Wiederaufnahme im Strafverfahren: Bru­taler Rechts­staat

von Prof. Dr. Marco Mansdörfer

11.09.2015

2/2: Brutale, aber zwingende Regelungen des Rechtsstaates

Nein. Und nochmals: Nein. Die Antwort ist klar und brutal für Opfer und deren Angehörige. Für den Rechtsstaat ist sie zwingend. Die vier anerkannten Ausnahmen einer Wiederaufnahme lassen sich im Kern auf zwei Grundgedanken reduzieren: Die ersten drei in § 362* StPO genannten Ausnahmen betreffen alle so schweren Verfahrensmängel, dass dem ersten Verfahren seine Rechts"kraft" genommen wird.

Die letzte Ausnahme, das spätere Geständnis der Tat, lässt sich als Verzicht des Täters auf das ihn schützende Institut der Rechtskraft verstehen. Beide Ausnahmen greifen im Fall der Frederike von Möhlmann nicht ein. Die Möglichkeit neuer Tatsachenkenntnisse hat der Gesetzgeber gesehen. Er misst diesen aber nur bei einer Wiederaufnahme zu Gunsten (!) eines Verurteilten Bedeutung zu, § 359 Nr. 5 StPO. Im umgekehrten Fall bleibt die Akte zu.

Es geht nicht anders. Der Gesetzgeber muss Beschuldigten nach dem Ende des Verfahrens seinen Rechtsfrieden gewähren. Wer freigesprochen wurde, muss auf diesen Freispruch vertrauen dürfen. Wenn das Recht das nicht gewährleistet, dann würde der Beschuldigte zum Dauerbeschuldigten. Der Staat könnte jederzeit wieder und wieder zugreifen. Mit jedem Fortschritt der Kriminaltechnik nochmals. Aber kann man nicht die Wiederaufnahme nicht zumindest bei gewichtigen Fortschritten in der Kriminaltechnik zulassen? Wieder: Nein. Was gewichtig ist und was nicht, lässt sich nicht definieren. Die gentechnische Analyse scheint so ein Fortschritt, aber bei genauerem Hinsehen, muss man da ebenfalls zweifeln.

Zweifel kaum noch zu beseitigen

Wie es im Fall von Frederike scheint, bestätigen auch die neuen Spuren nur, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit in Kontakt mit dem Mädchen war. Zum Tathergang geben die neuen Spuren wenig bis nichts her. Dass die neuen Spuren geeignet sind, gerade die Zweifel zu beseitigen, die seinerzeit zum Freispruch geführt haben, lässt sich auch nicht sagen. Im Übrigen müssten in einer neuen Hauptverhandlung nun nach über 30 Jahren alle Beweise neu erhoben werden. Welcher der damaligen Zeugen hat heute noch eine klare Erinnerung an die Geschehnisse von vor über 30 Jahren? Zur Kontrolle an den Leser: Was haben Sie am 4. November 1981 getan? Wer war damals Bundespräsident? Ein Richter müsste sich heute von den Vorgängen damals "überzeugen", § 261 StPO, dazu gehören z.B. der Tathergang, die Beteiligten oder das Vorliegen von Schuldausschlussgründen. Geschickt gestrickte Einlassungen des Beschuldigten könnte ein Gericht heute wohl kaum widerlegen.

Für die Angehörigen von Frederike wird das hart klingen, aber dass die Justiz diese Vorgänge heute befriedigend aufarbeiten könnte, erscheint illusionär. Mit viel größerer Wahrscheinlichkeit würde ein weiterer Prozess ein neues Desaster werden. Die Unsicherheiten wären größer und der Grundsatz in dubio pro reo umso gewichtiger. Unterstützung und Hilfe für Angehörige von Opfern ungeklärter Gewaltverbrechen ist wichtig. Der Strafprozess ist dafür nicht das richtige Mittel.

Der Autor Prof. Dr. Marco Mansdörfer ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes. Zudem ist er als selbstständiger Strafverteidiger mit einem Schwerpunkt auf Wirtschaftsstrafrecht tätig.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Marco Mansdörfer , Wiederaufnahme im Strafverfahren: Brutaler Rechtsstaat . In: Legal Tribune Online, 11.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16851/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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