Der Bundestag wird immer größer, teurer und unübersichtlicher. Das Wahlrecht müsste dringend reformiert werden. Vorschläge gibt es genug - bisher können sich die Parteien aber nicht einigen.
Wer hat mehr Abgeordnete - der Deutsche Bundestag, das EU-Parlament oder der Nationale Volkskongress in Peking? Noch ist der Volkskongress mit 2975 Delegierten mit Abstand das größte Parlament, es folgen das EU-Parlament mit 751 und der Bundestag mit 709 Abgeordneten. Zumindest theoretisch könnte der Bundestag beide aber deutlich übertrumpfen. Jedenfalls wenn es bei dem bisher geltenden und derzeit hoch umstrittenen Wahlmodus bleibt.
Den Extremfall rechnet die Düsseldorfer Professorin für Öffentliches Recht Sophie Schönberger vor: Wenn bei der nächsten Bundestagswahl eine Partei alle Direktmandate gewönne, zugleich aber nur fünf Prozent der Zweitstimmen holte, dann hätte der Bundestag 5980 Mitglieder. Das Beispiel ist abwegig, doch auch bei realistischen Zahlen bleibt das Problem, dass der Bundestag immer weiter aufgebläht wird: Würde eine Partei alle Direktmandate gewinnen sowie dreißig Prozent der Zweitstimmen, müsste der Bundestag auf 997 Mitglieder anwachsen, um die so entstehenden Überhangmandate auszugleichen.
Ein derart großer Bundestag wäre teuer, kaum noch arbeitsfähig und es ließe sich den Wählern auch nicht vermitteln, warum sich die Bundesrepublik ein größeres Parlament leistet als jeder andere demokratische Staat. Schönberger fordert deshalb ein ganz neues Modell. "Das Wahlrecht ist in der Krise", warnte sie auf einer Kurztagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission in Berlin: "Der Reformbedarf ist doch offensichtlich." Und das sieht nicht nur sie so. Verfassungsrichter, Politiker und Rechtswissenschaftler teilen ihre Ansicht. Es gibt inzwischen zahlreiche Vorschläge für mehr oder weniger umfassende Reformen.
Schäuble: Bundestag muss eine Lösung finden
Das Problem hat sich wegen des veränderten Wählerverhaltens in den vergangenen Jahren zugespitzt: Die ehemals großen Volksparteien Union und SPD verlieren Stimmen, kleinere Parteien werden stärker und viele Wähler legen sich nicht mehr langfristig auf eine Partei fest. Zugleich holen CDU und CSU – meist mit knappen Mehrheiten – noch immer die meisten Wahlkreise. Diese direkt gewählten Kandidaten ziehen unmittelbar in den Bundestag ein. So entstehen die so genannten Überhangmandate - also Direktmandate, die über die Listenplätze der jeweiligen Parteien hinausgehen.
2013 entschied sich der Gesetzgeber schließlich dafür, alle Überhangmandate durch zusätzliche Listenplätze für die anderen Parteien auszugleichen, mit der Folge, dass der Bundestag inzwischen größer ist als je zuvor. Diesen Effekt möchten alle Parteien wieder ausräumen, doch auf eine Reform können sich die Fraktionen im Bundestag bisher nicht einigen. Die Interessen der Parteien sind zu unterschiedlich.
Unterschiedliche Interessen der Parteien
Eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) war im April gescheitert. Die Union will möglichst alle 299 Wahlkreise erhalten und wieder Direktmandate ohne einen Ausgleich zulassen. Manche können sich sogar ein sogenanntes Grabenwahlsystem vorstellen, bei dem die Hälfte der Bundestagssitze nach einem reinen Mehrheitswahlsystem vergeben würde, die andere Hälfte im Wege der Verhältniswahl. Dieses Modell brachte der CDU-Rechtspolitiker Günter Krings gerade wieder ins Gespräch. Es ist allerdings untragbar für alle anderen Fraktionen, weil es einseitig die Union begünstigen würde.
Sowohl die SPD wie auch die Opposition wollen lieber die Zahl der Direktmandate reduzieren und möglichst mehr Plätze über die Liste vergeben - dagegen sperren sich wiederum CDU und CSU.
Ein Kompromissvorschlag Schäubles mit 270 Wahlkreisen und 15 Direktmandaten ohne Ausgleich fand weder in der Opposition noch in den eigenen Reihen Zustimmung. Schäuble warnte dennoch auf der Tagung davor, Reformen weiter aufzuschieben: "Für das Ansehen des Parlaments ist es unerträglich, dass wir nicht in der Lage sind, das Problem zu lösen." Auch Tagungsleiter und Bundesverfassungsrichter Andreas Paulus, sagte, ein immer größeres Parlament werde irgendwann "unübersichtlich". Schließlich sollten dem Bundestag regulär nur 598 Abgeordnete angehören.
