Präsidenten- und Parlamentswahl in der Türkei: Die Umwäl­zung

Von Marion Sendker

22.06.2018

Acht Parteien, sechs Kandidaten, einer davon im Gefängnis: Schon der Wahlkampf in der Türkei ist dieses Mal skurril. Warum das Land nach Sonntag nicht mehr sein wird wie zuvor, erklärt Marion Sendker anhand des neuen Wahlrechts.

In der Türkei geht es am Sonntag um alles. Dann stimmen gut 56 Millionen Türken über einen (neuen) Präsidenten und das Parlament ab. Die mehr als drei Millionen "Auslandstürken" haben ihre Stimme bereits abgegeben. Dass beide Wahlen auf einen Tag fallen, ist eine Premiere - "Und ein Problem", findet der Juraprofessor Osman Can von der Marmara-Universität in Istanbul. "Simultane Wahlen bedeuten die Synchronisation von zwei Gewalten", warnt er. So verkomme die Gewaltenteilung zu einer leeren Hülle, sagt der Mann, der bis 2015 noch Mitglied der aktuellen Regierungspartei "Partei für Gerechtigkeit und Wohlfahrt" (AKP) war.

Can sieht die Wahlen in der Türkei kritisch: "Für das Präsidialsystem sind Gewaltenteilung und ein System von 'checks-balances' vital. Das Parlament muss in der Lage sein, die Exekutive bzw. den Präsidenten zu kontrollieren", mahnt er. Nach der Verfassungsänderung von 2017 habe das Parlament aber kein Recht mehr, die Ernennungen des Präsidenten zu überprüfen oder gar zurückzuweisen.

Der Präsident wird in der Türkei nach dem Mehrheitsprinzip gewählt: Wer mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereint, hat gewonnen. Wenn das am Sonntag keiner schafft, gibt es am 08. Juli ein Stechen zwischen den beiden besten. Der Hohe Wahlrat hat im Vorfeld schon so viele Stimmzettel drucken lassen, dass sie für mehr Stimmen reichen, als bei der Wahl am Sonntag und einer zweite Runde in 14 Tagen reichen würden.

Zehn-Prozent-Hürde für Parteien

Das Parlament kommt in der Türkei nach den Prinzipien des Verhältniswahlrechts zusammen. Auch wenn nach dem neuen System die Bedeutung des Parlaments stark zurückgefahren wurde, werden ab Sonntag nicht wie sonst 550 Parlamentarier gewählt, sondern 600. Eine "unnötige Vergrößerung", findet der deutsche Jurist und Hochschullehrer Professor Christian Rumpf: "Ich glaube, dass Erdogan dabei vor allem an seine Mitstreiter und Vasallen gedacht hat. Die neue Verfassung wurde ja entworfen, als die AKP noch in starkem Aufwind war, es also auch Sinn ergab, die Parteigänger mit Pöstchen im Parlament zu bedenken." Auch Can sieht die Erhöhung der Plätze als Indiz für politischen Opportunismus: "Weniger enttäuschte Politiker bedeuten mehr Engagement unter den Wählern. Das passt zu der herrschenden Vorstellung des Populismus hierzulande, doch ist allein noch kein Beweis dafür."

Can, der ehemals berichterstattender Richter am türkischen Verfassungsgericht war, stört bei den Wahlen insbesondere, dass eine Partei mindestens zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinen muss, um überhaupt ins Parlament zu kommen. Kein anderes Land in Europa hat eine so hohe Hürde. Damit kleinere Parteien trotzdem eine Chance haben, hat das türkische Parlament in einer umstrittenen Wahlrechtsreform im März eine Regelung beschlossen, wonach Wahlbündnisse erlaubt sind. Wie angekündigt, koaliert zum Beispiel die AKP mit der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Das ist eine Win-Win-Situation für beide Parteien: Die MHP hätte es sonst vermutlich nicht ins Parlament geschafft und die AKP erscheint so stärker, als im Alleingang. Das ist wichtig, denn bei dieser Wahl geht es - wie schon beim Referendum vor einem Jahr - um jede Stimme.

Unregelmäßigkeiten vorsorglich legalisiert?

