Status von Türken in Deutschland: "Über Visumspflicht sollte politisch verhandelt werden"

Interview mit Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M.

16.04.2013

"In den 70ern brauchten Türken kein Visum"

LTO: Aktuell muss der EuGH in der Sache "Demirkan" entscheiden (Az. C 221/12). Worum geht es in diesem Verfahren genau?

Thym: Um die ganz konkrete Frage, ob türkische Staatsangehörige für die Einreise nach Deutschland ein Visum benötigen – so wie dies eine EU-Verordnung eigentlich vorsieht. Diese Vorgabe könnte jedoch gegen das Zusatzprotokoll zu dem Abkommen mit der Türkei aus dem Jahr 1971 verstoßen, dessen Art. 41 – die sogenannte Standstill-Klausel – neue Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs verbietet. Die Klägerin argumentiert, dass hierunter auch die passive Dienstleistungsfreiheit fällt und in der Folge die deutsche Rechtslage in den 1970er-Jahren eingefroren werden muss. Weil türkische Touristen damals für die Einreise nach Deutschland kein Visum benötigten, müsse dies so weitergelten.

LTO: Was fällt unter die passive Dienstleistungsfreiheit?

Thym: Passive Dienstleistungsfreiheit meint die Konsumtion von Dienstleistungen im Ausland. Eine "Passivität" besteht insoweit, als die Dienstleistung selbst keine Grenzen überwindet, sondern nur der Konsument. Ob der EU-Binnenmarkt eine solche Regelung umfasst, war lange Zeit umstritten und wurde vom EuGH erst 1984 abschließend geklärt. Nunmehr stellt sich die Frage, ob diese Auslegung auch für das Assoziierungsabkommen mit der Türkei gilt.

"Abkommen umfasst die passive Dienstleistungsfreiheit nicht"

LTO: Der Generalanwalt vertritt die Ansicht, die Stillhalteklausel gelte nicht für die passive Dienstleistungsfreiheit. Wie sehen Sie das?

Thym: Mich überzeugt diese Ansicht, weil sie der Zielsetzung und der Regelungssystematik des Assoziationsrechts entspricht. Die großzügige Auslegung der Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU folgt der Einsicht, dass der Binnenmarkt mehr ist als ein Projekt der Wirtschaftsintegration. Es ging immer auch um das politische Ziel eines immer engeren Zusammenwachsens der Völker Europas. Diesem Ziel dient die großzügige Auslegung des Dienstleistungsverkehrs im Vorgriff auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht, das allen EU-Bürgern das Recht verleiht, die innereuropäischen Grenzen frei und unabhängig von wirtschaftlichen Tätigkeiten zu überschreiten.

Dies ist beim Assoziierungsvertrag mit der Türkei anders. Bis heute hat der Assoziationsrat die Dienstleistungsfreiheit nicht konkretisiert, obwohl dies im Vertrag vorgesehen war. Zudem bleibt die Zielsetzung des Vertrags im Kern auf eine wirtschaftliche Annäherung begrenzt, die einen späteren EU-Beitritt zwar erleichtern soll, diesen Schritt jedoch der Zukunft überlässt. Zur allgemeinen Personenfreizügigkeit nach dem Modell der Unionsbürgerrechte schweigt der Vertrag gänzlich.

LTO: Für den Fall, dass der EuGH die passive Dienstleistungsfreiheit doch von der Standstill-Klausel erfasst sieht, will der Generalanwalt zumindest die bloße hypothetische Möglichkeit, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, nicht ausreichen lassen, um sich auf die passive Dienstleistungsfreiheit zu berufen. Ist das eine sinnvolle Einschränkung?

Thym: Die Frage nach der Intensität der passiven Konsumtion von Dienstleistungen im Ausland stellt sich dann in der Tat. Ein Restaurantbesuch oder zwei Einkäufe in einem Supermarkt dürften kaum ausreichen. All diese komplexen Abgrenzungsprobleme hat man jedoch nicht, wenn der EuGH dem Generalanwalt folgt.

LTO: Werden die Richter das tun?

Thym: Die Argumentation des Generalanwalts ist überaus sorgsam und führt eine Vielzahl an rechtlichen Argumenten an, die es dem EuGH schwer machen werden, eine abweichende Meinung zu vertreten. Ich erwarte daher, dass die Richter den Schlussanträgen folgen. Über die Visumspflicht kann dann politisch zwischen der EU und der Türkei verhandelt werden. Das wäre der richtige Weg.

Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).

Die Fragen stellte Claudia Kornmeier.

Zitiervorschlag

Daniel Thym, Status von Türken in Deutschland: "Über Visumspflicht sollte politisch verhandelt werden" . In: Legal Tribune Online, 16.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8538/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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