Der EuGH droppte die entscheidenden Punkte dieses Jahr eher in Nebensätzen und "Ja, aber…"-Entscheidungen. Das sah nicht immer spektakulär aus, hat aber weitreichende Folgen. Kurz vor Weihnachten kam noch ein Knaller dazu.
Ein paar mündliche Verhandlungen wurden im Frühjahr verschoben, aber ansonsten zeigte man sich am Europäischen Gerichtshof (EuGH) relativ unbeeindruckt von der Coronakrise. Überhaupt fuhren die Luxemburger Richter mit ruhiger Hand ihre Rechtsprechungslinie: Vorratsdatenspeicherung, Max Schrems, europäischer Haftbefehl – alles schon mal dagewesen, alles keine großen Überraschungen. Aber Achtung, es gab dann jedes Mal doch noch ein paar Anmerkungen, die man nicht übersehen sollte und die teilweise weitreichende Folgen für Politik, Justiz und Gesellschaft haben.
Einen kräftigen Schockmoment gab es allerdings in Luxemburg. Und für den sorgte das Bundesverfassungsgericht. Zwar schwelte seit Jahren die Frage nach dem Verhältnis der beiden Gerichte zueinander, doch bisher herrschte zumindest ein recht freundschaftlicher Ton – ausgerechnet das letzte Urteil, das der scheidende Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle verkündete, änderte das: "Schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar" sei die Entscheidung, mit der der EuGH, das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank gebilligt hatte. Damit machten die Karlsruher Richter zum ersten Mal Ernst mit der "ultra-vires"-Kontrolle.
Das schlug ordentlich Wellen, von einer Atombombe war die Rede, ein Kompetenzgerichtshof wurde diskutiert und alle sorgten sich um den Dialog zwischen den beiden Gerichten in Karlsruhe und Luxemburg. Am Ende verlief auch das aber irgendwie im Sand, aber vergessen ist das noch nicht. Gerade erst nutzte Generalanwalt Tanchev die Gelegenheit, um eine Entscheidung des polnischen Obersten Gerichts mit der "ultra-vires"-Entscheidung des BVerfG in einem Atemzug zu nennen – und machte so klar, dass die Karlsruher Haltung seiner Ansicht nach die Rechtsstaatlichkeit in der EU gefährlich ins Wanken bringen kann. Anstatt sich über den EuGH hinwegzusetzen, sei ein neues Vorabentscheidungsverfahren der richtige Weg, betonte Tanchev. Man darf gespannt sein, wie es im neuen Jahr in der Sache weitergeht.
Weg frei für Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung
Wenn es um Vorratsdatenspeicherung geht, weiß man eigentlich, was man vom EuGH erwarten kann: In Luxemburg hält man nicht viel davon. Die Vorratsdatenspeicherung erlaubt es Strafverfolgungsbehörden, auf Verbindungsdaten der Internet- und Telefonkommunikation zuzugreifen, private Anbieter müssen solche Daten deshalb auf Vorrat bereithalten. Viele EU-Mitgliedstaaten halten das für unverzichtbar, doch der EuGH erklärte schon 2016 in einer Grundsatzentscheidung die Vorratsdatenspeicherung für weitgehend nicht vereinbar mit den EU-Grundrechten.
Überraschend war es deshalb nicht, dass die Luxemburger Richter im Oktober auch auf drei Vorlagen aus Großbritannien, Frankreich und Belgien hin erklärten, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung sei grundsätzlich unzulässig (Urt. v. 06.10.2020, Rechtssache C-623/17 u.a.). Aber sie ließen folgenreiche Ausnahmen zu. Dabei geht es vor allem um die Terrorismusbekämpfung.
So darf zwar weiterhin nicht pauschal eine anlasslose und unbegrenzte Vorratsdatenspeicherung angeordnet werden, der EuGH erlaubt diese aber für den Fall einer gegenwärtigen oder bevorstehenden Bedrohung der nationalen Sicherheit. Für einen begrenzten Zeitraum und in einem verhältnismäßigen Rahmen dürfen dann auch private Internetanbieter verpflichtet werden, Daten vorzuhalten, auf die die Sicherheitsbehörden zugreifen können. Damit ist der Weg frei für neue Regelungen – durch den deutschen Gesetzgeber oder auch im Rahmen einer europäischen Muster-Vorratsdatenspeicherung.
Schrems II – Privacy Shield aufgehoben
Max Schrems gegen Facebook, dieses Duell um Datenschutzstandards läuft seit Jahren, nun traf man sich wieder vor dem EuGH: 2015 hatte sich der österreichische Datenschutzaktivist mit Facebook Irland angelegt und erfolgreich das "Safe Harbor"-Abkommen gekippt, das die Übermittlung europäischer Nutzerdaten auf Server in den USA ermöglichte.
Die Neuauflage von "Safe Harbor" nannte sich "Privacy Shield" und die Neuauflage der entsprechenden EuGH-Entscheidung im Juli dieses Jahres wird gerne als "Schrems II" bezeichnet. Den Sieg trug auch dieses Mal wieder der Österreicher davon: "Privacy Shield" ist ebenfalls unwirksam (Urt. v. 16.07.2020, Rechtssache C-311/18).
Die Daten europäischer Nutzer seien nicht angemessen geschützt, der nachgebesserte Ombudsmechanismus biete keinen ausreichenden Rechtsschutz, entschieden die Luxemburger Richter. Allerdings: Die sogenannten Standardvertragsklauseln, mit denen sich die jeweiligen Parteien bei Datenübermittlungen zur Einhaltung von Datenschutzstandards verpflichten, hielt der EuGH für gültig. Diese Standardvertragsklauseln sind in der Praxis ohnehin das am häufigsten eingesetzte Instrument für Datentransfers von Unternehmen zwischen EU und Drittstaaten.
