Sterbehilfe, BND-Auslandsüberwachung, EZB-Urteil: Nur einige der wichtigen Entscheidungen des BVerfG aus dem Jahr 2020, das auch für das Karlsruher Gericht ein Jahr der Veränderungen war.
Laut dem chinesischen Horoskop begann im Januar 2020 das Jahr der Metallratte. Nach dem eher friedvollen Schweinejahr 2019 sollte 2020 vor allem für Neuanfang und Veränderung stehen. Und auch für das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das Jahr einschneidende Veränderungen gebracht.
Zum einen verließ nicht nur Gerichtspräsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle das Gericht, sondern auch die Amtszeit von BVR Prof. Dr. Johannes Masing endete. Der hatte zuletzt als Berichterstatter mit den Entscheidungen zum Recht auf Vergessenwerden noch das Verhältnis des Karlsruher Gerichts zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg grundlegend neu mitbestimmt.
Nach einer langwierigen und in der Außenwirkung nicht besonders glücklichen Nachfolger:innensuche wurde – durchaus überraschend – Prof. Dr. Ines Härtel als neue Richterin für das wichtige Dezernat Masings bestimmt, das über viele Zukunftsfragen des Verfassungsrechts im digitalen Raum wie Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrechte und Datenschutz zu entscheiden haben wird. An die Spitze des Gerichts rückte als neuer Präsident der frühere CDU-Politiker und Rechtsanwalt Prof. Dr. Stephan Harbarth.
Natürlich hat auch die Coronapandemie das Gericht gezwungen, seine Arbeit neu zu organisieren: Mehr Home-Office für die Richterinnen und Richter, ein Zwei-Schichtsystem. Es galt, die Arbeitsfähigkeit von Deutschlands höchstem Gericht aufrecht zu erhalten. Denn auch im Jahr 2020 gab es zahlreiche wegweisende Entscheidungen aus Karlsruhe.
1/5: Selbstbestimmung bis in den Tod
Im Februar erklärte das BVerfG das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Strafgesetzbuch (StGB) nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch gleich für nichtig. Die Norm war damit außer Kraft gesetzt (BVerfG, Urt. v. 26.02.2020, Az. 2 BvR 2347/15; 2 BvR 651/16; 2 BvR 1261/16).
Man habe es sich nicht leicht gemacht, sagte der damals noch amtierende Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Schon als der Strafrechtsparagraph im Jahr 2015 beschlossen worden war, hatte es heftige Debatten im Bundestag gegeben. Die Norm bestraft die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Neben professionellen Sterbehilfeorganisationen, die ihre Arbeit in Deutschland seit dem Inkrafttreten der Norm eingestellt haben, hatten auch Ärztinnen und Ärzte und schwerstkranke Menschen Verfassungsbeschwerden erhoben. Die Ärzte fürchten, sich nach § 217 StGB strafbar zu machen, wenn sie Patienten beim Freitod helfen.
Der Zweite Senat des BVerfG hat mit seinem Urteil nun für Hoffnung auf Rechtssicherheit bei Sterbewilligen, Ärztinnen und Ärzten sowie Sterbehilfevereinen gesorgt. Denn das Urteil trägt sehr grundsätzliche Züge und stellt die Autonomie des Menschen in den Mittelpunkt, abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs 1 GG. "Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde." Und die Entscheidung "des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren." Die Strafrechtsnorm des § 217 StGB verenge dieses Recht so sehr, dass dem Einzelnen praktisch keine Möglichkeit mehr bleibe, diese Freiheit wahrzunehmen.
So progressiv das Urteil des BVerfG auch ausfällt, es wird wie immer auf die Umsetzung ankommen. Das BVerfG betont, dass der Gesetzgeber Suizidhilfe durchaus regulieren dürfe, aber eben nur im Rahmen der von ihm ausbuchstabierten Autonomie. Dem Gesetzgeber stehe "in Bezug auf das Phänomen organisierter Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen". Auch die denkbaren Instrumente sind nicht neu: Aufklärungs- und Wartepflichten, um die Ernsthaftigkeit der Entscheidung des Sterbewilligen abzusichern, oder Erlaubnisvorbehalte für Suizidhilfeangebote. Passiert ist noch nichts. Und es bleibt nur Unsicherheit. Vor allem für die, die keine Zeit dafür haben.
2/5: EZB und EuGH über die Karlsruher Schmerzgrenze hinaus
Spektakulärer hätte der Abschied von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle kaum ausfallen können. Erstmals in seiner Geschichte stellte das BVerfG im Mai fest, dass Handlungen und Entscheidungen von EU-Organen offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien und deshalb in Deutschland keine Wirkung entfalten könnten (Urt. v. 05.05.2020, Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Es war die letzte BVerfG-Entscheidung, die Voßkuhle als Präsident des Gerichts verkündete. Und die hatte es in sich.
