Koalitions-Ergebnis zum Wahlrecht: Erst Reförm­chen, dann Reform?

von Hasso Suliak

26.08.2020

Die Spitzen der GroKo haben sich am Dienstagabend auf Veränderungen im Wahlrecht verständigt. Das Anwachsen des Bundestages soll bei der Wahl 2021 mit kleinen Schritten verhindert werden. Die eigentliche Reform kommt erst 2025.

Viele Beobachter hatten mittlerweile gar nicht mehr mit einem Kompromiss gerechnet. Zu unterschiedlich waren die Vorstellungen innerhalb der Koalition, wie das weitere Aufblähen des Deutschen Bundestages bei den nächsten Wahlen verhindert werden sollte. In der Nacht zum Mittwoch tat sich dann doch etwas. Gefunden wurde ein Kompromiss, dessen letzte Details noch nicht feststehen, der aber sowohl von Partei- und Wahlrechtsexperten als auch von Vertretern der Opposition kritisch gesehen wird.

CDU, CSU und SPD haben sich darauf verständigt, dass bei der kommenden Wahl 2021 das Anwachsen des Parlamentes durch eine Dämpfungsmaßnahme verhindert werden soll. Eine umfassende Wahlrechtsreform soll dann erst 2025 greifen. Dazu soll noch in dieser Wahlperiode eine Reformkommission eingesetzt werden. Die Zahl der Wahlkreise soll für die Bundestagswahl 2021 bei 299 belassen und dann 2025 auf 280 verringert werden. Das entspricht im Prinzip dem Vorschlag der Union. Diese hatte eine Reduzierung der Wahlkreise allerdings ursprünglich schon für 2021 vorgesehen.

Hintergrund der seit langem diskutierten Reformbemühungen: Mit der Wahl 2017 erreichte der Deutsche Bundestag durch sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate die Rekordgröße von 709 Abgeordneten. Und das, obwohl sich das Bundeswahlgesetz eigentlich an der Sitzzahl von 598 orientiert. Damit das Parlament nun bei der nächsten Bundestagswahl nicht auf mehr als 800 Abgeordnete anwächst, verständigten die Koalition auf sogenannte "Dämpfungsmaßnahmen".

Dämpfung der Abgeordnetenzahl

In dem Ergebnis-Papier von Dienstagabend heißt es dazu: "Der erste Zuteilungsschritt wird ab der Bundestagswahl 2021 im geltenden Wahlrecht so modifiziert, dass er eine Verrechnung von Überhang- mit Listenmandaten der gleichen Partei ermöglicht und zugleich eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate gewährleistet." Außerdem sollen ab der Bundestagswahl 2021 bei Überschreiten der Regelgröße von 598 Mandaten bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen bleiben.

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zusteht. Damit trotzdem alle Parteien im Verhältnis ihrer Zweitstimmen im Parlament vertreten sind, erhalten andere Parteien im Gegenzug Ausgleichsmandate.

Dass nunmehr eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht ausgeglichen und so eine Dämpfung der Abgeordnetenzahl erzielt werden kann, hatte bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erwogen (Urt. v. 25.07.2012. Az. 2 BvF 3/11) und es dabei sogar für möglich erachtet, bis zu 15 Überhangmandate unausgeglichen zu lassen.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Ob die nunmehr in der Koalition gefundene Variante allerdings verfassungsrechtlich haltbar ist, sehen renommierte Wahlrechtsexpertin unterschiedlich. "Gegen die im Kompromiss vereinbarte Hinnahme von drei ausgleichslosen Überhangmandaten ist verfassungsrechtlich nichts einzuwenden", erklärte der Greifswalder Staatsrechter Prof. Dr. Heinrich Lang gegenüber LTO.

Anders sieht es dagegen seine Kollegin, die Düsseldorfer Staatsrechtlerin Prof. Dr. Sophie Schönberger: "Das Bundesverfassungsgericht hat zwar entschieden, dass es verfassungskonform ist, wenn wahlsystembedingt unausgeglichene Überhangmandate entstehen, solange ihre Zahl tatsächlich 15 nicht überschreitet. Ob das jedoch auch heißt, dass man politisch eine willkürlich herausgegriffene Zahl unausgeglichener Überhangmandate festlegen kann, die dann eben nicht systembedingt ist, sondern politisch entschieden, ist keineswegs sicher", gibt Schönberger im Gespräch mit LTO zu bedenken. Sie bezeichnete das Ergebnis als "absurd": "Die Dämpfungswirkung für die Größe des Bundestags dürfte – gerade für die nächste Wahl – äußerst gering ausfallen," so Schönberger.

