Wer arbeitet, soll davon auch leben können. Diese Parole würde wahrscheinlich jede Partei vor der Bundestagswahl unterschreiben. Über den Weg dorthin wird jedoch gestritten. Dabei geht es vor allem um die Frage: gesetzlicher oder tariflicher Mindestlohn? Was die Vereinbarkeit mit dem GG betrifft, sind sich die Juristen nicht einig. Einer spricht gar von einer verfassungswidrigen Sonderabgabe.
Die Einführung eines Mindestlohns ist eines der prägenden Themen in diesem Wahlkampf. Mittlerweile sprechen sich sogar CDU und FDP dafür aus. Allerdings schwebt ihnen dabei etwas anderes vor als den Oppositionsparteien.
Während SPD, Grüne, Linke und die Piraten für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zwischen 8,50 Euro und zehn Euro eintreten, wollen die Regierungsparteien, dass die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verpflichten, jeweils selbst Mindestlöhne festzulegen.
Recht auf ein Existenzminimum
Gegen einen gesetzlichen Mindestlohn führen Kritiker nicht nur den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen an, sondern auch verfassungsrechtliche Argumente: Sie fürchten um die Koalitions-, Berufs- und Vertragsfreiheit sowie die Besteuerungsgleichheit. Aber das Verfassungsrecht spricht auch für einen Mindestlohn.
2010 stellte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nämlich fest, dass jeder ein Recht auf ein Existenzminimum hat. Die Richter leiteten dieses Recht aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ab (Urt. v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09).
Wie ein solches Existenzminimum sichergestellt werden soll, muss der Gesetzgeber ausgestalten. Aktuell kommen Geringverdiener im Zweifel etwa mit Aufstockungen vom Jobcenter über die Runden.
Berufs- und Koalitionsfreiheit
Der Bonner Arbeits- und Sozialrechtler Raimund Waltermann, der 2010 für den Deutschen Juristentag ein Gutachten zum Thema Mindestlohn verfasste, hält die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns für verfassungsrechtlich unbedenklich. Ebenso wie die Mehrheit seiner Kollegen, die sich beim Juristentag für einen gesetzlichen Mindestlohn aussprach.
Rechtsanwalt Hans-Walter Forkel aus Dresden sieht das anders. "Entgegen der herrschenden Meinung bin ich der Auffassung, dass ein gesetzlicher Mindestlohn gegen die Berufs- und Vertrags-freiheit verstößt." In Einzelfällen könne ein gesetzlicher Mindestlohn nämlich durchaus dazu führen, dass ein Unternehmer sein Geschäft aufgeben muss. "Es gibt nicht nur eine prekäre Arbeitnehmerschaft, sondern auch eine prekäre Arbeitgeberschaft, die einen Mindestlohn wirtschaftlich nicht tragen kann und dann ihren Beruf aufgeben müsste."
Im Übrigen sei es Aufgabe der Tarifpartner, von ihrer Koalitionsfreiheit Gebrauch zu machen und Löhne auszuhandeln.
Verfassungswidrige Sonderabgabe?
Forkel, der auch Honorarprofessor an der TU Dresden ist, hält einen gesetzlichen Mindestlohn aber vor allem für eine verfassungswidrige Sonderabgabe. Arbeitgeber würden nämlich gleichheitswidrig benachteiligt, wenn ausgerechnet sie ein Mindesteinkommen ihrer Arbeitnehmer garantieren müssten. Für diese Benachteiligung gebe es keine Rechtfertigung.
Diese Auffassung teilt Waltermann nicht: "Wenn man das schiefe Bild weitermalen wollte, müsste man das Arbeitsrecht insgesamt hineinzeichnen. Arbeitsrecht hat fast immer betriebswirtschaftliche Konsequenzen." Dem stimmt auch Forkel zu: "Arbeitsrecht ist als Arbeitnehmerschutzrecht konzipiert und führt in der Regel zu Kosten beim Arbeitgeber." Soweit es aber beispielsweise um Erholungsurlaub gehe, liege dies auch im Interesse der Arbeitgeber, so dass es gerechtfertigt sei, ihnen die Kosten aufzuerlegen.
Das Ziel eines Mindesteinkommens als solches hält Forkel im Übrigen für absolut legitim. Eine verfassungskonforme Alternative, um es zu erreichen, seien tarifliche Mindestlöhne oder ein steuerfinanziertes Mindesteinkommen.
