Bundestag einigt sich auf neues Wahlrecht: Ände­rungen im System, nicht am System

Gastbeitrag von Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. (Cambridge)

09.10.2020

Der Bundestag hat sich auf eine Reform des Wahlrechts geeinigt - und will so verhindern, dass die Anzahl der Abgeordneten weiter zunimmt. Das neue Gesetz finde eine ausgewogene Lösung für ein kompliziertes Problem, meint Bernd Grzeszick.

CDU, CSU und SPD haben sich dazu entschieden, das geltende System der personalisierten Verhältniswahl im Grundsatz beizubehalten, aber an drei Stellen Änderungen vorzunehmen: Die Zahl der Wahlkreise wird von 299 auf 280 gesenkt, die parteiinterne föderale Sitzverteilung wird geändert, und bis zu drei unausgeglichene Überhangmandate werden zugelassen.

Der Gesetzesentwurf ist das Ergebnis einer langen Diskussion, in deren Verlauf unterschiedlichste Reformvorschläge von immer dringender werdenden Appellen begleitet wurden. Die aufgeladene Atmosphäre ist dabei auch darauf zurückzuführen, dass die Aufgabe, ein unkontrolliertes Wachsen des Bundestages zu vermeiden, alles andere als einfach ist. Denn das Wahlrecht muss verschiedenen und zum Teil auch widerstreitenden rechtlichen und politischen Anforderungen gerecht werden.

Viele der im Lauf der Diskussion vorgebrachten Reformvorschläge ähnelten einem Zauberwürfelspiel, ohne dass die nötige Geduld aufgebracht wurde: Im Ergebnis wird zwar auf einer Würfelseite das Ziel erreicht, aber auf den anderen Seiten das Wirrwarr gesteigert, und das Gesamtziel ist entfernter als zuvor.

Strengere Anforderungen aus Karlsruhe, anderes Wählerverhalten

Das Wahlrecht hat die von der Verfassung vorausgesetzten politischen Funktionen zu erfüllen: Es soll den permanenten Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes in die staatliche Willensbildung so überführen, dass dabei der politische Wille der Wähler in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abgebildet wird und die politischen Kräfte integriert werden. Es soll zu einer personalen Zusammensetzung führen, die die Schaffung eines funktionierenden Parlaments und einer von diesem getragenen funktionierenden Regierung gestattet. Und es soll die Verantwortlichkeit der Volksvertreter und der von ihnen getragenen Regierung gegenüber dem Volk sicherstellen.

Das Grundgesetz lässt dem Gesetzgeber allerdings bei der Systementscheidung zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl freie Hand - und der verfolgt traditionell eine Kombination der beiden Systeme: Die personalisierte Verhältniswahl, die aus Wahlen in den Wahlkreisen sowie einer Wahl nach Landeslisten der Parteien besteht. Dieses System hat sich in der Vergangenheit grundsätzlich bewährt.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat allerdings aus dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit zunehmend strengere Anforderungen an das Wahlrecht abgeleitet, und insbesondere unausgeglichene Überhangmandate sowie inverse Effekte, bei denen die Stimmabgabe für eine Partei dieser im Gesamtergebnis schaden kann, begrenzt. Mit Blick darauf entschied der Bundestag sich bei der letzten großen Reform im Jahr 2013 für einen Vollausgleich der Überhangmandate.

Hinzukommt: Parteienlandschaft und Wählerverhalten haben sich erheblich geändert. Die CDU und vor allem die SPD haben Wähler verloren; Bündnis90/Die Grünen hat hinzugewonnen; die AfD hat eine relevante Größe erreicht; und Erst- und Zweitstimme werden durchaus unterschiedlichen Parteien gegeben. Unter diesen Bedingungen ist der Bundestag von seiner Ausgangsgröße von 598 Abgeordneten auf 709 Abgeordnete angewachsen. Bei der Wahl im kommenden Jahr ist ein weiterer Zuwachs möglich.

Grundsätzliches Problem, grundsätzliche Änderungen?

