Bis zu 100 Milliarden Euro Schaden drohen. Weltweit liefern sich Staaten ein regelrechtes Wettrennen um Strafzahlungen gegen VW. Michael Kubiciel will eine internationale Verständigung über die Sanktionierung multinationaler Unternehmen
Der Druck auf Unternehmen, die Gesetze verletzen, nimmt weltweit zu. Im strafrechtlichen Bereich haben viele Staaten in den vergangenen Jahren Unternehmensstrafgesetze eingeführt, die ausländischen Unternehmen harsche Sanktionen androhen.
Oft reicht eine marginale Verbindung zwischen dem Unternehmen und dem Staat aus, um dessen Jurisdiktion und die Geltung seines Unternehmensstrafrechts zu begründen.
Auch deutsche Unternehmen verfangen sich auf den Weltmärkten immer häufiger im dichten Netz verschiedenartiger ausländischer Strafgesetze. Der gegenwärtig diskutierte Fall des größten deutschen Konzerns macht das sehr anschaulich. Wenn man der Presse glauben darf, betreiben die Staaten der Erde – von Mexiko bis Australien – gerade eine Art juristischer Treibjagd auf die vermeintlich fette Beute VW.
Die Geltung unterschiedlicher ausländischer Unternehmensstrafgesetze ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen stehen die Normen des ausländischen Unternehmensstrafrechts nicht immer im Einklang mit deutschen und europäischen Grundrechtsstandards und Strafprinzipien.
So ist die amerikanische Respondeat-Superior-Doktrin, nach der einem Unternehmen der Regelverstoß einer Leitungsperson ohne Weiteres strafbarkeitsbegründend zugerechnet werden kann, mit deutschen Straf- und Verfassungsprinzipien kaum vereinbar.
Vor allem aber kann ein System von einander überlappenden ausländischen Unternehmensstrafgesetzen zu einer unverhältnismäßig harten Bestrafung der hinter dem Unternehmen stehenden juristischen Person führen. Der Fall VW macht das sehr deutlich.
VW-Affäre: Wie verhältnismäßig sind fast 100 Milliarden Euro?
Im Fall VW stehen nicht nur zivilrechtliche punitive damages und strafrechtliche Geldstrafen im Raum; auch die Abschöpfung des durch den Regelverstoß erzielten Erlöses droht. Rechnet man die Kosten für Rechtsberatung und den Rückruf hinzu, soll sich der VW drohende Schaden – Pressemeldungen zufolge – auf kaum fassbare 100 Milliarden Euro belaufen.
Das ist mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes des Konzerns im Jahr 2014 und fast zehn Mal so hoch wie der im Jahr 2014 erwirtschaftete Gewinn. Selbst wenn, wie zu erwarten ist, der Schaden niedriger als dieser Maximalwert ausfallen wird, ist schon jetzt klar: Die Kosten der weltweiten Rechtsstreitigkeiten werden die ökonomische Substanz des Konzerns schwer treffen.
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieser Sanktionskaskade liegt auf der Hand: Darf eine juristische Person für die unternehmerische Fehlentscheidung, eine Manipulationssoftware einzusetzen, mehrfach bestraft werden?
2/2: Das Verbot der Doppelbestrafung …
Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sowie im gesamten Schengen-Raum gilt der Grundsatz ne bis in idem: Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Europäischen Union bzw. von einer Vertragspartei rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden (Art. 50 Europäische Grundrechte-Charta sowie Art 54 Schengener Durchführungsübereinkommen). Dasselbe gilt für die Unterzeichnerstaaten des 7. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Soweit Staaten auch die Bestrafung juristischer Personen anerkennen, muss das Prinzip ne bis in idem auch Unternehmen und andere Verbände schützen. Das Verbot der Doppelbestrafung sollte zudem auf den Verfall bzw. die Abschöpfung des durch die Straftat erzielten Erlöses erstreckt werden. Eine Mehrfachabschöpfung durch verschiedene Staaten würde so verhindert. Zwar ist der Verfall bzw. die Abschöpfung keine Strafe im engeren Sinne. Doch kommt es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht auf die Bezeichnung einer Rechtsfolge als „Strafe“ an, sondern auf die konkrete Ausgestaltung bzw. den materiellen Gehalt der Rechtsfolge. Wenn aber mehr abgeschöpft wird, als das Unternehmen tatsächlich durch den Regelverstoß eingenommen hat, weist die Rechtsfolge keinen restitutiven, sondern einen punitiven Charakter auf.
… und seine Schattenseiten
Wirksam wird das Doppelbestrafungs- bzw. Doppelverfolgungsverbot, sobald ein Mitgliedstaat der EU bzw. eine Schengen-Vertragspartei ihr Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen hat. Das kann nach der Rechtsprechung des EuGH auch durch eine nicht-gerichtliche Verfahrenserledigung geschehen, also etwa eine Einstellung nach § 153a StPO.
Die Schattenseite des europäischen Doppelbestrafungsverbots: Es kann einen regelrechten Wettlauf zwischen den Staaten auslösen. Aussicht auf die Beitreibung hoher Strafzahlungen von Unternehmen hat schließlich nur der Staat, dessen Verfahren am schnellsten erledigt ist.
Ein solcher Early-bird-Staat ist aber nicht immer jener, der die höchsten Verfahrensstandards zum Schutz von Beschuldigten gewährleistet. Weil eine schnelle Strafverfolgung von Unternehmen sich für Staaten finanziell lohnen kann, bedarf es einer Angleichung der Verfahrensstandards in Europa. Nur so lassen sich die europäischen Grundrechte der Unternehmen im Strafverfahren wirksam garantieren.
Weltweite Guidelines müssen Mehrfach-Strafen verhindern
Anders ist die Problemlage außerhalb Europas: Die USA, Mexiko, Australien und eine Reihe anderer Staaten sind an diese Regeln des europäischen Rechts nicht gebunden.
Das kann nicht nur für Volkswagen teuer werden. Im Grunde droht jedem multinationalen Unternehmen Vergleichbares, dessen Regelverstoß sich auf den Märkten der Welt bemerkbar macht. Daher sollte es im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse aller wichtigen Industrienationen liegen, sich über Guidelines für eine angemessene Unternehmenssanktionierung zu verständigen. Diese müssten einheitliche Mindeststandards für die Haftungsvoraussetzungen, für die Bemessung der Sanktionen sowie Regeln zur Auflösung der oben gezeigten Jurisdiktionskonflikte enthalten.
Wie der Fall Volkswagen zeigt, ist es weder sinnvoll noch rechtsethisch begründbar, dass ein Unternehmen wegen ein und desselben Rechtsverstoßes von verschiedenen Ländern mit Strafen belegt wird, die in der Summe unverhältnismäßig oder gar existenzgefährdend sind.
Der Autor Prof. Dr. Michael Kubiciel ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität zu Köln. Er berät u.a. internationale Organisationen zur Antikorruptionspolitik und ist Sprecher der Kölner Forschungsgruppe "Anwendungsfragen eines Verbandsstrafrechts".
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, VW-Affäre: Die globale Treibjagd hat begonnen . In: Legal Tribune Online, 16.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17247/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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