Finanziert Deutschland wirklich Putins Krieg durch Öl- und Gasimporte, könnte es einen Militärputsch geben, wird Russland ein Entwicklungsland oder tritt China als Retter in der Not auf? Der Militärökonom Marcus Matthias Keupp im Interview.
LTO: Herr Dr. Keupp, die Bundesregierung weigert sich, einen Importstopp auf russisches Gas und Öl zu verhängen. Ihr schlägt daher viel Kritik entgegen. Mit den Milliarden für Öl und Gas finanziere Deutschland den Angriffskrieg Putins. Überzeugt Sie das?
PD Dr. Marcus Matthias Keupp: Ich halte das Argument nicht für stichhaltig, aus mehreren Gründen. Der Angriffskrieg in der Ukraine wird ganz überwiegend mit selbstproduzierten Rüstungsgütern geführt. Die russische Rüstungsindustrie braucht keine Devisen und keine technologischen Kooperationen. Im Gegenteil trägt sie sogar zur Finanzierung des russischen Staates bei, weil Russland der zweitgrösste Waffenexporteur der Welt ist.
Auch die Truppenlogistik ist nicht auf Einnahmen aus dem Ausland angewiesen. Die Streitkräfte beziehen sämtliche Öl-, Diesel- und Kerosinlieferungen vom Staatsunternehmen Rosneft. Die Zahlungen des russischen Kriegsministeriums an Rosneft werden in Rubel fakturiert, auch die Soldaten werden in Rubel bezahlt. Hier hat die russische Regierung die Geldmenge direkt in der Hand. Die russische Kriegsführung ist also autark. Selbst wenn Deutschland und Europa überhaupt kein russisches Öl und kein russisches Gas mehr kaufen würden, könnte diese Kriegsmaschinerie unbegrenzt weiterlaufen.
Aber die Einnahmen aus Öl- und Gas sind wichtig für den russischen Staatshaushalt?
Enorm wichtig. Außerhalb des Öl- und Gassektors ist Russland, was den Industrie- und Dienstleistungssektor angeht, sehr schwach aufgestellt. Die Einkünfte aus Öl- und Gasexporten machen zwischen 40 und 60 Prozent der Einnahmen des russischen Staates aus. Zum einen sind das Steuereinnahmen auf die Unternehmensgewinne. Zum anderen sind das die Exportzölle, die die Staatsunternehmen auf den eigentlichen Energiepreis aufschlagen und an den russischen Staat abgeführen. Beide fließen direkt in das russische Staatsbudget. Die Einnahmen werden für Sozialleistungen, Subventionen und auch für den Militärhaushalt benötigt.
Also müsste doch Russland auch die Militärausgaben kürzen, wenn es nicht durch das Nachdrucken des Rubel eine Hyperinflation riskieren will?
Da verstehen Sie das russische Herrschaftssystem nicht. Die russische Elite interessiert sich recht wenig für den Wohlstand der Zivilbevölkerung. Wenn Europa jetzt kurzfristig Öl und Gas boykottieren würde, wird Russland für Sozialleistungen zunächst einmal auf den staatlichen Wohlfahrtsfonds zurückgreifen. Wenn der leer ist, glaube ich nicht, dass die Verteidigungsausgaben reduziert würden, sondern es würde an Sozialleistungen gespart.
Russland ist auf dem Weg zurück zum Entwicklungsland
Vor welcher wirtschaftlichen Situation steht Russland aktuell?
Das was da im Moment passiert ist ökonomischer Selbstmord. Das muss man klar sagen. Alles, was Russland in der jüngeren Geschichte gewonnen hat - so zweifelhaft das auch sein mag – in der Welt zwischen 1990 und 2020, ist jetzt Geschichte. Das ist weg.
So müssen sich die Russen gegen die Abwertung des Rubel stemmen. Dafür bräuchten sie eigentlich Dollar oder Euro zur Stützung der Währung. Da kommen sie aber nicht ran, weil die westlichen Sanktionen die Währungs- und Goldreserven der Zentralbank weitgehend blockiert haben. Russland muss zudem die Importe substituieren, weil jetzt natürlich westliche Importe wegen der Rubelabwertung viel teurer geworden sind, für chinesische Importe gilt das gleiche. Sie müssen das Bankensystem retten, weil es sonst kollabiert, wenn die Börse wieder öffnet – falls sie jemals wieder öffnet.
All diese Aufgaben können nicht gleichzeitig erfüllt werden. Und diesmal wird Russland auch niemand zu Hilfe kommen. Der Kollaps des russischen Finanzsystems ist nur noch eine Frage von Tagen. Auf das Öl- und Gasgeschäft kommt es also nicht mehr an, Russland wird sich durch die Kombination von Inflation und Rezession zurückentwickeln, zu einer Mangelwirtschaft wie in der Sowjetunion.
