War Weimar wirklich ein "Verfassungslaboratorium"? Das ist umstritten. Ohne Zweifel bot aber die seit dem 6. Februar 1919 tagende Nationalversammlung ein spannungsreiches Forum politischen und verfassungsrechtlichen Denkens in Deutschland.
Um 15.15 Uhr war man zusammengetreten, um 16.26 Uhr vertagte man sich schon wieder auf den nächsten Tag – und dies war keinesfalls ein Anzeichen für schlechte parlamentarische Arbeitsmoral.
Keine drei Wochen nach ihrer Wahl kamen ab dem 6. Februar 1919 die Abgeordneten der Nationalversammlung in Weimar zusammen. Friedrich Ebert (1871–1925), dem als Führer der Mehrheits-SPD im November 1918 die Reichsregierung zugefallen war, hielt eine kurze Rede, in der er sich bemühte, die revolutionären Erwartungen seiner Anhänger und der nationalen Seite zusammenzuführen: "Wir wollen errichten ein Reich des Rechtes und der Wahrhaftigkeit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt", zitierte er den Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) – ein Wort, auf das sich später auch andere Abgeordnete berufen sollten.
Als Alterspräsident leitete sein Genosse Wilhelm Pfannkuch (1841–1923), der als Kind noch Zeuge der bürgerlichen Revolution von 1848/49 wurde, die Sitzung, bis am Folgetag Dr. Eduard David (1863–1930), ein weiterer Sozialdemokrat, zum ersten Präsidenten der Nationalversammlung gewählt wurde.
Eine fleißige parlamentarische Körperschaft
Bereits am 10. Februar 1919 beschloss die Nationalversammlung das "Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt". Es regelte das Verfahren, in dem die Nationalversammlung bis zum Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung am 14. August 1919 einfache Reichsgesetze erließ. Auch wählte sie am 11. Februar 1919 Friedrich Ebert auf seiner Grundlage zum Reichspräsidenten.
Die linken Sozialdemokraten (USPD) beantragten erstmals erfolglos, den Begriff "Reich" zu beseitigen. Vertreter bürgerlicher Fraktionen monierten, dass das Gesetz nicht zuvor durch die Ausschuss-, im damaligen Sprachgebrauch: Kommissionsberatungen geschleust worden war. Doch stritten die zumeist parlamentserfahrenen Abgeordneten zivil nach der Geschäftsordnung, die sie einfach vom alten Reichstag übernommen hatten.
Alterspräsident Pfannkuch und der erste gewählte Sitzungsleiter David ließen ungezählte Glückwunschtelegramme an die Nationalversammlung verlesen. Begeisterung lösten – rechts wie links – die vielfach geäußerten Wünsche von Österreichern aus, möglichst bald zum neuen "Großdeutschland" gehören zu dürfen – dies zerschlug sichjedoch an den Vorgaben der Siegermächte.
Am 7. Februar 1919 lachte die Nationalversammlung: Ein Kapitän a.D. und Fabrikherr aus Babelsberg hatte seinen Wunsch telegraphiert, man möge unverzüglich den Generalfeldmarschall von Hindenburg zum provisorischen Reichspräsidenten wählen. Noch in der Kurznachricht klingt, zur Belustigung der Sozialdemokraten, die am Wahlergebnis vorbeischnarrende Großsprecherei des Petenten an, unverkennbar ein Unteroffizier der Reserve. Zur Erheiterung des ganzen Hauses führte gleich darauf, dass eine gute Seele aus Schweden telegraphierte, der "bei Freund und Feind" angesehene Manager der Kriegswirtschaft, Walther Rathenau (1867–1922), solle Reichspräsident werden.
Weimarer Republik war mehr als ihr eigener Untergang
Die Weimarer Republik bot bekanntlich nicht lange Grund für heitere Gefühle. In der Bundesrepublik Deutschland sollte es allein Helmut Kohl (1930–2017) auf über 5.800 Tage im Kanzleramt bringen – zwischen dem revolutionären 9. November 1918 und dem Tag der Machtübergabe an Hitler gingen hingegen keine 5.200 Tage ins Land. Es ist wegen ihrer Kürze üblich geworden, die Weimarer Republik von ihrem scheußlichen Ende her zu betrachten. Die Arbeit ihrer Nationalversammlung ist erst recht in Vergessenheit geraten.
Der Bielefelder Staatsrechtslehrer Christoph Gusy hat sich in einem instruktiven Aufsatz in der Zeitschrift "Der Staat" (55, 2016, S. 291–318) dagegen ausgesprochen, die Verfassung von Weimar als geschichtsmoralische Kulisse der Gegenwart zu gebrauchen: Es spreche nichts dafür, dass die Weimarer Reichsverfassung "den Untergang der Republik verursacht hat. Und es spricht auch nicht viel dafür, dass sie den Untergang hätte verhindern können."
Als Gründe, an denen die Republik scheiterte, nennt Gusy unter anderem einen Mangel der zentralen politischen Akteure, sich an grundlegende Regeln der politischen Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte im Rahmen der Verfassung zu halten, und den fehlenden Willen, die eigene Position sowie jene des politischen Gegners als konkrete, in einem gemeinsam betriebenen Gestaltungsprozess zu berücksichtigende Alternative zu achten.
