Keine Neuwahl in Sachsen trotz Demokratieverstoß der AfD: Wo kein Kläger, da kein Richter

von Dr. Sebastian Roßner

25.10.2016

In Sachsen hat die AfD gegen den Grundsatz innerparteilicher Demokratie und das sächsische Wahlgesetz verstoßen; der Landtag ist fehlerhaft zusammengesetzt. Warum es wahrscheinlich dennoch nicht zu Neuwahlen kommen wird, erklärt Sebastian Roßner.

Ein politischer Schock geht durch das Land: Das Verfassungsgericht ordnet an, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, denn eine wichtige Partei hat ihre Kandidaten in undemokratischer Weise nominiert. So geschah es am 4. Mai 1993, als das Hamburgische Verfassungsgericht die Wahlen zur Bürgerschaft von 1991 aufhob (Az. 3/92). Noch ist es in Sachsen nicht so weit, aber der Vorwurf steht im Raum, dass die AfD sich bei der letzten Wahl zum sächsischen Landtag eines ähnlichen Vergehens schuldig gemacht habe.

Folgendes soll nach Presseberichten geschehen sein: Arvid Samtleben war im April 2014 auf dem Landesparteitag der AfD Sachsen als Landtagskandidat auf Platz 14 der Liste für die kommende Wahl gewählt worden. Zwei Monate später beschloss der Landesvorstand, darunter auch die Landesvorsitzende Frauke Petry, Samtleben wieder von der Liste zu streichen. Die Änderung der Liste wurde dann von den Vertrauenspersonen der Partei der Landeswahlleiterin angezeigt, die geänderte Liste schließlich gegen den Protest Samtlebens vom Landeswahlausschuss zur Wahl zugelassen. Bei der Landtagswahl gewann die AfD so viele Stimmen, dass Platz 14 auf der Liste für den Einzug in den Landtag ausreichte. Anstelle des geschassten Samtleben erhielt nun eine nachgerückte Kandidatin das Mandat.

Parteivorstand griff in Entscheidung der Basis ein

Das rechtliche Problem dabei ist, dass die Ersetzung eines Kandidaten durch einen anderen Kandidaten weder dem Parteivorstand noch den Vertrauenspersonen zusteht. Die Gesetze sind in diesem Punkte eindeutig: Art. 21 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz (GG) verpflichtet die politischen Parteien auf innerparteiliche Demokratie. Das bedeutet, alle Amtsinhaber müssen durch die Parteibasis legitimiert werden, wichtige Entscheidungen muss sie selbst oder durch gewählte Vertreter treffen. Eine der wichtigsten parteiinternen Entscheidungen ist die Aufstellung von Kandidaten für staatliche Wahlen, denn über gewählte Kandidaten kann die Partei direkten Einfluss auf staatliche Entscheidungen ausüben. Aus Sicht des Staates ist die Bereitstellung von Kandidaten für die Wahlen zu den Volksvertretungen geradezu die entscheidende Leistung der Parteien für die Demokratie. Keine Demokratie ohne Wahlen, keine Wahlen ohne Kandidaten.

Weil die Kandidatenaufstellung für die Demokratie so wichtig ist, ordnet das Gesetz über die Wahlen zum Sächsischen Landtag (SächsWahlG) vor dem Hintergrund von Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG an, dass die Kandidaten der Parteien für die Landtagswahl durch Mitgliederversammlungen oder durch von den Mitgliedern gewählte Vertreterversammlungen bestimmt werden müssen (§§ 21, 27). Dementsprechend weist die Satzung des sächsischen Landesverbandes der AfD die Aufstellung der Kandidatenlisten auch dem Landesparteitag zu (§ 14) und nicht etwa dem Landesvorstand. Indem dieser später in die Liste eingriff, hat er gegen die Bestimmungen der eigenen Partei, des sächsischen Wahlgesetzes und letztlich des Grundgesetzes verstoßen; die geänderte Liste der AfD hätte vom Wahlausschuss gar nicht zur Wahl zugelassen werden dürfen (§ 28 SächsWahlG).

Auch die Berufung der AfD auf die Tätigkeit der Vertrauenspersonen ändert daran nichts. Die Vertrauenspersonen, die von den Parteien nach § 22 SächsWahlG zu benennen sind, dienen der sicheren Kommunikation mit dem Staat in Fragen der Wahlvorbereitung. Sie sind Sprachrohr und Briefkasten der Partei, aber sie sind nicht befugt, eigene politische Entscheidungen zu treffen.

