Mehrere Menschen aus Gaza haben beim VG Berlin beantragt, die Waffenlieferungen an Israel per Anordnung zu stoppen. Nun deutet sich eine Überraschung an: Das Gericht hält die Eilanträge wohl für zulässig – und droht einen Hängebeschluss an.
Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin muss in den kommenden Wochen eine Entscheidung von allerhöchster politischer Brisanz treffen: Untersagt es der Bundesregierung, den Export weiterer Kriegswaffen an Israel zu genehmigen? Tut das Gericht in dem schmucklosen Neubau der Kirchstraße 7 in Berlin-Moabit damit das, wozu der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag kürzlich keine Notwendigkeit sah?
Insgesamt drei verschiedene Verfahren liegen auf dem Schreibtisch der 4. Kammer. Über eines dieser Verfahren, das ein Kollektiv von sieben Berliner Rechtsanwälten anstrengt, hatte LTO Anfang April ausführlich berichtet. Darüber hinaus gibt es noch einen Antrag vom 19. Februar und ein neueres, vom European Center for Constitutional und Human Rights (ECCHR) betriebenes Verfahren von Mitte April. Bei allen drei Verfahren handelt es sich formal nicht um Verbandsklagen; sie werden zwar teilweise von Menschenrechtsorganisationen unterstützt, Antragsteller sind aber jeweils Menschen. In den beiden letzten Verfahren klagen Palästinenser, die sich zurzeit in Gaza aufhalten, im ersten Fall ein deutsch-palästinensischer Arzt aus Berlin und dessen in Gaza lebender Vater.
Hintergrund dieser Konstruktion ist, dass das deutsche Verwaltungsrecht – außerhalb bestimmter Ausnahmerechtsgebiete – keine Verbandsklage kennt. Antragsteller oder Kläger muss eine Person sein, die im Einzelfall selbst betroffen ist. Kann das Gericht von vornherein ausschließen, dass die Person durch das beanstandete Staatshandeln in eigenen Rechten verletzt ist, verneint es die Antrags- bzw. Klagebefugnis und weist Antrag bzw. Klage als unzulässig ab.
Dieses Schicksal hatten Experten auch im Fall der Waffenlieferungen vermutet, um die es nun geht. Doch das VG Berlin überrascht jetzt mit einem Schreiben an die Bundesregierung, aus dem ersichtlich wird: Das VG nimmt die Eilanträge nicht nur ernst, sondern hält sie wohl auch für zulässig. Die 4. Kammer will sich mit den großen politischen Fragen auseinandersetzen, um die es auch im IGH-Verfahren Nicaragua gegen Deutschland geht.
Bundesregierung soll Kriterien offenlegen und sich zur IGH-Entscheidung äußern
Das auf den 26. April datierte Schreiben war in der vergangenen Woche auf X aufgetaucht und wurde dort lebhaft diskutiert. Zuerst hatte die Junge Welt berichtet. Veröffentlicht hatte es die Rechtsanwältin im ersten Verfahren, Beate Bahnweg, auf ihrer Facebook-Seite in abfotografierter Fassung. Auf LTO-Anfrage bestätigten auch die Klägervertreter in den beiden anderen Verfahren, dass die Bundesregierung ein solches Schreiben erhalten hat.
Darin "bittet das Gericht" die beklagte Bundesrepublik "darzulegen, auf welche Weise die Bundesregierung […] sicherzustellen beabsichtigt, dass die Erteilung der Genehmigung" von Kriegswaffen an Israel "keine völkerrechtlichen Verpflichtungen" Deutschlands "gefährden würde". Konkret fordert das VG Informationen dazu an, welche Erwägungen das für die Ausfuhrkontrolle zuständige Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) bei der Genehmigung von Kriegswaffen zugrunde legt. Dabei sollen die BMWK-Vertreter sowohl auf die "Entwicklung der Militäroperation Israels im Gaza-Streifen seit Januar 2024" als auch auf die Eilentscheidung des IGH vom 26. Januar im Verfahren Südafrika gegen Israel eingehen. Auch die IGH-Entscheidung im Nicaragua-Verfahren vom 30. April soll die Bundesregierung einbeziehen. Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Die angefragten Informationen sind vor allem für die Prüfung der Begründetheit der Anträge relevant. Ihre Zulässigkeit hätte das Gericht in mehreren Punkten verneinen können, ohne dass es dafür auf die angefragten Informationen angekommen wäre.