Nationalversammlung: Hexenkessel der verfassungspolitischen Alternativen
Während der Parlamentarische Rat 1948/49 eine ruhige, ja eher langweilige Sacharbeit leistete, in der sich in gewisser Weise schon der vergleichsweise bürokratische Gang ankündigte, in dem die Bundesrepublik Deutschland und ihr Parlament seither das politische Geschäft erledigen, glich die Weimarer Nationalversammlung einem Hexenkessel der verfassungspolitischen Probleme und Alternativen.
Als äußerst anregender Kopf dieser Diskussionen findet sich in den Stenographischen Berichten der Nationalversammlung stets von neuem der USPD-Abgeordnete Oskar Cohn (1869–1934), Rechtsanwalt in Berlin und Sozius der Brüder Liebknecht. Seine Bei- und Anträge zwangen Hugo Preuß (1860–1925), der als Vertreter des linken Flügels der Deutschen Demokratischen Partei im Auftrag Eberts den Entwurf zur Reichsverfassung ausgearbeitet hatte, immer wieder dazu, die Position der Mehrheitsfraktionen zu verteidigen.
Heutige Juristinnen und Juristen kennen nur die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen, zum Beispiel aus dem Vergleich der starken Stellung des Reichspräsidenten und der eher staatsnotariellen Funktion des Bundespräsidenten. Aber schon bei der Beratung zum "Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt", das die Kompetenzen des Reichspräsidenten provisorisch regelte, schlugen Cohn und seine Fraktion beispielsweise vor, nicht eine einzelne Person zum Staatsoberhaupt zu wählen, sondern nach dem Vorbild der Schweiz ein fünfköpfiges Reichspräsidium zu schaffen. Anders als den Franzosen oder Amerikanern fehlten, so Cohn, dem "geistig uniformierten Bürgertum" in Deutschland die "Voraussetzungen einer demokratischen Kultur und Tradition"oder seien ihm verloren gegangen.
In der Auseinandersetzung um die Diktaturrechte des Reichspräsidenten beantragte der SPD-Abgeordnete Simon Katzenstein (1868–1945), dem Staatsoberhaupt die Notstandsbefugnisse aus Artikel 48 Weimarer Reichsverfassung nur zur "Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit" und nicht bereits bei "Störungen und Beeinträchtigungen" der öffentlichen "Ordnung" einzuräumen. Cohn sekundierte ihm mit dem Argument, dass der frühere militärische Belagerungszustandden Vorzug gehabt habe, dass die Befehlshaber, so einschneidend sie auf seiner Grundlage in die Freiheitsrechte hatten eingreifen dürfen, als Offiziere immerhin an das allgemeine positive Recht gebunden waren. Der Reichspräsident werde nun von solchen Bindungen freigestellt.
Doch der frühe Versuch, die Diktaturbefugnisse des Reichspräsidenten kleinzuhalten, scheiterte an der Mehrheit der Versammlung – ebenso wie der eher skurrile Vorschlag des Abgeordneten Gerhart von Schulze-Gaevernitz (1864–1943), das ausländische Wort "Präsident" in einen "Reichswart" einzudeutschen.
Bei der Wiederaufnahme des Streits, ob die Verfassung den Staat als "Deutsches Reich" oder als "Deutsche Republik" bezeichnen sollte, provozierte Cohn nicht nur eine brave Gegenrede des Verfassungsvaters Preuß. Der konservative Abgeordnete Clemens von Delbrück (1856–1921) monierte zudem, die republikanische Verfassung zeige als solche ohnehin schon ein "hippokratisches Gesicht" – den Gesichtsausdruck eines Sterbenden. Derlei könne man dem Andenken an den Bismarck-Staat nicht antun.
Konservativer: Frauen, nun haben sie die Verantwortung!
Die Abgeordneten stritten sich mit scharfem Witz und Sachverstand durch viele verfassungsrechtliche Positionen – hatten gelegentlich aber auch in bemerkenswerter Form ihren Frieden mit erledigten Fragen gemacht. Sprach beispielsweise Philipp Scheidemann (SPD, 1865–1939) noch mit hohem Pathos davon, dass von den nunmehr wahlberechtigten Frauen – als jenem Geschlecht, das seit Urzeiten keine Waffen geführt habe – nun eine menschlichere Gesellschaft zu erwarten sei, erklärte derkonservative Abgeordnete Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845–1932): "Nun gut, die Frage [des Frauenwahlrechts, MR] ist ja entschieden! Ich meine aber, jetzt haben die Frauen nicht nur das Recht zur politischen Mitarbeit, sondern sie haben auch die Pflicht, weil sie die Mehrheit unseres Volkes bilden und deshalb einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung unserer Geschicke ausüben können."
Stenographische Berichte der Nationalversammlung
Examensrelevantes Wissen bieten Übersichten wie der Beitrag von Kai von Lewinski: "Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz als Gesellen- und Meisterstück" (Juristische Schulung 2009, S. 505–510). Manche Werke, zum Jubiläumsjahr publiziert, bleiben hinter den Erwartungen zurück.
So reichhaltig, wie die Stenographischen Berichte der Nationalversammlung ausfallen, wäre eine Leselust weckende, dramaturgisch-dokumentarische Auswahl im Umfang von Karl Kraus‘ "Die letzten Tage der Menschheit" wünschenswert. Denn kaum jemals sonst wurde so reizvoll über verfassungsrechtliche und -politische Alternativen gestritten wie in den ersten Monaten unserer Demokratie – seit dem 6. Februar 1919.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist.
100 Jahre Weimarer Verfassung: . In: Legal Tribune Online, 06.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33695 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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