Insoweit könnten ja ein Öl- und Gasembargo, wenn es diesen sozialen Niedergang beschleunigt, erst recht im Sinne des Westens sein. Könnte die Bevölkerung gegen Putin aufbegehren?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Putin hat die nahezu unbeschränkte Herrschaft über die Polizei, über das Militär, über die Spezialkräfte, über den Geheimdienst und über sämtliche Medien. Seit dieser Woche sind auch die letzten westlichen sozialen Medien Instagram und Facebook* abgeschaltet, und die russischen sozialen Netzwerke kontrolliert der Staat. Für einen Aufstand bräuchte es wie damals in der Oktoberrevolution eine Gruppe von Revolutionären, die diesen Aufstand anführen könnte. Aber die ist nicht in Sicht.
"Abstimmung mit den Füßen"
Die russische Bevölkerung wird den Kriegskurs also trotz sozialer Not mittragen?
Die Frage zeigt Ihre typisch westliche Perspektive. Die Russen haben nicht zu entscheiden, ob sie mitmachen möchten. Sie werden nicht gefragt. Der Präsident ordnet das an und es geschieht. Die Russen haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie fügen sich in das Unvermeidliche oder sie verlassen Russland. Und genau diese "Abstimmung mit den Füßen" findet bereits statt. Viele aus der gut ausgebildeten urbanen Mittelschicht verlassen das Land. Vielleicht ruft Russland daher das Kriegsrecht aus, dann würden die Außengrenzen geschlossen. Das wäre dann das typische Kennzeichen des totalitären Staates. Vieles erinnert mich an den Mauerbau. Am 12. August gehen sie noch schön spazieren und am 13. August wachen sie im Gefängnis auf.
Könnte es einen Militärputsch geben?
Das halte ich noch eher für wahrscheinlich. Das russische Militär wird im Moment sehr gedemütigt. Aus der Sicht Moskaus ist die Ukraine so eine Art freches Untertanenvolk, das man disziplinieren muss. Die erheblichen russischen Verluste sind eine unfassbare Demütigung für die Generalität. Dass sie aktiv putschen würden, glaube ich nicht. Aber sie könnten sich neutral verhalten, wenn jemand anderes putschen würde. Aber wer soll das sein?
Wenn es jetzt kurzfristig zu einem Friedensvertrag käme, würde sich die wirtschaftliche Situation Russlands dann entspannen?
Nein. Es kommt auf kooperatives Verhalten von Russland nicht einmal mehr an. Selbst wenn Putin heute sagen würde, ich ziehe alle meine Truppen zurück, selbst dann wäre der angerichtete Schaden für die Volkswirtschaft irreparabel. Wir sehen im Moment den Abschied Russlands nicht nur aus der modernen Staatenwelt, sondern auch aus der Weltwirtschaftsordnung. Es wird Jahrzehnte dauern, die Wirtschaft wieder auf den Stand von Januar 2022 zurückzuführen.
Russland wird zu Chinas billiger kleiner Tankstelle
Wie schätzen Sie die Rolle Chinas ein - Könnte das Land die russische Lebensversicherung sein?
Das ist Russlands letzte Flucht oder besser gesagt letzte Fantasie. Ist aber völliger Unsinn. Erstens, weil das Exportsystem der russischen Rohstoffe zu über 90 Prozent nach Westen ausgerichtet ist. Zweitens gehen nur 2 Prozent der chinesischen Exporte nach Russland. Aus chinesischer Sicht ist zunächst mal das Dreieckshandel mit Japan und Südkorea am wichtigsten. Danach kommt die westliche Welt, dann die anderen asiatischen Länder, dann die afrikanische Staaten und schließlich weit abgeschlagen kommt Russland. Drittens hat der Rubel natürlich auch gegenüber dem Yuan erheblich an Wert verloren. Die Chinesen wollen auch nicht in Rubel bezahlt werden. Hinter der Idee, dass China als Retter in der Not auftreten wird, steckt nichts als unrealistisches Wunschdenken.
Aber könnte dann China nicht aus machtpolitischen Gründen sagen, wir müssen Russland als Gegengewicht zum Westen massiv unterstützen?
Die Chinesen sind anders als die Russen keine Ideologen. Das sind beinharte Pragmatiker. China wird eher abwarten, bis Russland kurz vor dem Zusammenbruch steht. Und dann die russischen Firmen, die Assets, die Staatsanleihen billig aufkaufen für einen Spottpreis. Und danach ist Russland Chinas billige kleine Tankstelle, an der es sich bedienen kann, wie es möchte. Denn viele andere Optionen als nach China zu liefern, hat Russland nicht mehr.