Ohne den Eingriff säße Samtleben im Landtag

Die nächste Frage lautet, ob daraus, dass Samtleben rechtswidrigerweise von der AfD-Liste gestrichen wurde, auch die Ungültigkeit der Landtagswahl und damit die Notwendigkeit von Neuwahlen folgt. Dies ist nicht per se der Fall, denn nur Wahlfehler, die Mandatsrelevanz haben, die sich also auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments auswirken, können die Ungültigkeit von Wahlen bewirken (§ 1 Abs. 2 Sächsisches Wahlprüfungsgesetz). Mandatsrelevanz liegt hier aber mit Sicherheit vor, da der Listenplatz 14 zum Einzug in den Landtag ausreichte. Ohne den Eingriff des Landesvorstandes wäre also Samtleben und nicht die nachgerückte, auf der Liste ursprünglich hinter ihm stehende Kandidatin in den Landtag eingezogen. Der Fehler lässt sich auch nicht ohne Neuwahl korrigieren, da Samtleben eben nicht gewählt wurde und nicht sicher ist, wie sich die Wähler bei korrekter Zusammensetzung der AfD-Liste entschieden hätten.

Bevor eine Wahl aufgehoben wird, ist noch zwischen dem verfassungsrechtlichen Gebot der richtigen Zusammensetzung des Parlaments und dem gleichfalls verfassungsrechtlich geschützten Interesse am Bestand des Parlaments sowie an seiner kontinuierlichen Arbeitsfähigkeit abzuwägen. Entscheidend für eine Aufhebung der Wahl spricht hier, dass nicht etwa bloß ein technischer Fehler vorliegt, sondern ein schwerer Verstoß gegen das Prinzip der innerparteilichen Demokratie. Der Umstand, dass die AfD-Fraktion der Opposition angehört, also einer politisch verfestigten parlamentarischen Minderheit, ist dabei rechtlich unerheblich, zumal die Verfassung Sachsens in Art. 40 die Bedeutung der Opposition für die Demokratie eigens hervorhebt.

Keine Wahlprüfung, wenn sie der Parlamentsmehrheit missfällt

Dass die Wahl bis heute, zweieinhalb Jahre später, noch immer nicht aufgehoben und wiederholt wurde, liegt im Verfahren der Wahlprüfung begründet, das in Sachsen - wie auch im Bund und den meisten anderen Ländern - zweistufig aufgebaut ist. Für die erste Stufe der Prüfung ist das Parlament zuständig, gegen dessen Entscheidung dann das Verfassungsgericht angerufen werden kann (Art. 45 Verfassung des Freistaates Sachsen). Die Wahlprüfung durch das Parlament aber ist in Sachsen wie auch anderswo meist langwierig und chronisch erfolglos.

Verwundern muss das nicht. Ein Parlament ist ein politisches Gremium und soll es auch sein. Es entscheidet naturgemäß nach politischen Gesichtspunkten. Neuwahlen wären für die Parlamentsmehrheit in Sachsen derzeit wenig opportun, da die etablierten Parteien Umfragen zufolge Anteile verlieren und die AfD mit einem noch stärkeren Ergebnis aus den Wahlen hervorgehen würde. Dementsprechend steigt die Versuchung, das Wahlprüfungsverfahren zunächst in die Länge zu ziehen und dann mit einer negativen Entscheidung abzuschließen, sodass eine eventuelle verfassungsgerichtliche Korrektur zu spät, nämlich erst nach dem Ende der Legislaturperiode kommt, wenn sich das Problem einer fehlerhaften Zusammensetzung des Landtags durch Zeitablauf erledigt hat.

Das Verfahren ist also falsch konstruiert: Man sollte Parlamentarier gar nicht erst  in das Dilemma bringen, sich zwischen politischer Opportunität und Rechtmäßigkeit entscheiden zu müssen, sondern alte Zöpfe abschneiden und das Wahlprüfungsverfahren vollständig den Gerichten überlassen, wie es im Land Berlin bereits der Fall ist.

Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Zitiervorschlag

Dr. Sebastian Roßner, Keine Neuwahl in Sachsen trotz Demokratieverstoß der AfD: Wo kein Kläger, da kein Richter . In: Legal Tribune Online, 25.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20971/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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