Nur noch eine Stimme …
Schönberger schlägt einen Wechsel zum Einstimmenwahlrecht vor - schon weil das aktuelle Zweistimmensystem kaum jemand wirklich verstehe. Nach ihrem Modell würden die Parteien einen Kandidaten pro Wahlkreis bestimmen und zugleich wie bisher feste Landeslisten erstellen. Der Wähler gibt seine Stimme also dem Wahlkreiskandidaten seiner Partei und stimmt damit zugleich für deren Landesliste. Nach der Wahl werden zunächst alle Stimmen zusammengerechnet, die eine Partei bundesweit erhalten hat - danach bestimmt sich der Anteil der Sitze, die diese Partei im Bundestag erhält. Doch die Verteilung dieser Sitze wäre neu: Zur Hälfte über die Landesliste, zur anderen Hälfte an die Wahlkreisbewerber mit den besten Ergebnissen in ihrem Bundesland.
Damit bliebe es bei den bisherigen 299 Wahlkreisen und einer festen Größe von 598 Abgeordneten im Bundestag. Mit diesem System käme es nicht mehr auf die relative Mehrheit im Wahlkreis an, sondern auf ein möglichst gutes Ergebnis im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen, damit könnte der Wahlkampf vor Ort auch für die kleineren Parteien wichtiger werden. Allerdings wäre nicht mehr unbedingt sichergestellt, dass jeder Wahlkreis mit einem Abgeordneten im Bundestag vertreten ist.
Ein ähnliches System schlägt der Politikprofessor Joachim Behnke vor. Er will es den Parteien allerdings freistellen, ob sie einen oder zwei Kandidaten pro Wahlkreis nominieren. Damit hätte erstens der Wähler mehr Auswahl und könnte stärker darauf Einfluss nehmen, wer sich in der Partei durchsetzt. Zweitens vermutet Behnke, dass der Druck auf die Parteien steigt, einen Mann und eine Frau aufzustellen - und dass so letztlich mehr Frauen in den Bundestag gewählt würden.
… oder gleich drei Stimmen?
Denn auch das ist ein aktuell viel diskutiertes Problem: Der Frauenanteil im Bundestag beträgt rund 31 Prozent. "Das ist zu wenig", kritisierte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Eva Högl. "Zufrieden bin ich erst, wenn Frauen überall fünfzig Prozent haben." Sie könne sich deshalb auch ein Dreistimmensystem vorstellen: "Eine Stimme für eine Frau, eine Stimme für einen Mann und eine für die Partei".
Ein solches Dreistimmensystem hatte Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) zusammen mit dem Politikwissenschaftler Stefan Klecha Ende vergangenen Jahres vorgelegt. Der Anteil der direkt gewählten Frauen würde damit auf fünfzig Prozent steigen. Damit der Bundestag kleiner wird, würden in diesem Modell die Wahlkreise neu zugeschnitten und auf 240 verringert.
Eine weitere Idee sind sogenannte Tandems: In jedem Wahlkreis treten für jede Partei ein Mann und eine Frau an, der Wähler kann sich zwischen beiden entscheiden. Für ein solches Modell hatten sich etwa die schleswig-holsteinische Justizministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) und auch die Hannoveraner* Professorin für Öffentliches Recht Frauke Brosius-Gersdorf ausgesprochen. Damit bliebe es dem Wähler überlassen, wie wichtig ihm die Parität im Bundestag ist.
Mehr Frauen in den Bundestag
Die Frage ob und wie der Gesetzgeber auf eine paritätische Zusammensetzung des Bundestags hinwirken kann, soll oder muss, ist allerdings wohl die am heftigsten umstrittene Frage in der Debatte. Die einen halten Paritätsgesetze für glatt verfassungswidrig, die anderen für geboten, um den Gleichstellungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz durchzusetzen.
Ein erstes Paritätsgesetz gibt es nun in Brandenburg. Damit werden die Parteien verpflichtet, für die Landtagswahlen quotierte Listen aufzustellen - das heißt abwechselnd einen Mann und eine Frau, wobei sie sich aussuchen können, ob sie auf einen Spitzenkandidaten oder eine Spitzenkandidatin setzen. Abzuwarten bleibt, ob das Gesetz vor dem Brandenburgischen Verfassungsgericht bestand hat.
Weltweit und auch im europäischen Vergleich seien Regelungen, die auf eine paritätische Zusammensetzung der Parlamente hinwirken, "jedenfalls nicht ungewöhnlich", betonte Margarete Schuler-Harms, Professorin für Öffentliches Recht in Hamburg. Die in Art. 38 Grundgesetz verankerten Wahlrechtsgrundsätze ließen womöglich "mehr Spielräume, als man auf den ersten Blick denken mag". Insofern gilt: Der Bundestag hat viele Möglichkeiten, die Wahlrechtsreform anzugehen. Er müsste sich nur noch einigen.
*Angabe korrigiert am 28.05.2019, 16:10
Diskussion um Wahlrechtsreform: . In: Legal Tribune Online, 20.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35475 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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