Worum es in der Begründetheit geht
Die Kläger wollen zum Teil den Widerruf bereits erteilter Exportgenehmigungen erreichen (so vor allem im zweiten und dritten Verfahren) und bzw. oder untersagen lassen, dass das BMWK künftig weitere Waffenlieferungen genehmigt (so vor allem im ersten und zweiten, mittlerweile aber auch im ECCHR-Verfahren). Die maßgeblichen Vorschriften im deutschen Recht sind die §§ 6, 7 Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG). § 6 Abs. 3 Nr. 2 verbietet die Genehmigung von Exporten u.a. für den Fall, dass "Grund zu der Annahme besteht, daß die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde". Gemäß § 7 Abs. 2 ist eine bereits erteilte Genehmigung dann zu widerrufen.
Mittelbar zu prüfen ist hier das humanitäre Völkerrecht, insbesondere die Genfer Konventionen von 1949 sowie die Völkermord-Konvention und der Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty, ATT). Zentral ist insofern Art. 7 Abs. 3 ATT. Demnach haben Lieferungen schon dann zu unterbleiben, wenn der Staat ein hohes Risiko ("overriding risk") einer schweren Verletzung des humanitären Völkerrechts feststellt. Das hatte ein niederländisches Berufungsgericht in einem ähnlichen, dort als Verbandsklage zulässigen Verfahren angenommen; LTO hatte berichtet.
Bemerkenswert ist hinsichtlich der Begründetheit, dass das VG von der Bundesregierung fordert, auch die IGH-Entscheidungen im Verfahren Südafrika gegen Israel einzubeziehen. Dort hatte der IGH nämlich nur festgestellt, dass die Rechte der Palästinenser in Gaza unter der Völkermord-Konvention plausiblerweise bestehen und dass eine plausible Verbindung zwischen den Rechten und den letztlich angeordneten Sofortmaßnahmen besteht. In seiner Entscheidung hat der IGH Israel zur Einhaltung der Konvention ermahnt und mehr humanitäre Hilfe gefordert. Dass Israel in Gaza tatsächlich mit der Absicht vorgeht, eine Volksgruppe als solche auszulöschen, dazu hat sich das Gericht nicht geäußert.
VG Berlin hält Palästinenser in Gaza wohl für antragsbefugt
Für die Bewertung, inwiefern deutsche Waffen für Völkerrechtsbrüche verwendet werden könnten, sind die vom BMWK angeforderten Informationen essenziell. Die Zulässigkeit der Anträge auf einstweilige Anordnungen gemäß § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hingegen hätte das VG auch verneinen können, ohne die Genehmigungspraxis näher zu begutachten.
Damit spricht einiges dafür, dass die 4. Kammer bejaht, dass Palästinenser, die sich aktuell in Gaza aufhalten, befugt sind, gegen die Waffenexportgenehmigungen gerichtlich vorzugehen. Ob es dies auch im Fall des in Berlin lebenden Arztes aus Palästina annehmen wird, ist völlig offen und durchaus zweifelhaft. Aber auch wenn es die Antragsbefugnis nur im Fall von Personen mit Aufenthalt in Gaza bejaht, wäre das ein Signal an die Weltöffentlichkeit: In Deutschland können Menschen aus Kriegsgebieten gegen Waffenlieferungen klagen. Diese Maßstäbe müsste das VG Berlin dann auch bei möglichen Klagen zum Ukraine-Krieg oder anderen bewaffneten Konflikten konsequent anlegen.
Weiterhin würde die 4. Kammer damit die Anträge für zulässig halten, obwohl die Kläger sich nicht zuvor an das BMWK gewendet haben, um einen Stopp der Genehmigungen zu erreichen. Darauf weist das Gericht in seinem Schreiben auch ausdrücklich hin – denn genau aus diesem Grund fehle es derzeit an den erforderlichen Informationen zu den tatsächlich erteilten Genehmigungen und zu solchen, die sich noch im Genehmigungsverfahren befinden. "Ungeachtet der Frage, ob ein solches Vorgehen ausnahmsweise prozessual zulässig ist, fehlt es aus diesem Grund an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die […] zu treffende gerichtliche Bewertung", führt die Berichterstatterin aus.