Dies scheint für grundsätzliche Änderungen zu sprechen. Doch ein Systemwechsel wäre nicht unproblematisch. So würde ein Grabenwahlrecht, das Mehrheitswahl und Verhältniswahl mit hälftig aufgeteilter Sitzzahl unverbunden nebeneinander stellt, kleinere Parteien erheblich benachteiligen. Ein reines Verhältniswahlrecht oder eine massive Senkung der Zahl der Wahlkreise stünden dagegen in Spannung zur legitimatorischen Funktion der Mehrheitswahl in den Wahlkreisen, die erheblich an Bedeutung verlöre.

Zudem sind die einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Problematisch ist etwa eine Nichtzuteilung von Direktmandaten nach dem relativen Erfolg in den Wahlkreisen, da eine Kappung dem Grundprinzip der Mehrheitswahl zuwiderläuft und der konkrete Modus der Kappung zwischen den Wahlkreissiegern nach Kriterien unterscheidet, die nicht oder nur zum Teil im Wahlkreis bedingt sind, weshalb ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist.

Reformvorschläge, die maßvolle Anpassungen vorsehen, haben daher rechtlich und politisch deutlich bessere Realisierungschancen. Ein solcher Reformvorschlag ist der Gesetzesentwurf der Regierungsfraktionen. Er nimmt die Reform nicht am, sondern im System der personalisierten Verhältniswahl vor.

280 statt 299 Wahlkreise

Die Reduzierung der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 ist rechtlich zulässig. Eine bestimmte Anzahl von Wahlkreisen ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Die Untergrenze liegt dort, wo die verbleibenden Wahlkreise so groß werden, dass die mit einer Mehrheitswahl verbundenen Zwecke und Funktionen nicht mehr hinreichend gegeben sind.

Das besondere Anliegen der Mehrheitswahl in Wahlkreisen besteht darin, dass die Abgeordneten eine engere persönliche Bindung zu dem Wahlkreis haben, in dem sie gewählt worden sind. Dementsprechend müssen die Wahlkreise so beschaffen sein, dass die erforderliche Kommunikation zwischen den Wählern untereinander sowie mit den Mandatsbewerbern nicht übermäßig erschwert und die politische Willensbildung nicht beeinträchtigt ist.

Mit Rücksicht auf den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers ist die Reduktion von 299 auch 280 Wahlkreise verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, auch wenn sie vor allem in dünn besiedelten Wahlkreisen zu einer Erschwerung des Kontakts der Bürger untereinander sowie zu den Wahlkreisbewerbern führt.

Neuer Modus bei der parteiinternen föderalen Sitzverteilung

Auch die Änderung der föderalen Verteilung der Sitze innerhalb der Parteien ist verfassungsgemäß. Die parteiinterne Sitzverteilung wird so verändert, dass in einem Land erzielte Wahlkreismandate auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern angerechnet werden. Dies bremst den Aufwuchs der Abgeordnetenzahl, der durch die Berechnung der Überhangmandate nach Ländern mit verursacht wird.

Eine länderübergreifende Kompensation könnte allerdings im Extremfall dazu führen, dass einer Landesliste nur sehr wenige oder keine Sitze zugeteilt werden und die Zweitstimmen für diese Landesliste ohne den föderal angemessenen Erfolg bleiben. Der Gesetzesentwurf verfolgt deshalb zwischen den Zielen der Dämpfung des Zuwachses und der Wahrung des innerparteilichen föderalen Proporzes einen Mittelweg: Den einzelnen Landeslisten wird die Hälfte der Listenmandate garantiert, die andere Hälfte steht zur Anrechnung von Direktmandaten in anderen Ländern zur Verfügung.

In der Rechtsprechung des BVerfG zum Wahlrecht ist die Rücksichtnahme auf die föderale Gliederung des parteipolitischen Systems anerkannt. Auch die Wahlrechtsgleichheit ist gewahrt, da die Erfolgswertgleichheit der Zweitstimmen bundesweit zu betrachten ist und die parteiinterne föderale Sitzverteilung das Verhältnis der Sitzzuteilung zwischen den Parteien nicht verändert.