Im neuen Wahlrecht, das bei seiner Verabschiedung zu einer kleinen Prügelei im türkischen Parlament geführt hat, fallen insbesondere zwei Regelungen auf: Zunächst darf der Hohe Wahlrat die Wahllokale "aus Sicherheitsgründen" in andere Bezirke verlegen. In der Praxis sind davon vor allem die Gegenden betroffen, in denen die pro-kurdische Partei HDP stark ist. Ihr Kandidat, Selahattin Demirtas, sitzt seit eineinhalb Jahren im Gefängnis. Nur weil das Verfahren gegen den Menschenrechtsanwalt noch nicht beendet und er deswegen noch nicht verurteilt ist, darf der Frontmann der HDP überhaupt antreten. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu feierte es als "Zeichen der Demokratie", dass Demirtas aus seiner Zelle heraus Wahlkampfreden über die sozialen Medien halten dürfe. Von Wahlbeobachtern und Journalisten erntete die Agentur, die als "Sprachrohr der Regierung" gilt, dafür Spott und Hohn. Am Freitag reichte die sozialistisch-kemalistische Oppositionspartei CHP sogar Klage gegen Anadolu ein, berichten türkische Medien. "Wie soll man dieser Agentur vertrauen?", hieß es von Vertretern der CHP am Freitagnachmittag.

Auch eine andere neue Regelung wirft einen dunklen Schatten auf die Wahlen am Sonntag: So sollen nämlich auch Stimmzettel oder Umschläge ohne Stempel des Hohen Wahlrats gültig sein.  "Wenn die Behauptung mancher Kritiker stimmt, dass der Hohe Wahlrat unter starkem Druck seitens der AKP steht, dann ist natürlich Missbrauch möglich", warnt Rumpf. Diese neuen Regelungen machen einen vermeintlichen Wahlbetrug welcher Art auch immer natürlich nicht legal, sie erhöhen aber das Fälschungsrisiko. Nur eine dichte Kontrolle durch Wahlbeobachter könne die Gefahr der Manipulation noch begrenzen, fürchten Experten.

Dass am Donnerstag aber zwei OSZE-Beobachtern die Einreise in die Türkei verweigert wurde, hinterlässt angesichts dessen einen bitteren Nachgeschmack. "Gemäß des OSZE-Standards sollte ein Land, das OSZE-Beobachter eingeladen hat, nicht direkt oder indirekt Einfluss nehmen auf die Zusammensetzung der Beobachtergruppe", schrieb die OSZE dazu am Donnerstag in einer Note, die LTO vorliegt. Man bedauere insbesondere, dass zwei Beobachter offenbar aufgrund ihrer politischen Ansichten nicht ins Land dürften.

The winner takes it all

Als ein regierungsnaher TV-Sender am Mittwoch live testete, ob die technische Übertragung der Grafiken mit den Wahlergebnissen klappen würde, prophezeite der Sender einen Sieg Erdogans mit guten 53 Prozent. Die aktuellen Umfragen sehen das ein bisschen anders. Da variieren die Zahlen zwischen 42 und 53 Prozent - und damit vielleicht zu wenig, um sich am Sonntag als alter und neuer Präsident feiern lassen zu können.

Vor allem sein Gegenkandidat der sozialistischen Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, begeistert in den Tagen vor der Wahl die Massen. Zuletzt sollen Medienangaben zufolge bis zu 2,5 Millionen Menschen zu einer Wahlveranstaltung nach Izmir gekommen sein. Die Zeitung Hürriyet nannte das "eine der größten Veranstaltungen der Opposition seit Jahren".

Wie das Kopf-an-Kopf-Rennen der Kontrahenten schließlich auch ausgehen mag - für die Türkei beginnt am Montag nach den Wahlen so etwas wie eine neue Ära. Denn dann tritt das neue Präsidialsystem voll und ganz in Kraft. Es ist ein System, das dem Präsidenten quasi unbeschränkte Macht einräumt. Eine knappe Mehrheit der Türken hatte sich vor einem Jahr in einem Referendum dafür entschieden.

Knappe 51,4 Prozent sollen im April 2017 mit "Evet", also mit "Ja", gestimmt haben. Opposition und internationale Wahlbeobachter hatten diese geringe Mehrheit von 1,4 Millionen Stimmen angefochten: Mindestens 1,5 Millionen Stimmzettel sollen gewertet worden sein, ohne dass sie den damals noch nötigen Stempel der Wahlbehörde hatten. Eine Beschwerde hatte das Verfassungsgericht aber mit Beschluss vom 7. Juni 2017 als unzulässig abgewiesen und damit den Weg für die Verfassungsänderung endgültig freigemacht, die die Türkei ab Montag wohl so sehr verändern wird wie zuletzt ihre Gründung im Jahr 1923.

Zitiervorschlag

Präsidenten- und Parlamentswahl in der Türkei: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29339 (abgerufen am: 14.10.2024 )

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