Hierfür ist eigentlich Voraussetzung, dass der Antragsteller das vorläufig Begehrte schon einmal von der Behörde gefordert hat. Verspricht das keine Aussicht auf Erfolg, kann der Antrag bei Gericht ausnahmsweise zulässig sein, ohne dass sich die Behörde damit vorher befasst hat. Die Anwälte argumentieren vor allem damit, dass die Bundesregierung in der Vergangenheit allenfalls auf Kleine Anfragen aus dem Bundestag – hier von Abgeordneten des Bündnisses Sahra Wagenknecht – reagiert und auch sonst nur äußerst einsilbig geantwortet hat.
Ob diese Argumentation dem VG tatsächlich ausreicht, bleibt abzuwarten. ECCHR-Prozesskoordinator Alexander Schwarz zufolge spricht das Schreiben insofern eine "eindeutige Sprache": Das Gericht gehe von der Zulässigkeit des Antrags aus, so Schwarz gegenüber LTO. Ähnlich äußert sich Rechtsanwalt Ahmed Abed, einer der Anwälte des Kollektivs, das das zweite Verfahren anhängig gemacht hat, auf LTO-Anfrage.
Keine Waffenlieferungen bis zur Entscheidung
Bahnweg ist etwas zurückhaltender und betont, das Schreiben sei noch keine Vorentscheidung zu einzelnen Punkten. Sie wertet es aber ebenfalls als positives Signal – vor allem die Androhung eines sogenannten Hängebeschlusses. Das ist eine Art Eilentscheidung vor der Eilentscheidung. Dauert das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie hier – doch mal einige Wochen oder, wie bei Bahnwegs seit Februar anhängigem Antrag, Monate, kann das notwendig sein. Dass ein solcher Hängebeschluss erlassen oder angedroht wird, kommt aber schon aufgrund der vor Verwaltungsgerichten ohnehin niedrigen Erfolgsquoten nur selten vor.
Umso überraschender, dass dies hier trotz der weiteren Zulässigkeitshürden und einer völlig offenen Begründetheitsprüfung geschehen ist. "Das Gericht geht davon aus, dass bis zu einer Entscheidung über den Eilantrag keine unter das KrWaffKontrG fallenden Waffenlieferungen nach Israel genehmigt werden. Sollte dies anders sein, wird um umgehende Mitteilung gebeten", heißt es im letzten Absatz des Schreibens. Andernfalls "würde dann ein sog. Hängebeschluss ergehen". Das dürfte das wohl klarste Anzeichen dafür sein, wie ernst die 4. Kammer die Anträge nimmt.
Dass die Bundesregierung einen solchen Beschluss riskiert, davon ist nicht auszugehen; Angaben wollte das BMWK dazu auf LTO-Anfrage nicht machen. Zudem hat es nach eigenen Angaben im Nicaragua-Verfahren vor dem IGH nach Oktober 2023 kaum noch Lieferungen von Waffen genehmigt, die für den Kriegseinsatz bestimmt sind. Bis zum 15. Mai muss die Regierung antworten. Wenn sie die angeforderten Informationen liefert, muss das VG sie eingehend prüfen. Ggf. werden die Anwälte der Antragssteller auch noch Stellung nehmen. Wann das VG sein Urteil fällt, ist angesichts dessen schwer abzusehen. Anfang Juni erscheint realistisch.
Äußert sich das BMWK nicht, könnte es schneller gehen. Dann erscheint nach dem Schreiben des Gerichts nicht unwahrscheinlich, dass es die Waffenexporte zumindest teilweise stoppt – so wie es der Gerechtshof in Den Haag getan hat. Dort liegt der Fall nun in der Revisionsinstanz. Auch in Deutschland dürfte das VG sicher nicht die letzte Instanz gewesen sein.
Waffenlieferungen von Deutschland an Israel: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54525 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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