Geheime Pläne der EU: Und wenn die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung doch zurück nach Deut­sch­land kommt?

von Dr. Markus Sehl und Maryam Kamil Abdulsalam

22.07.2024

In Brüssel arbeitet ein Gremium hinter verschlossenen Türen an einer Neuauflage zur Vorratsdatenspeicherung. Entscheidet sich deren Zukunft gar nicht in Berlin, sondern in Brüssel? Und wie weit darf die EU dazu Vorgaben machen? 

Für Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ist die Sache klar. Die Vorratsdatenspeicherung darf nicht zurückkommen. Anbieter von Telekommunikation sollen nie wieder anlasslos Verbindungsdaten ihrer Nutzer auf Vorrat für die Strafverfolgung speichern. Kaum ein Ermittlungsinstrument ist so umstritten wie dieses. Die Vorratsdatenspeicherung erlaubt es Strafverfolgungsbehörden, auf Verbindungsdaten der Internet- und Telefonkommunikation zuzugreifen, die private Anbieter zu diesem Zweck auf Vorrat bereithalten müssen. Ihr Ziel: Auf diesem Weg sollen auch digitale Spuren einer Straftat zugänglich gemacht werden. Wer hat sich laut der Standortdaten seines Handys zur Tatzeit dort aufgehalten? Mit wem hat der Täter zuletzt kommuniziert?  

Wegen dieser Relevanz für die Ermittlungen von Sicherheitsbehörden vergeht kaum ein Monat, in dem die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nicht betont, wie notwendig die Vorratsdatenspeicherung sei. Und zwischen den Monaten auch, nämlich dann, wenn neue Zahlen zu sexuellem Missbrauch bei Kindern oder ein Terrorismusfall bekannt werden. 

Was auf dem Spiel steht, dazu verweisen Ermittler auf Anschlagspläne in Castrop-Rauxel. Anfang 2023 wurden dort zwei iranische Brüder festgenommen, sie sollen einen Giftanschlag geplant haben. Offenbar hatten die Ermittler zunächst mit der Verfolgung von IP-Adressen keinen Erfolg. Schuld sei die fehlende Vorratsdatenspeicherung gewesen. 

Entscheidet über die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung gar nicht Berlin, sondern Brüssel? 

So nachvollziehbar der Bedarf für die Vorratsdatenspeicherung erscheinen mag, von einer solchen Sammlung auf Vorrat sind aber auch Anschlussdaten unzähliger Bürger betroffen, die mit Straftaten nichts zu tun haben. Das beanstandete auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung von 2010 (Urt. v. 02.03.2010, Az. 1 BvR 256/08). Da die anlasslose Speicherung besonders viele unbeteiligte Menschen treffe, hielt das Gericht sie nur für angemessen, wenn sie dem Schutz eines überragend wichtigen Rechtsgut dient. Zum Beispiel zum Schutze des Lebens einer Person. Sie kann also nicht zur Bekämpfung jeglicher Kriminalität eingesetzt werden. In Deutschland liegt die Vorratsdatenspeicherung nach einem Gerichtsurteil und der Entscheidung der Bundesnetzagentur auf Eis

Gut 750 Kilometer entfernt von den Berliner Ministerien Buschmanns und Faesers kommt seit Sommer 2023 jedoch regelmäßig eine Gruppe zusammen. Es sind Beamte der Sicherheitsbehörden aus den EU-Staaten und von der Kommission. Mit dabei sind auch deutsche Kriminalbeamte, so auch das Bundeskriminalamt (BKA). Die deutschen Beamten habe eine deutliche Botschaft dabei: Sicherheitsbehörden brauchen die Vorratsdatenspeicherung dringen, der Quick-Freeze-Ansatz von Buschmann sei kein adäquater Ersatz für die benötigte IP-Adressenspeicherung. Eine „europäische Lösung“ sei erwünscht. Die Gruppe tagt in Brüssel hinter verschlossenen Türen. An was sie arbeiten, das lässt sich aus internen Dokumenten erfahren: Die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung europaweit, und damit auch in Deutschland. 

