Die Tochter lebt in der Türkei, die Mutter in Deutschland. Ein Familientreffen scheiterte an der Visumspflicht. Dabei gibt das Assoziationsrecht Türken eine Sonderstellung gegenüber anderen Ausländern aus Nicht-EU-Staaten. Im LTO-Interview erklärt Daniel Thym, was der Bundestag am Montag im Bundestag dazu erörterte und wie der EuGH wohl über das Familientreffen in Deutschland entscheiden wird.
LTO: Am Montag debattierte der Innenausschuss des Bundestags mit Ihnen und anderen Experten über den Status von Türken in Deutschland. Dabei ging es unter anderem um das Aufenthaltsrecht. Warum haben Türken überhaupt eine besondere Stellung gegenüber anderen Ausländern aus Nicht-EU-Staaten?
Thym: Hintergrund ist das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei aus dem Jahr 1963. Damals wurde eine schrittweise Rechtsangleichung im Bereich des Wirtschaftsrechts vereinbart – auch mit Blick auf einen späteren EU-Beitritt der Türkei.
Konkretisieren sollte das Abkommen der völkerrechtliche Assoziationsrat, der tatsächlich im Jahr 1980 einen Durchführungsbeschluss zur Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer annahm. Auf dieser Grundlage entwickelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine dynamische und umfangreiche Rechtsprechung und leitete immer neue Rechte aus dem Assoziationsrecht ab.
LTO: Die Grünen fordern, diese Rechte nun ausdrücklich in den deutschen Gesetzen zu verankern, also etwa in dem Aufenthalts- oder dem Bundesbeamtengesetz. Ist das tatsächlich erforderlich?
Thym: Im Sinne von mehr Rechtsklarheit wäre das wünschenswert. Das Problem ist, dass der EuGH einen Großteil der Rechte aus dem Abkommen erst entwickelt hat und sich diese nur teilweise aus dem Wortlaut des Beschlusses des Assoziationsrats ergeben. Was genau der EuGH fordert, weiß man aber ja erst, nachdem ein Urteil gesprochen wurde. Davor gibt es zumeist unterschiedliche Auffassungen – das ist nicht viel anders als beim Bundesverfassungsgericht.
Das erklärt die Kontroverse um den Gesetzentwurf der Grünen. Die Fraktion bezieht zu zahlreichen Rechtsfragen inhaltlich Stellung, zu denen es noch gar keine gesicherte Rechtsprechung gibt. Es geht da dann eher um eine rechtspolitische Position der Grünen, nicht um die Umsetzung von Urteilen.
"Bund und Länder sollten neue Leitlinien für Behörden schaffen"
LTO: Was kann stattdessen getan werden, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen?
Thym: Für die Rechtspraxis und die betroffenen Personen wäre sehr viel gewonnen, wenn der Bund und die Länder sich auf eine Neufassung der sogenannten Anwendungshinweise verständigen könnten – das ist eine Art unverbindliche Auslegungsleitlinie für die Behörden.
LTO: Mit ihrem Gesetzentwurf wollen die Grünen auch die Rechtsprechung des EuGH umsetzen. Sie verweisen auf über 50 Entscheidungen zum Assoziierungsabkommen. Was waren die wichtigsten?
Thym: Es gibt in der Tat mehrere Dutzend Urteile, die die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger schrittweise ausgeweitet haben und auch Sachbereiche regeln, die im Assoziationsratsbeschlusses bis heute nicht direkt angesprochen werden. Anfangs ging es um die Rechtsstellung von Arbeitnehmern; später um Familienangehörige, die sich bereits im Inland aufhalten. Im Zentrum der aktuellen Urteile steht die erstmalige Einreise von Personen, die sich noch im Ausland aufhalten, aber künftig dem Assoziationsrecht unterfallen könnten.
"In den 70ern brauchten Türken kein Visum"
LTO: Aktuell muss der EuGH in der Sache "Demirkan" entscheiden (Az. C 221/12). Worum geht es in diesem Verfahren genau?
