Von Polens Justizreformen über Framing bis zu Kopftuchverboten und Klimawandel. Der EuGH beschäftigte sich auch 2021 mit einer Bandbreite an Themen und Rechtsgebieten. Die folgenden fünf Urteile stachen dabei besonders heraus.
Im Jahr 2021 ist wieder einmal deutlich geworden: Das Verhältnis zwischen Polen und der Europäischen Union (EU) scheint nicht so einfach zu sein. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) bekommt das zu spüren, er beschäftigt sich gleich in mehreren Verfahren mit Polen und vor allem dessen umstrittenen Justizreformen. Das Urteil zu dem Kernstück der Reform, der Disziplinarkammer für Richter:innen, ist nun gesprochen. Wie kompliziert das Verhältnis zwischen der EU und Polen wirklich ist, veranschaulichte allerdings das polnische Verfassungsgericht in diesem Jahr am besten. Es ist der Ansicht, dass der EuGH gar keine Entscheidungen über die polnische Justiz treffen darf.
Dass der EuGH mit solchen Aussagen von mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten konfrontiert wird, hätte man vor ein paar Jahren vielleicht noch nicht erwartet. Vergangenes Jahr erst sorgte in Sachen "Vorrang des Unionsrechts" das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem EZB-Urteil für Aufregung. Das daraufhin eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren stellte die Kommission inzwischen ein. Dieses Jahr musste der EuGH kurz vor Weihnachten noch einmal auf den Vorrang des Unionsrechts pochen, als er sich mit Urteilen des rumänischen Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) auseinandersetzte.
Mit der Reichweite der Religionsfreiheit und dem Tragen von Kopftüchern als Ausübung dieser Freiheit beschäftigen sich derweil auch die deutschen Gerichte regelmäßig. Nun war der EuGH mal wieder am Zug und entschied über zwei Vorabentscheidungsersuchen aus Deutschland.
Medienrechtliche Fälle landen regelmäßig beim EuGH – so auch im Jahr 2021. Ein gutes Beispiel dafür stellt das Urteil der Luxemburger Richter:innen zum Framing dar. Urheberrechtler:innen haben bis dato fleißig die wegweisende BestWater-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2014 zitiert. Das Urteil aus 2021 komplettiert die Rechtsprechung und unterstreicht, dass Framing durchaus eine öffentliche Wiedergabe darstellen kann.
In Sachen Klimawandel gab es in diesem Jahr einige wichtige Statements von Gerichten – weltweit. Hervorzuheben ist das BVerfG mit seinem überraschenden Klimabeschluss. Eher vorhersehbar und für Klimaschützer:innen enttäuschend erschien dagegen ein Urteil des EuGH, welcher die Klimaklage mehrerer Familien mangels Klagebefugnis abwies. Gerade weil das im Vergleich zu der Welle an anderslautenden Entscheidungen heraussticht, sollte man das Urteil als eines der Wichtigsten in 2021 im Hinterkopf behalten.
1/5: EU-Recht sticht nationales Recht
Der EuGH setzte sich noch im Dezember 2021 mit dem rumänischen VerfGH auseinander und entschied: Unionsrecht hat Vorrang – und zwar auch vor der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte (Urt. v. 21.12.2021, Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19FQ, C-840/19NC).
Die Luxemburger Richter:innen mussten sich mit der Frage beschäftigen, ob die rumänischen Gerichte die Rechtsprechung ihres nationalen VerfGH auch dann anwenden müssen, wenn dies gegen das Unionsrecht verstoßen würde. So hob der rumänische VerfGH mehrere Urteile von rumänischen Gerichten in Sachen Korruption und Mehrwertsteuerbetrug auf – und die wollten das nicht auf sich beruhen lassen. Sie wollten zum einen wissen, ob die Entscheidungen des VerfGH gegen Unionsrecht verstoßen. Zum anderen fragten sie sich, ob sie die Urteile des VerfGH unangewendet lassen können, obwohl das nach rumänischem Recht ein Disziplinarvergehen darstelle.
Der EuGH machte seine Priorität nochmals deutlich: Das EU-Recht sowie dessen Kampf gegen Korruption. Der werde nämlich vom rumänischen VerfGH erschwert, wenn dessen Rechtsprechung zu einer systemischen Straflosigkeit bei Korruption und schwerem Betrug führe. Daher dürften die anderen nationalen Gerichte die Entscheidungen des VerfGH unangewendet lassen. Es sei auch nicht mit Unionsrecht vereinbar, wenn dies zu Disziplinarmaßnahmen für die Richter:innen führt. Die nationalen Gerichte seien gerade verpflichtet, jede nationale Regelung oder Praxis, die einer Unionsrechtsbestimmung entgegensteht, unangewendet zu lassen.
2/5: Polens Richter-Disziplinarkammer zu abhängig
Im Juli 2021 entschied der EuGH zu einem Kernstück der polnischen Justizreformen, der Richter-Disziplinarkammer. Mit seinem System zur Disziplinierung von Richtern verstoße Polen gegen europäisches Recht, findet der Gerichtshof (Urt. v. 15.07.2021, Rs. C-791/19).