Für eine solche sogenannte ultra-vires-Feststellung reicht nicht jede Kompetenzüberschreitung, sondern das Handeln der Unionsgewalt muss aus Sicht der BVerfG-Richterinnen und Richter offensichtlich kompetenzwidrig sein. Ein Zeugnis, das der Zweite Senat der Arbeit der Europäischen Zentralbank (EZB) ausstellte und der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) noch gleich dazu.
Auf eine Kurzformel gebracht sehen die Richterinnen und Richter des BVerfG ein unheilvolles Zusammenspiel zwischen einem EU-Organ mit weitreichenden Handlungsspielräumen (die EZB) und einem eigentlich zur Kontrolle berufenen Gericht (der EuGH), dessen Prüfung aber großzügig ausfällt. Dadurch drohe dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Gefahr. Und es "eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten", wie es in dem Urteil heißt.
Die Botschaft war deutlich: Wenn der EuGH seine Prüfung aus Sicht des BVerfG nicht ausreichend durchführt, dann bleibt am Ende nur noch das BVerfG.
Zwar blieben die praktischen Auswirkungen überschaubar, die EZB durfte ihre Abwägungen nachholen. Aber die Entscheidung sorgte für Verunsicherung, sie schickte regelrecht Schockwellen über das politische Europa. Zwischenzeitlich drohte Deutschland ein EU-Vertragsverletzungsverfahren. Das BVerfG bemühte sich nach der Entscheidung öffentlich um Deeskalation. Ob der Kläger und langjährige CSU-Politiker Peter Gauweiler das Verfahren möglicherweise noch weiter treiben kann, ist auch zum Ende des Jahres noch offen.
3/5: Ein Grundrecht gegen Überwachung gilt auch im Ausland
Wesentliche Regelungen zur strategischen Fernmeldeaufklärung im Ausland durch den Bundesnachrichtendienst (BND) sind verfassungswidrig, entschied das BVerfG im Mai (Urt. v. 19.05.2020, Az. 1 BvR 2835/17).
Bei der sogenannten Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung durchforstet der Auslandsnachrichtendienst BND ohne konkreten Verdacht große Datenströme auf interessante Informationen etwa zu Terrorismus oder Gefahren für deutsche Soldatinnen und Soldaten im Ausland. Dagegen geklagt haben ausländische Journalistinnen und Journalisten, die befürchten, ebenfalls überwacht zu werden.
Verknappt lässt sich das Urteil aus Karlsruhe folgendermaßen zusammenfassen: Die Regeln zur strategischen Fernmeldeaufklärung im BND-Gesetz leiden an einem schwerwiegenden Konstruktionsfehler. Denn die Richter des Ersten Senats entschieden zum ersten Mal so ausdrücklich, dass der deutsche Staat in seinem Handeln immer an die Grundrechte gebunden ist – "unabhängig davon, an welchem Ort, gegenüber wem und in welcher Form", also auch im Ausland. Sie begründeten das mit den neuen technischen Möglichkeiten und der weltweiten Vernetzung von Kommunikation. Und mit dieser Ausweitung des Grundrechtsschutzes auch für Ausländer im Ausland war gleichsam das Urteil über das BND-Gesetz gesprochen, das, als es 2016 geschaffen wurde, ohne diese Maßgabe entstanden ist.
Die unmittelbaren Folgen für die Arbeit des BND sind zunächst begrenzt. Denn die Karlsruher Richter ließen die Regelungen trotz Verfassungswidrigkeit fortgelten. Und sie betonten auch mit ähnlich eindringlichen Worten wie zuvor die Regierungsvertreter in der mündlichen Verhandlung "das überragende öffentliche Interesse an einer wirksamen Auslandsaufklärung" und die unverzichtbare Bedeutung des Instruments, auch in der vollen Breite einer anlasslosen Massenüberwachung. Nachbessern muss der Gesetzgeber aber an zahlreichen Einzelregelungen: Beim Schutz von besonderen Vertrauensverhältnissen wie zwischen Anwälten und ihren Mandanten oder Journalisten und ihren Quellen, bei der Kontrolle der Überwachung durch ein neues "gerichtsähnliches" Gremium und beim strenger zu regelnden Datenaustausch mit anderen Geheimdiensten.
Bis zum Jahresende 2021 hat das BVerfG dem Gesetzgeber Zeit eingeräumt, die Auslandsfernmeldeaufklärung des BND neu zu regeln. Und der hat schonmal eine Vorlage geliefert, Mitte Dezember beschloss das Kabinett eine entsprechende Novelle. Dabei handelt es sich wohl um eine möglichst passgenaue Minimalumsetzung des BVerfG-Urteils, die bis zum Ende der Legislatur und damit bis zum Ende der Frist durch den Bundestag soll. Vertreter der Beschwerdeführerinnen und -führer gegen die gekippten Regelungen haben schonmal in Aussicht gestellt, dass sie durchaus auch noch einmal klagen wollen.
