbeiter oberhalb eines bestimmten Gehaltsniveaus in gewissem Umfang aus dem Anwendungsbereich des lokalen Arbeitszeitrechts ausgenommen wurden.

Gesundheitsschutz ist einkommensunabhängig

Dieser Gedankengang wird in Deutschland vielfach öffentlichkeitswirksam geschmäht, typischerweise mit der Bemerkung, dass die gesundheitsschützende Funktion des ArbZG einkommensunabhängig zu gewährleisten sei. Die Sozialgemeinschaft sei davor zu bewahren, dass durch eine Arbeitsüberlastung Gesundheitsschäden angelegt würde, die sich dann erst in der Zukunft realisieren.

Jedenfalls mit Bezug auf die Anwaltschaft lässt sich ein solcher Zusammenhang allerdings schwerlich behaupten. Es gibt Legionen von Kollegen, die weit über den Eintritt des Rentenalters hinaus tätig sind. Überdies ist die gesundheitsschädliche Wirkung der Gute-Nacht-Geschichte nicht nachgewiesen, die der Scheidung demgegenüber schon.

Auch die Logik der Arbeitszeitrichtlinie ist in dieser Hinsicht eine andere: Solange der Betroffene es selbst in der Hand hat, seine Arbeitszeit zu bestimmen, steht ihm dies frei. Es geht also im Kern darum, ob der Arbeitnehmer zu ausreichendem Selbstschutz in der Lage ist. Ist dies der Fall, so darf der Gesetzgeber davon absehen, rigide Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Großkanzlei bietet Möglichkeit zum Selbstschutz

Diese Möglichkeit des Selbstschutzes ist aus meiner Sicht in der Welt der Großkanzleien durchaus gegeben. Sogar die hier eingestellten Berufseinsteiger verdienen im Minimum etwa doppelt so viel wie der Durchschnittdeutsche, innerhalb der ersten Berufsjahre steigert sich der Verdienst typischerweise stark.

Hintergrund dieser Gehaltsentwicklung ist die mangelnde Verfügbarkeit der Ressource. Den Berufseinsteigern steht eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitgeber zur Verfügung, die ihrerseits die unterschiedlichsten zeitlichen Anforderungen an die Berufsausübung stellen. Die Arbeitszeit ist unmittelbar an die Wunschvergütung geknüpft. Unter diesen Marktbedingungen aber hat es letztlich der Arbeitnehmer selbst in der Hand, über seine „Wunscharbeitszeit“ zu disponieren.

Dieser grundsätzliche Zusammenhang zwischen der Gehaltshöhe und der damit einhergehenden Verhandlungsmacht des Arbeitnehmers spricht aus meiner Sicht stark dafür, Ausnahmen von der Geltung des ArbZG bei Überschreitung einer Gehaltsgrenze zuzulassen. Die Höhe des Gehalts ist ein starker Indikator für die Verhandlungsmacht der Parteien, in ihr kommt auch die Befürchtung des Arbeitgebers zum Ausdruck, dass sich ein Mitarbeiter schlicht einen anderen Arbeitsplatz bei einem anderen Arbeitgeber sucht.

Auch tatsächlich ist diese Befürchtung zutreffend: Es steht den betroffenen Kollegen jederzeit frei, zu einer anderen Kanzlei zu wechseln, die ein anderes Arbeitszeitmodell praktiziert. Viele Großkanzleien offerieren inzwischen auch Arbeitszeitmodelle, die sich mit den Vorschriften des ArbZG ohne weiteres vereinbaren lassen. Gleiches gilt für Unternehmen, Gerichte und Behörden. Die hierdurch zum Ausdruck kommende Verhandlungsmacht ist ausreichend, um eine Ausnahme vom ArbZG zuzulassen. Es wäre wünschenswert, dass der deutsche Gesetzgeber seinen Regelungsspielraum weiträumiger nutzt als bislang – und sei es auch nur um der Gute-Nacht-Geschichte willen.

Der Autor Paul Schreiner ist Partner und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Luther und leitet den Bereich Arbeitsrecht in der Kanzlei.

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