Die 2018 eingerichtete Disziplinarkammer am Obersten Gericht des Landes biete nicht alle Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Ausgewählt werden die Mitglieder der Disziplinarkammer vom Landesjustizrat. Dieser soll eigentlich die Unabhängigkeit der Richter:innen garantieren. Doch der EuGH stört sich an der Besetzung des Gremiums, das von einer der Parlamentskammern gewählt wird. Der Landesjustizrat werde so zu einem Organ, das von der polnischen Exekutive und Legislative wesentlich umgebildet worden sei. An der Unabhängigkeit gebe es daher berechtigte Zweifel, so der EuGH.
Polen zeigte im Nachgang zum EuGH-Urteil Reformwillen und kündigte an, die Disziplinarkammer in ihrer derzeitigen Form abzuschaffen. Solange sie in ihrer derzeitigen Form tätig ist, wird es wegen einer einstweiligen EuGH-Anordnung auch teuer für das Land: Der EuGH-Vizepräsident setzte ein tägliches Zwangsgeld in Millionenhöhe fest, bis Polen tätig wird und die Arbeit der Disziplinarkammer stoppt.
3/5: Kein pauschales Kopftuchverbot am Arbeitsplatz
Dass es zu keinen pauschalen Kopftuchverboten in Deutschland kommen wird, zeigt ein Urteil des EuGH vom Juli 2021. Unternehmen dürfen danach am Arbeitsplatz das Tragen sichtbarer religiöser Zeichen zwar verbieten, aber nur, wenn diese die betriebliche Neutralität gefährden. So entschied der EuGH im Juli 2021 über zwei Vorlagen aus Deutschland (Urt. v. 15.07.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19).
Beim EuGH ging es um die Fälle von zwei Mitarbeiterinnen. Ihre jeweiligen Arbeitgeber hatten ihnen untersagt, sichtbare religiöse Zeichen und damit auch ein Kopftuch zu tragen. Beide Mitarbeiterinnen, die durch ihre Arbeitgeber nicht mehr beschäftigt wurden bzw. abgemahnt worden waren, setzten sich dagegen gerichtlich zur Wehr. Die Arbeitgeber beriefen sich auf die unternehmerische Betätigungsfreiheit und den Wunsch nach betrieblicher Neutralität.
Der EuGH entschied sodann, dass ein Verbot jeglicher religiöser Zeichen zwar eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion darstelle. Allerdings könne eine solche Neutralitätspolitik im Unternehmen gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber ein Bedürfnis nach betrieblicher Neutralität nachweisen könne. Laut EuGH ist in die Abwägung aber miteinzubeziehen, dass Angehörige bestimmter religiöser Gruppen von einem Verbot mehr betroffen seien als andere. Außerdem sei immer ein Blick auf die nationalen Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit zu werfen. Es müsse in die Abwägung einfließen, wenn diese in einem Mitgliedstaat besonders stark ausgeprägt sind – wie es in Deutschland der Fall ist.
4/5: Framing kann Urheberrechtsverletzung sein
Mittels Framing binden Dritte die Inhalte anderer, zum Beispiel Youtube-Videos, in ihre eigenen Websites ein. Der EuGH entschied im März 2021, dass das unzulässig ist, wenn der Zugang der einzubettenden Werke auf ihrer ursprünglichen Website auch schon beschränkt ist (Urt. v. 09.03.2021, Az. C 392/19).
Auch hier handelte es sich um einen Fall aus Deutschland, die Vorlage lieferte der BGH in einem Streit zwischen der klagenden Stiftung preußischer Kulturbesitz und der beklagten Verwertungsgesellschaft (VG) Bild-Kunst. Der BGH wollte vom EuGH wissen, ob Framing eine öffentliche Wiedergabe darstellt, wenn der Urheber beschränkende Maßnahmen gegen Framing getroffen hat. Das hat der EuGH bejaht und damit begründet, dass durch Framing das eingebettete Werk einem neuen Publikum zugänglich gemacht werde. Schließlich unterliege das Werk auf seiner ursprünglichen Website Beschränkungen, die den Zugang nicht für jeden möglich machten. Die Folge: Für die öffentliche Wiedergabe, sprich das Framing, braucht man die Erlaubnis der betroffenen Rechteinhaber, wenn das Werk einem neuen Publikum zugänglich gemacht wird.
5/5: Klage auf mehr Klimaschutz unzulässig
Mit ihrer Klage für strengere Klimaschutzziele in der EU scheiterten die Kläger:innen des People’s Climate Case vor dem EuGH – und zwar direkt bei der Zulässigkeit. Der EuGH betonte, dass einzelne Personen nur dann klagebefugt seien, wenn sie von einer Maßnahme individuell betroffen sind. Das sei bei den klagenden Familien aus der EU, Kenia und Fidschi nicht der Fall. Sie forderten strenge Klimaschutzmaßnahmen seitens der EU. Die EU-Klimagesetze erlaubten Treibhausgasemissionen, die jeden von ihnen auf eigene tatsächliche Weise beträfen. Einige litten besonders unter den Dürren, andere hätten mit Überschwemmungen oder Hitzewellen zu kämpfen, die durch den Klimawandel ausgelöst oder verschlimmert werden.
Dem EuGH reicht dieses Vorbringen aber nicht, um gegen eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung vorgehen zu können. Das angegriffene Gesetz betreffe die Kläger:innen nicht mehr, als alle anderen Personen. Deshalb sei die Klage unzulässig.
Sollte man kennen: Fünf wichtige EuGH-Entscheidungen 2021 . In: Legal Tribune Online, 01.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47089/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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