Immer wieder Ärger mit dem Europäischen Haftbefehl
Ebenfalls eine ziemlich klare Haltung hat der EuGH zu den Staatsanwaltschaften in den Mitgliedstaaten. Seiner Ansicht nach sollten die eigentlich strikt unabhängig organisiert sein – in den meisten EU-Staaten ist das auch so geregelt. In Deutschland allerdings nicht, hier unterliegen Staatsanwälte auch in Einzelfällen dem Weisungsrecht durch die Justizministerien. Und das führt immer wieder zu Ärger, vor allem beim europäischen Haftbefehl.
Der beruht eigentlich auf der Idee, dass die Justizbehörden in den jeweiligen Mitgliedstaaten Entscheidungen schnell und unkompliziert anerkennen und zum Beispiel einen Tatverdächtigen ausliefern. Normalerweise machen das die Staatsanwaltschaften, in Deutschland muss allerdings schon seit 2019 jeder EHB von einem Gericht unterzeichnet werden, nachdem der EuGH entschied, dass die deutschen Staatsanwaltschaften nicht ausreichend unabhängig sind.
Nun hat der EuGH seine Rechtsprechung zur Ausstellung von EHBs auf deren Vollstreckung ausgedehnt (Urt. v. 24.11.2020, Az. C-510/19). In dem entschiedenen Fall ging es um die niederländische Staatsanwaltschaft, doch die ist als eine der wenigen ähnlich organisiert wie die deutsche – und damit ist klar, dass auch hierzulande die Staatsanwaltschaft nicht mehr selbstständig einen EHB vollstrecken kann.
Richter und Staatsanwälte fordern ohnehin schon lange eine Reform, nun wird die EuGH-Rechtsprechung dazu führen, dass sich tatsächlich etwas tut. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat bereits eine Reform angekündigt – wenn auch nur mit einer speziellen Regelung für den europäischen Bereich.
"Fack ju Göhte" und andere Probleme
Markenrecht ist ein Klassiker am EuGH und so hatten die Luxemburger Richter auch in diesem Jahr wieder einige kniffelige Fragen zu klären, zum Beispiel: Ist "Malle" eine Wortmarke? Ist sie nicht! Ist "Messi" unverwechselbar? Aber sicher ist er das und deshalb verlor der Sportartikelhersteller "Massi" gegen den Fußballstar.
Ein besonders schönes Beispiel war der Streit um "Fack ju Göhte": Die Filmtrilogie über eine Chaotenklasse und Aushilfslehrer Zeki Müller war in den vergangenen Jahren ein Riesenerfolg an den Kinokassen und so wollte die Constantin Film GmbH schon 2015 den Titel als Marke schützen lassen – etwa um Spiele und Schmuck zu vermarkten. Das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) lehnte das aber ab.
Constantin Film zog dagegen vor Gericht und so hatten letztlich die Luxemburger Richter zu klären, ob "Fack ju", also "fuck you" eigentlich wirklich "fick dich" bedeutet, also gegen die guten Sitten verstößt und deshalb nicht als Marke in Betracht käme. Nein, so der EuGH, das allgemeine deutschsprachige Publikum verstehe "Fack Ju Göhte" nicht als Verstoß gegen grundlegende moralische Werte und Normen der Gesellschaft – das EUIPO dürfe die Markeneintragung nicht einfach deswegen untersagen (Urt. v. 27.02.2020, Az. C-240/18 P).
Millionen deutschen Dieseln droht der Rückruf
Kurz vor Weihnachten kam aus Luxemburg noch eine Ansage, über die sich jetzt Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), die Beamten im Kraftfahrbundesamt und die Lobbyisten der Autoindustrie Gedanken machen müssen – die aber auch Millionen deutschen Autofahrern Kopfzerbrechen bereiten dürfte.
Nein, Autohersteller dürfen keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei Kontrollen systematisch die Leistung des Systems verbessern, um die Zulassung zu erreichen, stellte der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren aus Frankreich fest (Urt. v. 17.12.2020, Rechtssache C-693/18). So weit, so gut, dass diese Art der Software-Programmierung illegal ist, haben die deutschen Gerichte auch schon geklärt.
Aber der EuGH machte noch einen anderen Punkt: Der Einbau von Abschalteinrichtungen lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass der Motor vor Verschleiß und Abnutzung geschützt werden soll. Und das trifft VW und alle anderen geprüften Hersteller in Deutschland: Sie schalten nämlich mit genau diesem Argument die Abschalteinrichtungen bei bestimmten Temperaturen ab – und zwar nicht nur in Extremfällen, sondern etwa schon bei unter 15 Grad, also für die meiste Zeit des Jahres.
Welche Folgen das genau hat, ist noch nicht klar. Wer einen Diesel hat, könnte jedenfalls am Ende blöd dastehen, wenn er mit seinem Auto nicht fahren darf, aber auch keinen Schadensersatz bekommt. Scheuer will vorerst keinen Rückruf für Millionen Dieselautos starten, könnte dazu aber noch gezwungen werden, etwa wenn die Deutsche Umwelthilfe erfolgreich klagen würde – ob sie in derartigen Fällen klagebefugt ist, wird der EuGH voraussichtlich 2021 klären.
Sollte man kennen: 5 wichtige EuGH-Entscheidungen 2020 . In: Legal Tribune Online, 28.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43835/ (abgerufen am: 01.10.2023 )
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