4/5: Was Politiker noch sagen dürfen müssen
Eine echte Überraschung war die Entscheidung nicht. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) durfte die AfD zwar als "staatszersetzend" bezeichnen – das dazugehörige Interview hätte aber nicht auf der Internetseite des Ministeriums veröffentlicht werden dürfen. Das hat das BVerfG im Juni entschieden (Urt. v. 09.06.2020, Az. 2BvE 1/19). Die Karlsruher Richterinnen und Richter blieben damit bei der Linie, die sie schon in zwei Entscheidungen zu Äußerungen der Ex-Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) und der Ex-Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) angelegt hatten. Person, Politik und Regierungsamt müssen getrennt werden – zumindest formal.
Schon bei der mündlichen Verhandlung hatte Andreas Voßkuhle als Vorsitzender des Zweiten Senats gesagt, der Fall sei "in seiner rechtlichen Dimension überschaubar". Bei der Urteilsverkündung führte er aus, die Chancengleichheit der Parteien sei immer dann verletzt, "wenn Inhaber eines Regierungsamtes die Autorität des Amtes und die mit ihm verbundenen Mittel und Möglichkeiten in spezifischer Weise nutzen, um zielgerichtet zugunsten oder zulasten einer politischen Partei am Meinungskampf mitzuwirken".
Ob das Urteil aber als Äußerungs-Anleitung bei der Bundesregierung angekommen ist, scheint nicht so klar. Die AfD reichte gegen Äußerungen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Ministerpräsidentenwahl von Thomas Kemmerich (FDP) in Thüringen Organklage beim BVerfG ein: Merkels Äußerungen wurden auch auf der Internetseite der Kanzlerin veröffentlicht. Mittlerweile sind sie dort gelöscht worden.
5/5: Bestandsdatenauskunft und eine verfassungsrechtliche Stunt-Einlage
Im Juli traf das BVerfG eine Entscheidung, die durchaus absehbar war – aber unangenehme Konsequenzen für ein Prestige-Projekt der Bundesjustizministerin hat. Die Karlsruher Richterinnen und Richter erklärten die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten auf persönliche Daten von Handy- und Internetnutzern zur Strafverfolgung und Terrorabwehr für zu weitgehend, und damit den für zahlreiche Sicherheitsgesetze wichtigen § 113 des Telekommunikationsgesetzes (TKG) für verfassungswidrig (Beschl. v. 27.05.2020, Az. 1 BvR 1873/13 u.a.). Die TKG-Regelung und ihre Entsprechungen etwa in Gesetzen für die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt und die Nachrichtendienste verletzten das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und das Telekommunikationsgeheimnis.
Die Regelungen waren nach einem ersten Urteil des BVerfG von 2012 schon einmal überarbeitet worden. Mit dem aktuellen Beschluss des BVerfG ist nun klar, dass das reformierte Gesetz immer noch nicht den damals gestellten Anforderungen genügt. Die Karlsruher Richter bekräftigen in ihrer Entscheidung zwar, dass die Auskunft über Bestandsdaten grundsätzlich zulässig ist. Voraussetzung dafür müsse aber das Vorliegen einer konkreten Gefahr oder der Anfangsverdacht einer Straftat sein. IP-Adressen, die Rückschlüsse auf die Internetnutzung zulassen, genössen dabei sogar besonderen Schutz.
Auch das Prestige-Projekt von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), das sogenannte Gesetz gegen Hasskriminalität, setzt auf die Bestandsdatenauskunft. Und nach der Entscheidung des BVerfG war klar, dass der Gesetzgeber bei diesem Gesetz, grob zusammengefasst, die gleichen Fehler gemacht hat wie beim TKG. Und zwar so offensichtlich, dass der Bundespräsident das Gesetz wegen verfassungsrechtlicher Zweifel nicht ausfertigte.
Dem BMJV blieb nichts anderes übrig, als auf die Reparatur durch das für die Bestandsdatenauskunft zuständige Bundesinnenministerium zu warten. Das hat nun ein Reparaturgesetz vorgelegt, mit dem das Hatespeech-Gesetz geändert werden soll, obwohl es noch gar nicht in Kraft getreten ist. Auch das BMJV setzt offenbar darauf, dass der Bundespräsident dann beide Gesetze direkt nacheinander ausfertigt, sodass beide im selben Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden können. Eine regelrechte verfassungsrechtliche Stunt-Einlage.
Sollte man kennen: 5 wichtige BVerfG-Entscheidungen 2020 . In: Legal Tribune Online, 22.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43814/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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