Am 29. September hat der Bundestag ein neues Wahlrecht gebilligt – vier Monate später als vom BVerfG angeordnet und erstmals in der Geschichte im Zwist zwischen Bundesregierung und Opposition. Das Überleben des Gesetzes hängt nun vor allem davon ab, für wie real die Verfassungsrichter die Gefahr des "negativen Stimmgewichts" halten werden. Von Sebastian Roßner.
Nach der Abstimmung im Parlament zum neuen Bundeswahlgesetz (BWG), in der die Gesetzesvorschläge von SPD und Grünen erwartungsgemäß keine Mehrheit fanden, kündigten Vertreter der Oppositionsfraktionen bereits an , gegen die beschlossene Wahlrechtsreform vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu klagen.
Auslöser der Auseinandersetzungen ist ein Spruch aus Karlsruhe: Am 3. Juli 2008 hatten die Verfassungsrichter das BWG in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 30. Juni 2011 eine Neuregelung zu treffen (Az. 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07). Stein des verfassungsrechtlichen Anstoßes war dabei das so genannte negative Stimmgewicht. Damit wird eine Paradoxie des Wahlrechts bezeichnet, die bewirkt, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Mandaten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Gewinn an Mandaten führt. Das Gericht bewertete dies als einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl.
Verbundene Landeslisten sind im neuen Recht Geschichte
Zum Effekt des negativen Stimmgewichts konnte nach dem alten Wahlrecht bei der Verteilung der gewonnenen Mandate auf die verbundenen Landeslisten kommen, falls Überhangmandate mit im Spiel waren. Diese treten auf, wenn einer Partei nach dem Verhältnis der Zweitstimmen weniger Mandate zustehen, als sie über die Erststimmen an Direktmandaten gewonnen hat.
Nach den frisch beschlossenen Änderungen des BWG soll das Problem des negativen Stimmgewichts dadurch gelöst werden, dass man zunächst die Bundestagsmandate auf die Bundesländer verteilt, und zwar nach dem Verhältnis der in jedem Land abgegebenen Stimmen (Oberverteilung). Eine im Ländervergleich hohe Wahlbeteiligung in einem Land erhöht also dessen Sitzkontingent auf Kosten eines anderen Landes. Diese Sitzkontingente werden dann innerhalb der jeweiligen Länder auf die Parteien verteilt (Unterverteilung).
Es gibt nach neuem Recht also keine verbundenen Landeslisten mehr. Reststimmen, die innerhalb eines Landes nicht zu einem vollen Mandat ausreichen, werden aber in einem zweiten Verrechnungsverfahren auf Bundesebene zusammengeführt und können so zu weiteren Mandaten für die betreffende Partei führen. Auch nach dem neuen Recht verbleiben einer Partei die gewonnenen Überhangmandate, ohne dass die anderen Parteien Ausgleichsmandate erhalten, die eine Sitzverteilung nach den Anteilen der gewonnenen Zweitstimmen wiederherstellen würde.
Kein Verlass aus bestimmtes Wahlverhalten
Nach Ansicht der Opposition entspricht das neue Gesetz den Anforderungen des Verfassungsgerichts nicht, da immer noch ein negatives Stimmgewicht auftreten könne. Dies trifft zu, wie die Begründung des Regierungsentwurfs auch freimütig zugibt (Bundestagsdrucksache 17/6290 S. 8 f.).
Allerdings behauptet die Gesetzesbegründung zugleich, es müsse ein ganz unwahrscheinliches Stimmverhalten der Wähler vorliegen, damit nach dem neuen Recht der Effekt des negativen Stimmgewichts eintritt. Der Gesetzgeber sei deshalb nicht verpflichtet, diese Konstellation berücksichtigen.
Dazu ist anzumerken, dass Aussagen über die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Wahlverhaltens generell problematisch sind. Hinzu kommt, dass die Neuregelung mit der neuen Oberverteilung der Mandate unter den Ländern sogar eine weitere Möglichkeit für die Entstehung negativen Stimmgewichts geschaffen hat: Wird etwa in Hessen eine Stimme für die SPD abgegeben, die dafür sorgt, dass vom Sitzkontingent in Sachsen ein Mandat nach Hessen verschoben wird, so kann der Fall eintreten, dass das verschobene Mandat der sächsischen SPD verlorengeht und in Hessen an eine andere Partei fällt.
Vorschläge der Parteien auch von Machtchancen motiviert
Nun haben weder die Regierung noch die Opposition ein Interesse daran, das negative Stimmgewicht beizubehalten. Eine Rolle spielt aber das Motiv der Machtchancen bei zukünftigen Bundestagswahlen: So verteidigen die Unionsparteien die Einrichtung der nicht ausgeglichenen Überhangmandate auch deshalb mit Nachdruck, weil sie sich davon Profit bei der Sitzverteilung im Bundestag versprechen können. Die Möglichkeit, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts auftaucht, nehmen sie dabei notgedrungen in Kauf.
