Auf den Hamas-Angriff reagiert Israel mit militärischer Gewalt in Gaza, Tausende Palästinenser sterben. Südafrika sieht darin einen Völkermord. Am Donnerstag beginnen die Anhörungen im Eilverfahren vor dem IGH.
Seit Beginn des israelischen Gegenschlages sind in Gaza über 23.000 Menschen getötet worden, weitere rund 59.000 Menschen sollen verletzt worden sein. Diese Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde lassen sich nicht unabhängig verifizieren, internationale Organisationen halten sie aber für glaubwürdig.
Vertreter der UN und von internationalen Organisationen beschreiben die Zustände in Gaza mit deutlichen Worten: Die Rede ist von einem "Ort des Todes und der Verzweiflung", einer "Menschengemachten humanitären Katastrophe" und einer "Tödlichen Kombination von Hunger und Krankheit".
Israel steht weiter auf dem Standpunkt, seine Handlungen seien von seinem Selbstverteidigungsrecht gedeckt. Südafrika hingegen bezichtigt Israel des Völkermordes an der palästinensischen Bevölkerung von Gaza und hat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagt. Außerdem hat es ein Eilverfahren eingeleitet.
So will Südafrika erreichen, dass Israel seine militärischen Handlungen in Gaza sofort stoppt. Außerdem solle Israel alle in seiner Macht stehenden, angemessenen Maßnahmen ergreifen, um Völkermord zu verhindern, – und sich vor allem nicht selbst an solchen Handlungen beteiligen. Ein weiterer Antrag betrifft die Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung sowie den Zugang zu Wasser, Nahrung und Medikamenten.
In den Anhörungen wird Südafrika am Donnerstag seine Argumente vortragen, Israel darf am Freitag darauf erwidern. Vertreter der israelischen Regierung haben bereits angekündigt, dass Israel sich gegen die Vorwürfe verteidigen wird. Im Eilverfahren ist mit einer schnellen Entscheidung zu rechnen. Nach Art. 74 der IGH-Gerichtsordnung hat ein Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen Vorrang vor allen anderen Fällen.
"Charakter eines Völkermordes in Art, Umfang und Kontext"
Auf 84 Seiten zeichnet Südafrika ein düsteres Bild der Situation in Gaza und von "Israels Handlungen mit dem Charakter eines Völkermordes in Art, Umfang und Kontext". Israel sei unter anderem daran beteiligt, Palästinenser in Gaza – einschließlich Kinder – zu töten und sie in Lebensbedingungen zu versetzen, die "ihre Zerstörung als Gruppe herbeiführen sollen". Das Leben der palästinensischen Bevölkerung in Gaza werde zerstört, sie werde massenhaft vertrieben und ihr werde der Zugang zu Nahrung, Wasser, Unterkünften und sanitären Einrichtungen verweigert. Als Beleg bezieht sich Südafrika auf verschiedene Äußerungen von UN-Organisationen und Organisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. UN-Generalsekretär António Guterres nannte die Situation in Gaza eine "Krise der Menschheit", wie Südafrika in der Klage zitiert.
Israel nutze unter anderem sogenannte ungelenkte Bomben, die weniger präzise sind und deshalb eine größere Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellten – vor allem in dichtbesiedelten Gebieten wie Gaza.
Unter den Todesopfern seien besonders viele Kinder. Mit Stand 11. Dezember seien nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN-Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA) in Gaza knapp 8.000 Kinder getötet worden, also 115 Kinder am Tag. OCHA schätzt, dass zudem mehr als 1,9 Millionen Palästinenser fliehen mussten – das sind 85 Prozent der Bevölkerung Gazas. Sie zogen vom Norden Gazas in den Süden. Auch in den Notunterkünften seien sie aber nicht sicher, führt Südafrika aus. Das gilt vor allem, nachdem Israel seine Bodenoffensive auf den südlichen Gazastreifen ausdehnte.