Wird dadurch der innenpolitische Streit zwischen deutschem Justiz- und Innenministerium überholt? Bestimmt am Ende also Brüssel darüber, ob und wieviel Vorratsdatenspeicherung in Deutschland gilt. Die deutsche Rechtslage prägen, könnten solche geeinten Pläne aus Brüssel allerdings nur, wenn sie von einer EU-Gesetzgebungskompetenz gedeckt sind.  

Was die Geheim-Gruppe in Brüssel plant 

Die Gruppe mit dem Namen "High-Level Group on Access to Data for Effective Law Enforcement" empfiehlt laut einem Dokument von Ende Mai 2024 als "legislative Maßnahme" die "Einführung eines EU-weit harmonisierten Rechtsregimes für die Vorratsdatenspeicherung." Die soll folgende Merkmale mitbringen: sie soll sich auf möglichst alle denkbaren Kommunikationsanbieter erstrecken, die gegenwärtig oder in der Zukunft für die Strafverfolgung interessante Daten verarbeiten; falls Nutzerdaten verschlüsselt sind, müssen die Anbieter sie für die Strafverfolgung entschlüsseln; eine Speicherpflicht von IP- und Port-Daten, sodass "jeder Nutzer klar identifiziert werden kann"; und Sanktionen (verwaltungsrechtlich, strafrechtlich) gegen nicht kooperationswillige Kommunikationsunternehmen.   

Das wäre eine Vorratsdatenspeicherung in verschärfter Neuauflage zur früheren Regelung aus Brüssel. Ursprünglich kam die Vorratsdatenspeicherung 2006 als Richtlinie in die Mitgliedstaaten, die setzten um. 2014 traf der EuGH eine Grundsatzentscheidung (Urt. v. 08.04.2014, Rs. C-293/12, C-594/12) zur Vorratsdatenspeicherung und 2022 konkret zur deutschen ausgesetzten Regelung (Urt. v. 20.09.2022, Rs. C793/19, C794/19). Aber darf die EU überhaupt per Rechtsakt den Mitgliedstaaten dazu Vorgaben machen? 

Darf die EU überhaupt (noch) Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung machen? 

Der Mainzer Rechtsprofessor Matthias Bäcker hat als Prozessbevollmächtigter die EuGH-Entscheidung "SpaceNet" 2022 erstritten. Er blickt skeptisch auf die neuen Pläne aus Brüssel: "Ob die EU überhaupt eine Kompetenz hat, darüber kann man jedenfalls streiten." Denn die frühere Richtlinie für die Vorratsdatenspeicherung habe man auf die Binnenmarktkompetenz gestützt. Das Argument dahinter sei gewesen: Wenn in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungen für Telekommunikationsdiensteanbieter zur Speicherung von Verkehrsdaten herrschen, dann begründe dies ein Handelshemmnis.  

Die Richtlinie von 2006 enthielt nur die Pflicht zur Datenspeicherung. Die Regelung des Datenzugriffs allerdings überließ sie den Mitgliedstaaten. Deshalb hielt der EuGH sie in einem früheren Urteil auch für kompetenzgemäß. 

Bäcker meint: "Nach dem EuGH-Urteil von 2014 ist jedoch genau diese Delegation der Abrufregelung an die Mitgliedstaaten unzulässig, weil den Unionsgesetzgeber eine Regelungsverantwortung für den Datenzugriff trifft, wenn er eine Vorratsdatenspeicherung vorsieht. " Es muss also ein anderer Kompetenztitel her. Nur woher?  