Die Opposition dagegen will die Überhangmandate entweder wegfallen lassen (Grüne) oder ausgleichen (SPD, Linke), um die Mandatsverteilung im Bundestag proportional zu den Zweitstimmen zu gestalten. Weil bei Wahlen der Schaden des politischen Gegners der eigene Nutzen ist, darf man deshalb auch hier annehmen, dass die mutmaßliche Verbesserung eigener Machtchancen auf Kosten der Union von der Opposition zumindest mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wird.
Die Linke zielte mit ihrem Gesetzentwurf auf eine deutlich umfangreichere Reform des Wahlgesetzes als die anderen Parteien. Sie schlug eine Ausweitung der Wahlberechtigung auf seit längerem legal in Deutschland lebende Ausländer, eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre und die Abschaffung der Fünf-Prozent-Sperklausel vor, wodurch auch kleinere Parteien zukünftig im Bundestag vertreten wären. Diese Änderungen hätten zu einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse geführt, die im Einzelnen zwar schwer vorherzusehen ist, von der sich die Linke aber eine gewisse Verbesserung ihrer Aussichten hätte versprechen durfte.
Einen weiteren Vorschlag der Linken hätten sich dagegen alle Parteien ganz altruistisch an ihre Fahnen heften können: Die Einführung eines wirksamen Rechtsschutzverfahrens für solche Parteien, die von der Bundeswahlkommission nicht zur Bundestagswahl zugelassen worden sind. Hier gibt es einen echten Missstand, denn das geltende Verfahren ist notorisch erfolglos. Eine nicht zugelassene Partei muss nämlich in einem ersten Schritt ein Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 GG beim Bundestag durchführen, bevor sie Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen kann. Da dies erst nach den Wahlen zulässig ist, kommt eine Entscheidung aus Karlsruhe stets um Jahre zu spät. Zudem gibt das Gericht einer Beschwerde nur statt, wenn der Wahlfehler die Zusammensetzung des Bundestages beeinflusst. Dies kann eine Partei, die nicht zu den Wahlen antreten konnte, naturgemäß kaum nachweisen.
Nur breiter politischer Konsens sichert Akzeptanz von Wahlgesetzen
Bei dem bereits angekündigten Gang nach Karlsruhe gegen das neue Gesetz kann die Opposition zunächst das Fortbestehen des negativen Stimmgewichts rügen. Dieser Angriff ist erfolgversprechend, denn immerhin hat das BVerfG aus diesem Grunde vor drei Jahren bereits das alte BWG in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Allerdings hat das Gericht seinerzeit auch angedeutet, dass ein nur in seltenen Ausnahmefällen auftretender Effekt bei der verfassungsrechtlichen Bewertung des Wahlrechts vernachlässigt werden kann. Hierin liegt für die Regierungsfraktionen eine gewisse Chance, ihr Gesetz zu verteidigen. Es wird also entscheidend darauf ankommen, für wie wahrscheinlich die Karlsruher Richter das Auftreten des negativen Stimmgewichts nach dem neuen BWG halten werden.
Weiterhin kann die Opposition vortragen, dass die – angesichts der bisherigen Wahlergebnisse sehr wahrscheinliche – Entstehung von nicht ausgeglichenen Überhangmandaten die Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz verletzt. Zwar hat Karlsruhe die Überhangmandate 1997 für verfassungsgemäß erklärt (Urt. v. 10.04.1997, Az. 2 BvF 1/95), die Entscheidung war damals allerdings innerhalb des Verfassungsgerichts umstritten und erging mit vier zu vier Stimmen. Wie die Mehrheitsverhältnisse bei der heutigen Zusammensetzung des Senats ausfielen, lässt sich schwer abschätzen.
Wie auch immer Karlsruhe entscheiden wird, das neue Wahlrecht hat kein langes Leben zu erwarten, da es von einem wesentlichen Teil der politischen Kräfte nicht mit getragen wird. Hierin, und nicht in der Leichtfertigkeit, mit der der Bundestag eine vom BVerfG generös bemessene Frist zur Neuregelung verstreichen ließ, liegt das eigentliche Problem: Das Wahlrecht ist die zentrale Spielregel des demokratischen Wettbewerbs. Deshalb sollte ein Wahlgesetz nach seiner Verabschiedung des politischen Streits enthoben sein und sich auf einen breiten politischen Konsens stützen können, der seine Kontinuität und Akzeptanz sichert.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.
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Sebastian Roßner, Wahlrechts-Reform verabschiedet: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4438 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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