"Angriff auf das Gesundheitssystem Gazas"
Vor allem sei Israels Kriegsführung aber ein "Angriff auf das Gesundheitssystem Gazas", heißt es in der Klage. Mehr als 60 Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen seien zerstört worden. Israel vermutet hinter Krankenhäusern in Gaza wie dem Al-Schifa-Hospital unterirdische Kontrollzentren der Hamas. Deshalb werden auch diese eigentlich kriegsrechtlich geschützten Einrichtungen in Gaza zu militärischen Zielen erklärt. Nach drei Monaten Krieg sind dort nur noch 13 der 36 Krankenhäuser in Betrieb. Diese könnten nur unter erschwerten Bedingungen arbeiten und seien mit der großen Zahl an Kriegsopfern völlig überfordert. Es fehle auch an Betäubungsmitteln, Medikamenten und Desinfektionsmitteln.
Außerdem zerstöre Israel das Leben der Palästinenser in Gaza. Gerichte, Büchereien, Kirchen, Moscheen und Universitäten seien getroffen worden.
Durch sein Verhalten verstoße Israel gegen Artikel I, III, IV, V und VI der Völkermordkonvention. Israel verletze unter anderem seine Pflicht zur Verhütung von Völkermord und begehe selbst Völkermord.
Südafrika kann Pflichten aus Völkermordkonvention einklagen
Deshalb beantragt Südafrika kumulativ verschiedene einstweilige Maßnahmen nach Art. 41 des IGH-Statuts. Nach dieser Vorschrift kann der IGH – sofern es die Umstände erfordern – vorsorgliche Maßnahmen bezeichnen, "die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen". Im Eilverfahren muss eine Rechtsverletzung noch nicht feststehen. Vielmehr reicht es aus, dass die geltend gemachten Rechte "plausibel" sind und mit den beantragten Maßnahmen in Zusammenhang stehen. Diese Voraussetzungen sind hier nach Auffassung Südafrikas erfüllt.
Auch wenn Südafrika nicht in eigenen Rechten verletzt ist, kann es in diesem Fall klagen. Die Pflichten aus der Völkermordkonvention zählen zu den sogenannten Erga-omnes-Verpflichtungen, also Pflichten "gegenüber allen". Die Verletzung dieser Pflichten können alle Staaten geltend machen und nach Auffassung des IGH auch einklagen.
Solche Erga-omnes-Verfahren konnte man in letzter Zeit häufiger beobachten. So hat etwa Gambia Myanmar wegen Völkermordes an der Rohingya-Minderheit in Myanmar verklagt. Anfang des Jahres 2020 hatte der IGH Sofortmaßnahmen zum Schutz der Rohingya erlassen. Derzeit läuft das Klageverfahren. Unter anderem Deutschland hat eine Interventionserklärung abgegeben und will Gambia unterstützen. Kanada und die Niederlande haben ein Verfahren wegen der syrischen Staatsfolter angestoßen. Mitte November 2023 entschied der IGH, dass Syrien die Folterhandlungen sofort einstellen muss.
Südafrika: Israel soll militärische Operationen in Gaza einstellen
Wäre das auch im Fall Israels denkbar? Kann der IGH Israel auffordern, seine militärischen Operationen im Gazastreifen gänzlich einzustellen, was Südafrika mit seinem ersten Antrag erreichen will?
Dem könnte Israels Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta entgegenstehen. Wenn der IGH dieses anerkennt, könnte er Israel nicht zur Einstellung sämtlicher Kriegshandlungen auffordern, selbst wenn er die Kriegsführung teilweise als völkerrechtswidrig einstufte. Denn dadurch nähme er Israel faktisch dieses Selbstverteidigungsrecht. Möglich ist also auch, dass der IGH ein Ende der Handlungen anordnet, die nicht mehr der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts dienen. Das klar abzugrenzen, dürfte aber keine einfache Aufgabe sein.
Mit Materialien der dpa
IGH verhandelt Klage gegen Israel: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53597 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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