Zulassung unausgeglichener Überhangmandate

Schließlich soll nach dem Gesetzesentwurf ein Ausgleich von Überhangmandaten erst nach dem dritten Überhangmandat erfolgen. Bis zu drei unausgeglichene Überhangmandate sind danach zulässig.

Nach Ansicht des BVerfG sind ausgleichslose Überhangmandate auch bei einem Wahlrecht, dass den Grundcharakter einer Verhältniswahl hat, zulässig, wenn dadurch der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufgehoben wird. Die Grenze der nicht ausgeglichenen Überhangmandate zog das Gericht in der letzten einschlägigen Entscheidung bei etwa der Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Abgeordnetenzahl; bei einer Hausgröße von 598 Abgeordneten liegt diese Zahl bei 15.

Unterhalb dieser Grenze besteht ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, innerhalb dessen er sich zwischen den beiden Zielen Personalwahl und Verhältnisproporz entscheiden kann. Eine Zulassung von weniger als 15 nicht ausgeglichenen Überhangmandaten ist daher auch nicht willkürlich. Die Zulassung von nicht ausgeglichenen Überhangmandaten dient dem Ziel der Personalwahl, und ist daher in den vom BVerfG benannten Grenzen zulässig.

In der entsprechenden Passage der Entscheidung hat das Gericht auch ausgeführt, dass ein Vollausgleich in der Art, wie er dem jetzt noch geltenden Wahlrecht zu Eigen ist, dem Ziel der Personalwahl nicht gleich gut genügt. Dies ist unmittelbar einsichtig, da bei einem Vollausgleich die Wahlkreismandate zwar erhalten bleiben, aber der Anteil der Listenmandate steigt - mit der Folge, dass der relative Anteil der Wahlkreismandatsträger und damit deren politischer Einfluss sinkt.

Bundestagswachstum wird nur leicht gebremst

Die Rücksichtnahmen des Entwurfs haben einen Preis: Das potentielle Wachstum des Bundestages wird nur relativ schwach gebremst. Auf der Grundlage der Ergebnisse vergangener Wahlen sowie Schätzungen kommender Wahlergebnisse zeigt sich, dass der Bundestag wieder nahezu 700 Abgeordnete haben könnte, möglicherweise sogar etwas mehr. Der Zauberwürfel des geltenden Wahlrechtssystems gerät hier allmählich an seine Grenzen.

Dieser Nachteil sollte aber nicht entscheidend sein. Verfassungsrechtlich ist eine die Größe des Bundestages begrenzende Reform ohnehin erst dann geboten, wenn andernfalls die Funktionsfähigkeit des Bundestages erkennbar gefährdet ist. Da der Bundestag mit 709 Abgeordneten funktioniert, liegen dafür derzeit keine Anhaltspunkte vor.

Rechtspolitisch mag es zwar legitim sein, die Größe des Bundestages kleiner zu halten, um eine intensive interne kommunikative Einbindung der Abgeordneten herzustellen, die Fraktions- und Ausschussgrößen in praktikablen Grenzen zu halten und Geld zu sparen. Diese Ziele sind allerdings nur einige unter den vielen politischen und rechtlichen Anforderungen und Erwartungen an das Wahlrecht, und können keinen Vorrang beanspruchen.

Hinzu kommt, dass auch für künftige Entwicklungen noch ein gewisser Spielraum besteht, da aus verfassungsrechtlicher Sicht bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate zulässig sind, und möglicherweise die Zahl der Wahlkreise noch einmal leicht abgesenkt werden kann.

Insgesamt lohnt es sich also, eine Reform nicht am, sondern im System der personalisierten Verhältniswahl vorzunehmen, und den wahlrechtlichen Zauberwürfel mit Augenmaß so zu drehen, dass jede Farbe zur Geltung kommt.

Professor Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. (Cambridge) hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Internationales Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg inne. Er war einer der Sachverständigen, die Anfang Oktober zu dem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss des Bundestages Stellung genommen haben.

Zitiervorschlag

Bundestag einigt sich auf neues Wahlrecht: Änderungen im System, nicht am System . In: Legal Tribune Online, 09.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43060/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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