Dass Überhangmandate einer Partei mit Listenmandaten anderer Landeslisten der Partei verrechnet werden sollen, halten Experten ebenfalls für problematisch, wenn auch für verfassungsrechtlich noch vertretbar. Die Änderung durchbreche "die bislang gewahrte Eigenständigkeit der Landesverbände", sagte etwa der Heidelberger Staats- und Verfassungsrechtler Professor Dr. Bernd Grzeszick zu LTO. "Das kann dazu führen, dass die von einer Partei in einem Bundesland gewonnene Listenmandate durch in einem anderen Bundesland erzielte Überhangmandate 'aufgezehrt' werden." Doch auch wenn damit die föderale Ausgestaltung des Parteienwesens und des Wahlrechts "ein Stück weit" beeinträchtigt werde, sei die gefundene Lösung laut Grzeszick "verfassungsrechtlich und wohl auch rechtspolitisch tragbar".

Skeptisch zeigte sich an diesem Punkt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Dr. Sebastian Roßner, für den es allerdings entscheidend auf bislang noch nicht vorliegende Details der Regelung ankommt: "Wie wird, gerade wenn von der Verrechnung die Liste eines kleinen Bundeslandes betroffen ist, der föderale Proporz der Abgeordneten sichergestellt?" Roßner zufolge sei allerdings jetzt schon festzustellen, dass die CSU als rein bayerische Partei von den Notmaßnahmen "ungeschoren davongekommen" sei.

Verringerung der Wahlkreise 2025: "Wenig ambitioniert"

Kritik üben Verfassungsrechtler auch an der erst für 2025 geplanten Verringerung der Wahlkreise: Diese sei so wenig ambitioniert, "dass ihr Einfluss auf die Größe des übernächsten Bundestages fraglich ist", beklagt etwa der Augsburger Hochschullehrer Prof. Dr. Matthias Rossi gegenüber LTO. Eine Garantie für eine nennenswerte Verkleinerung biete die Verringerung um 19 Wahlkreise nicht. "Dafür braucht man keine mathematische Expertise", so Rossi. Der mit einer Reduzierung der Wahlkreise beauftragten Kommission prophezeit Rossi eine schwere Aufgabe: "Welche Wahlkreise werden wie neu zugeschnitten, um eine Reduzierung um 19 zu erreichen?"

Rossi befürchtet, dass die parteiinternen Kämpfe lauter werden und nicht auszuschließen sei, "dass sachfremde Erwägungen den gebotenen Zuschnitt der Wahlkreise beeinflussen werden". Insgesamt fällt Rossis Fazit zum Kompromiss der Großen Koalition ernüchternd aus: "Es scheint so, dass die Koalition allein ihre Handlungs- und also ihre Koalitionsfähigkeit unter Beweis stellen wollte, nicht hingegen das Sachproblem lösen wollte."

Indes: Ob eine großangelegte Wahlrechtsreform, wenn nicht im Hinblick auf die kommende Wahl, so doch immerhin für 2025 gelingen kann, wird entscheidend von der Reformkommission abhängen, die nach dem Kompromiss der Großen Koalition noch in dieser Wahlperiode eingesetzt werden soll und die bis spätestens 30.06. 2023 Ergebnisse liefern soll. Zusammensetzen soll sich das Gremium u.a. aus Abgeordneten und Wissenschaftlern. Inhaltlich soll es dann neben der Verringerung der Wahlkreise auch um die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und um die gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Bundestag gehen. "Zur Vorbereitung der Einsetzung der Kommission" beabsichtige die Koalition das Gespräch mit allen im Bundestag vertretenen Fraktionen zu suchen, hieß es.

Opposition ist enttäuscht

Einige Vertreter der Opposition zeigten sich unterdessen vom gestrigen Ergebnis enttäuscht: So bezeichnete der rechtspolitische Sprecher der Linken-Fraktion Friedrich Straetmanns, das Resultat als "ungenügend um den Bundestag wirklich zu reduzieren". Die "nicht ausgeglichenen Ausgleichsmandate nutzen der Union und sind aus meiner Sicht bei absichtlicher Inkaufnahmen, verfassungswidrig", sagte Straetmanns.

Auch der parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann, kritisierte das Ergebnis: „Die Beschlüsse der GroKo beseitigen die Gefahr eines XXL-Bundestags nicht. Stattdessen setzt sich die CSU mit ihrem Ziel durch, dass sich bei den Wahlkreisen nichts ändert. Die CDU bekommt zur Belohnung einen Bonus von drei unausgeglichenen Überhangmandaten und der Rest dient nur der Vernebelung. Hauptverlierer ist nicht die SPD, sondern das Ansehen der Politik. Hier wird nämlich eine wichtige Reform wieder verschleppt und vertagt.“

Ähnlich reagierte auch die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion Britta Haßelmann. "Weiße Salbe, wenig Wirkung", so Haßelmann im Interview mit dem Deutschlandfunk. Es sei ein Armutszeugnis, dass man für diese Übergangslösung sieben Jahre gebraucht habe, sagte sie.

Zitiervorschlag

Hasso Suliak, Koalitions-Ergebnis zum Wahlrecht: . In: Legal Tribune Online, 26.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42597 (abgerufen am: 30.11.2024 )

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