Thym: Um die ganz konkrete Frage, ob türkische Staatsangehörige für die Einreise nach Deutschland ein Visum benötigen – so wie dies eine EU-Verordnung eigentlich vorsieht. Diese Vorgabe könnte jedoch gegen das Zusatzprotokoll zu dem Abkommen mit der Türkei aus dem Jahr 1971 verstoßen, dessen Art. 41 – die sogenannte Standstill-Klausel – neue Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs verbietet. Die Klägerin argumentiert, dass hierunter auch die passive Dienstleistungsfreiheit fällt und in der Folge die deutsche Rechtslage in den 1970er-Jahren eingefroren werden muss. Weil türkische Touristen damals für die Einreise nach Deutschland kein Visum benötigten, müsse dies so weitergelten.
LTO: Was fällt unter die passive Dienstleistungsfreiheit?
Thym: Passive Dienstleistungsfreiheit meint die Konsumtion von Dienstleistungen im Ausland. Eine "Passivität" besteht insoweit, als die Dienstleistung selbst keine Grenzen überwindet, sondern nur der Konsument. Ob der EU-Binnenmarkt eine solche Regelung umfasst, war lange Zeit umstritten und wurde vom EuGH erst 1984 abschließend geklärt. Nunmehr stellt sich die Frage, ob diese Auslegung auch für das Assoziierungsabkommen mit der Türkei gilt.
"Abkommen umfasst die passive Dienstleistungsfreiheit nicht"
LTO: Der Generalanwalt vertritt die Ansicht, die Stillhalteklausel gelte nicht für die passive Dienstleistungsfreiheit. Wie sehen Sie das?
Thym: Mich überzeugt diese Ansicht, weil sie der Zielsetzung und der Regelungssystematik des Assoziationsrechts entspricht. Die großzügige Auslegung der Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU folgt der Einsicht, dass der Binnenmarkt mehr ist als ein Projekt der Wirtschaftsintegration. Es ging immer auch um das politische Ziel eines immer engeren Zusammenwachsens der Völker Europas. Diesem Ziel dient die großzügige Auslegung des Dienstleistungsverkehrs im Vorgriff auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht, das allen EU-Bürgern das Recht verleiht, die innereuropäischen Grenzen frei und unabhängig von wirtschaftlichen Tätigkeiten zu überschreiten.
Dies ist beim Assoziierungsvertrag mit der Türkei anders. Bis heute hat der Assoziationsrat die Dienstleistungsfreiheit nicht konkretisiert, obwohl dies im Vertrag vorgesehen war. Zudem bleibt die Zielsetzung des Vertrags im Kern auf eine wirtschaftliche Annäherung begrenzt, die einen späteren EU-Beitritt zwar erleichtern soll, diesen Schritt jedoch der Zukunft überlässt. Zur allgemeinen Personenfreizügigkeit nach dem Modell der Unionsbürgerrechte schweigt der Vertrag gänzlich.
LTO: Für den Fall, dass der EuGH die passive Dienstleistungsfreiheit doch von der Standstill-Klausel erfasst sieht, will der Generalanwalt zumindest die bloße hypothetische Möglichkeit, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, nicht ausreichen lassen, um sich auf die passive Dienstleistungsfreiheit zu berufen. Ist das eine sinnvolle Einschränkung?
Thym: Die Frage nach der Intensität der passiven Konsumtion von Dienstleistungen im Ausland stellt sich dann in der Tat. Ein Restaurantbesuch oder zwei Einkäufe in einem Supermarkt dürften kaum ausreichen. All diese komplexen Abgrenzungsprobleme hat man jedoch nicht, wenn der EuGH dem Generalanwalt folgt.
LTO: Werden die Richter das tun?
Thym: Die Argumentation des Generalanwalts ist überaus sorgsam und führt eine Vielzahl an rechtlichen Argumenten an, die es dem EuGH schwer machen werden, eine abweichende Meinung zu vertreten. Ich erwarte daher, dass die Richter den Schlussanträgen folgen. Über die Visumspflicht kann dann politisch zwischen der EU und der Türkei verhandelt werden. Das wäre der richtige Weg.
Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).
Die Fragen stellte Claudia Kornmeier.
Daniel Thym, Status von Türken in Deutschland: "Über Visumspflicht sollte politisch verhandelt werden" . In: Legal Tribune Online, 16.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8538/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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