Glaube Sie als Militärökonom, dass die heftigen Sanktionen des Westens gegenüber Russland China abgeschreckt haben, etwa in Zukunft in Taiwan einzumarschieren?
Ich halte die These, dass sich China bei ausbleibenden Sanktionen Taiwan einverleibt hätte, für hochgradig spekulativ. Die chinesische Außen- und Militärpolitik ist nicht besonders aggressiv, vor allem nicht im Vergleich mit anderen autoritären Staaten. Die Volksbefreiungsarmee hat überhaupt keine Kampferfahrung. Sie hat seit 1949 keinen bewaffneten Konflikt ausgetragen. Das muss man auch mal sehen. Abgesehen davon sind der Westen und China wirtschaftlich voneinander abhängig, und beide haben ein starkes Interesse daran, ihren Handel auszubauen.
Ukraine-Krieg wird zum schwarzen Loch für russisches Militär
Wie verläuft der Krieg aus militärökonomischer Sicht?
Die Russen haben über 1.400 Einheiten schweres Gerät verloren. Nicht nur Panzer, auch schwere Transportfahrzeuge, Spezialgerät für die elektronische Kriegführung und so weiter. Wenn es noch lange so weitergeht, wird die Ukraine für das russische Militär eine Art schwarzes Loch. Alles was die Russen hineinschicken, verschluckt die ukrainische Erde. Außerdem eignen sich die Ukrainer selbst einen Großteil dieses Materials an und wenden es gegen die Russen. So schrecklich das aus menschlicher Perspektive ist, aber aus militärischer Perspektive gilt: Je länger der Krieg dauert, desto stärker ist die Ukraine im Vorteil. Sie muss den Krieg nicht gewinnen, sie muss ihn nur in die Länge ziehen.
Und wenn die Russen aus der Luft großflächig bombardieren?
Nur weil die gegnerischen Städte in Schutt und Asche liegen, heißt es noch lange nicht, dass das Territorium unter Kontrolle ist. Wenn die Bevölkerung aufs Land flieht, dann haben wir Partisanenkrieg. Dann werden die Russen notfalls mit Selbstmordattentaten attackiert. Und ich glaube, das ist der Grund, warum die strategische Luftwaffe der Russen nicht eingreift, da sie solche Szenarien voraussieht und in die Geschichte schaut. Im zweiten Weltkrieg standen eine halbe Million Wehrmachtssoldaten allein in der Ukraine und sie wurden trotzdem ständig angegriffen von Partisanen und haben es nicht geschafft, das Land unter Kontrolle zu bringen. In einer feindlichen, fanatischen Zivilbevölkerung kann eine Besatzungsmacht kaum bestehen.
Wenn Sie Herr Selenskij wären, würden Sie sich die Frage stellen, ob nicht die Kapitulation der richtige Weg sein könnte, um Hundertausende Menschenleben zu retten?
Als Humanist würden Sie sich vielleicht diese Frage stellen, in der Kriegführung spielen solche Überlegungen keine Rolle. Das gilt für die russische Generalität wie auch die ukrainischen Verteidiger. Aber je mehr Opfer der Krieg fordert, desto mehr bildet sich ein Gründungsmythos. Jegliche Zweifel, ob es eine ukrainische Nation, eine ukrainische Staatlichkeit, ein ukrainisches Volk gibt, sind dann verflogen. Der Krieg ist die Geburtsstunde der postmodernen Ukraine. Das kann man schon jetzt sagen.
Die Ukraine kann den Krieg nur taktisch führen, und daher muss sie ihn in die Länge ziehen, bis die russische Logistik nicht mehr leistungsfähig ist. Auch wenn das bedeutet, dass noch mehr Kombattanten und Zivilisten sterben. Aus militärischer Logik ist das das Opfer, das die Ukraine bringen muss, um ihre Staatlichkeit zu erhalten. So traurig das aus humanitärer Perspektive ist. Aber Selenskij hat keine andere Option.
PD Dr. Marcus Matthias Keupp ist Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich. In seinem Buch "Militärökonomie" erörtert er die ökonomischen Probleme militärischer Organisationen aus institutioneller Perspektive.
* An dieser Stelle stand zuvor bis 22.3, WhatsApp sei abgeschaltet worden. Dies war eine Verwechslung. Richtig ist Facebook.
Ukraine-Krieg aus der Sicht eines Militärökonomen: . In: Legal Tribune Online, 17.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47874 (abgerufen am: 14.10.2024 )
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