2/2: Unverzerrter Marktlohn
Waltermann hält einen gesetzlichen Mindestlohn für notwendig, „um eine augenfällige Marktverzerrung im Niedriglohnsektor auszugleichen." Die Marktverzerrung rühre daher, dass die Arbeitgeber die Aufstockung niedriger Arbeitsentgelte durch "Hartz IV" beim Vertragsschluss im Niedriglohnbereich einkalkulierten. Einen unverzerrten Markt gebe es im Niedriglohnsektor nicht und im Niedriglohnsektor gebe es auch keine funktionierende Tarifautonomie.
"Dem entgegenzuwirken, ist Aufgabe des Staates, wenn die Tarifautonomie dies nicht von sich aus schafft." Für einen Mindestlohn als Betondecke zum Kellergeschoss der Arbeitsentgelte spreche übrigens auch, dass die niedrigen Löhne von heute sich morgen in niedrigen Renten wiederfinden würden.
Forkel geht dagegen davon aus, dass es in der Regel einen unverzerrten Marktlohn gibt. Dass Arbeitgeber im Einzelfall staatliche Transferleistungen einkalkulieren, sei aber natürlich nicht auszuschließen. Berücksichtigen müsse man dies aber bei der Zahlung staatlicher Sozialleistungen. "Das wäre der richtige Ansatzpunkt."
Experte hält bisherige Gesetze für nicht zielführend
2009 führte der Gesetzgeber mit einer Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) die Möglichkeit ein, von den Tarifpartnern ausgehandelte, branchenbezogene Mindestlöhne von der Bundesregierung für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. An die ausgehandelten Löhne sollen sich dann also nicht nur die Arbeitgeber halten müssen, die sich einem Tarifvertrag unterworfen haben, sondern alle in der Branche tätigen Unternehmen.
Außerdem wurde das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen (MiArbG) erlassen. Danach kann die Bundesregierung für einen Wirtschaftszweig Mindestlöhne festsetzen, wenn dort bundesweit die tarifgebundenen Arbeitgeber hauptsächlich Mitarbeiter beschäftigen, die nicht unter den Geltungsbereich dieser Tarifverträge fallen. Die Bundesregierung agiert dabei auf Empfehlung eines beim Bundesarbeitsministerium eingerichteten Ausschusses, der soziale Verwerfungen in einer Branche feststellen soll. Die Arbeitgeber aus dem In- und Ausland sind anschließend unter Bußgeldandrohung verpflichtet, die festgelegten Mindestlöhne zu zahlen.
Waltermann hält diese Gesetze für zu kompliziert und nicht zielführend. "Das MiArbG ist bisher auch nicht angewandt worden." Die branchenbezogenen Mindestlöhne erreichten nicht alle Wirtschaftszweige und nicht alle von niedrigen Entgelten betroffenen Arbeitsnehmer. Wer durch einen Mindestlohn geschützt werde und wer nicht, könnte dabei ohne sachliche Rechtfertigung bleiben.
Sittenwidrige Löhne
Der letzte Versuch, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, hat es vor der Sommerpause und damit vor dem Ende der Legislaturperiode nicht mehr aus den Ausschüssen hinaus in eine zweite und dritte Lesung im Bundestags-Plenum geschafft (BT-Drs. 17/12857).
Nachdem sich in der Folge der Niedersachsenwahl im Bundesrat die Mehrheitsverhältnisse geändert hatten, beschlossen die von den Oppositionsparteien geführten Bundesländer einen Entwurf für ein Mindestlohngesetz. 8,50 Euro pro Stunde soll es danach geben. Wer diesen nicht zahlt, dem soll eine Geldbuße in Höhe von bis zu 500.000 Euro drohen.
Eine Untergrenze gibt es auch ohne neues Gesetz – die Sittenwidrigkeit. Ein auffälliges Missverhältnis zwischen Lohn und Arbeitsleistung im Sinne von § 138 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch liegt nach dem Bundesarbeitsgericht vor, wenn die Vergütung nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohns erreicht (Urt. v. 22.04.2009, Az. 5 AZR 436/08).
Wahlprogramme – Teil 6: Für transparenten Lobbyismus in der Gesetzgebung
Claudia Kornmeier, Wahlprogramme – Teil 7: Mindestlohn als Betondecke zum Keller . In: Legal Tribune Online, 02.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9475/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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