Andere EU-Kompetenztitel, wie beispielsweise für die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit oder die Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung, gäbe es zwar, sagt Bäcker, aber: "Diese Kompetenzen zeichnen sich allerdings alle dadurch aus, dass es um Zusammenarbeit geht." Deshalb bedürfe es eigentlich immer eines grenzüberschreitenden Zusammenhangs. Den werde es auch mal im Einzelfall geben, so Bäcker. "Damit ließe sich eine Vorratsdatenspeicherung für den grenzüberschreitenden Zusammenhang sicherlich regeln, aber wohl nicht für die eigentlich typischen Fälle, nämlich die innerstaatliche Verfolgung von Straftaten." 

Die Brüsseler Gruppe scheint zu wissen, was sie tut 

Diese Einschränkung scheint auch die Brüsseler Gruppe vor Augen zu haben. "Die High Level Gruppe hält einen harmonisierten Ansatz für die Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene für unverzichtbar, insbesondere für grenzüberschreitende Fälle", heißt es in einer internen Zusammenfassung aus Mai 2024. Das klingt danach, dass die Gruppe sehr genau weiß, wo die rechtlichen Grenzen für die Wiedereinführung verlaufen. Auch wenn sie statt "nur" lieber "insbesondere für grenzüberschreitende Fälle" formuliert.Bürgerrechtler wie Dr. Patrick Breyer von den Piraten im EU-Parlament kritisieren die Gruppe, sie arbeite intransparent und sei selektiv besetzt. Wie netzpolitik.org beobachtete, hat sich zwischenzeitlich sogar der Name der Gruppe geändert. Und das wohl nicht ohne Grund. Aus der "High Level Expert Group" wurde die "High Level Group", denn für offizielle EU-Expertengruppen gelten besondere Transparenzregeln. 

Nachfragen von LTO zum aktuellen Stand der Arbeiten, dem anvisierten Abschluss der Pläne, und dem rechtlichem Umsetzungsspielraum für das Vorhaben blieben von der EU-Kommission unbeantwortet.

Zeitenwende beim EuGH für die Vorratsdatenspeicherung? 

Das europäische Pläneschmieden für eine Wiederbelebung der Vorratsdatenspeicherung fällt in eine Zeit, in der auch der EuGH eine bemerkenswerte Kehrtwende in der Sache hingelegt hat. Die jüngste Entscheidung aus Luxemburg stellt alles wieder auf Anfang: Mit einer Entscheidung von April 2024 weicht der EuGH nämlich von seiner bisher restriktiven Linie zur Vorratsdatenspeicherung ab und lässt die IP-Adressenspeicherung nun zur Verfolgung jeglicher Kriminalität zu (Urt. v. 30.4.2024, Az. C-470/21). Die Entscheidung enthält auch den Satz: "Falls den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste solche Modalitäten der Vorratsspeicherung auferlegt werden (Trennung unterschiedlicher Datenkategorien, Anm. d. Autoren), stellt eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen nämlich keinen schweren Eingriff in das Privatleben ihrer Inhaber dar, da diese Daten es nicht erlauben, genaue Schlüsse auf ihr Privatleben zu ziehen." Damit hat der EuGH den Weg für eine Vorratsdatenspeicherung materiell-rechtlich gebahnt. 

Wie geht es weiter? Ungarn hat im Juli 2024 die EU-Ratspräsidentschaft übernommen und bereits angekündigt, die Arbeit an der Vorratsdatenspeicherung fortzusetzen. Im Herbst soll ein Kommissionsbericht zur Arbeitsgruppe vorgestellt werden. Bis dahin wird sich auch ein neues EU-Parlament konstituiert haben. Die Empfehlungen der Gruppe sollen dann auch im "Justiz und Inneres"-Rat auf die Tagesordnung kommen und zwar laut einem Protokoll "mit Priorität". Dort treffen sich die Justiz und Innenminister aller Mitgliedstaaten. Also auch Nancy Faeser und Marco Buschmann. 

Zitiervorschlag

Geheime Pläne der EU: . In: Legal Tribune Online, 22.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55022 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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