Sind die Richter zu sehen, wieviel Verrenkung ist dem Kläger zumutbar, und was, wenn Bild oder Ton ausfällt? Videoverhandlungen kommen im Justizalltag an, und damit auch neue Unsicherheiten. Aktuelle Urteile bemühen sich um Orientierung.
Mit dem Beginn der Coronapandemie hatte nicht nur die Arbeitswelt Zoom, Teams und Co. kennen gelernt, auch die deutsche Justiz hat für sich eine Vorschrift wiederentdeckt: den § 128a ZPO, die Videoverhandlung. Statt vor Ort im Gerichtssaal, können sich Anwälte und Mandanten per Video in den Saal schalten lassen. So konnte damals trotz Kontaktbeschränkungen ein Stillstand an den deutschen Gerichten abgewendet werden. Nicht überall klappte der Einsatz der neuen Technik reibungslos. Auch im Ausland lief der Wechsel in den "virtuellen Gerichtssaal" nicht ohne Störungen. Versprach die Videoverhandlung doch auch neue Freiheiten und Herausforderungen: Anwälte nahmen aus dem Bett im Schlafzimmer oder vom Pool aus an Verhandlungen teil, ein Richter tauchte gar "oben ohne" vor der Kamera auf.
Die Kontaktbeschränkungen der Pandemiezeit sind mittlerweile lange Zeit aus unserem Alltag verschwunden. Die Gerichtsverhandlung per Video jedoch ist geblieben. Aus gutem Grund, meint der DAV: Nicht nur steigert die Videoverhandlung die Kosten- und Arbeitseffizienz der Anwaltschaft, sie wirkt sich zugleich positiv auf das Klima aus – Geschäftsreisen adé. Obwohl sich die Justiz und die Anwaltschaft jeweils mangelnde Bereitschaft vorwerfen, zeigt sich der steigende Zuspruch zeigt sich auch in Zahlen. Allein an den bayrischen Gerichten fanden im Jahr 2022 mehr als 12.000 Verhandlungen per Videokonferenz statt.
Videoverhandlung gewinnt an Bedeutung
Dabei ist die in § 128a ZPO geregelte "Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung" kein Novum. Bereits seit 2002 ist die Vorschrift in der ZPO verankert.Nach § 128a ZPO ordnet das Gericht die Verhandlung per Video nach freiem Ermessen an. Das geht bislang auch ohne das Einverständnis der Beteiligten. Dann können Verfahrensbeteiligte sich bei zeitgleicher Bild- und Tonübertragung während einer mündlichen Verhandlung an "einem anderen Ort" aufhalten – den Kanzleiräumen, im privaten Arbeitszimmer, oder in der Bahn.
Erforderlich: Allseitige zeitgleiche Wahrnehmung
Mehr Videoverhandlungen im Gerichtsalltag heißt aber auch mehr Unklarheiten bei der Anwendung. Vor allem: was gilt bei der Übertragung? Eine reine Telefonkonferenz ohne Bildübertragung ist nach dem klaren Wortlaut des § 128a ZPO jedenfalls unzulässig. Stattdessen müssen sämtliche abwesende Beteiligte die im Saal anwesenden Beteiligten und das Gericht sehen und hören können. Das Stichwort: allseitige zeitgleiche Wahrnehmung. Was das genau bedeutet, hat dieses Jahr bereits zweimal den Bundesfinanzhof (BFH) beschäftigt.
Einmal ging es im Juni 2023 um die Sichtbarkeit der Verfahrensbeteiligten während einer Videokonferenz. Die Verhandlung vor dem Finanzgericht Münster war per Videokonferenz durchgeführt worden. Dabei wurde lediglich eine Kamera eingesetzt, bei der für etwa zwei Drittel der Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats zu sehen war; die Richterbank mit den übrigen Richtern und der aktuell sprechende Richter waren nie gleichzeitig zu sehen gewesen. Der V. Senat des BFH entschied, dass die Richterbank während der Verhandlungsübertragung zu jeder Zeit vollständig im Bild sichtbar sein muss (Beschl. v. 30.06.2023, Az. V B 13/22). Denn für die Verfahrensbeteiligten müsse während der Videoverhandlung feststellbar sein, ob alle beteiligten Richter "in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen", so der BFH. Es drohe andernfalls eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter. Erforderlich sei daher die Sichtbarkeit der gesamten Richterbank auch für alle zugeschalteten Beteiligten, zum Beispiel mithilfe der Splitscreen-Technologie.
BFH: Bereits eine 180-Grad-Drehung ist zu viel
Zurück im Sitzungssaal: Was bedeutet die Voraussetzung der "allseitigen zeitgleichen Wahrnehmung" für die dort physisch Anwesenden? Im Grunde genommen das Gleiche. Die per Video Zugeschalteten müssen zeitgleich die Richterbank und die anderen zugeschalteten Beteiligten auf dem Bildschirm visuell und akustisch wahrnehmen können.
Doch wieviel Bewegung ist den Verfahrensbeteiligten zur Erreichung dieses Ziels zuzumuten? So gut wie keine, urteilte der BFH im August. In dem Verfahren musste der im Gerichtssaal anwesende Geschäftsführer der Klägerin eine halbe Drehung um 180 Grad durchführen, um die per Video zugeschalteten Beteiligten auf dem hinter ihm an der Wand hängenden Bildschirm zu sehen (Beschl. v. 18.08.2023, Az. IX B 104/22).
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Bereits ein skeptisches Hochziehen der Augenbrauen oder ein leichtes Nicken des Gegenübers können für die weitere Verhandlungstaktik der Parteien entscheidend sein. Dies sah auch der BFH in der "180 Grad-Rechtsprechung" so und entschied, dass die erforderliche zeitgleiche Wahrnehmung nicht gewährleistet sei. Während der Videoverhandlung müsse auch die nonverbale Kommunikation der Verfahrensbeteiligten zu jeder Zeit sichtbar sein.
Nichterscheinen im virtuellen Raum
Neben der Frage der Sichtbarkeit der Verfahrensbeteiligten beschäftigt die Gerichte auch folgendes: Was passiert, wenn die Videoverhandlung aus technischen Gründen nicht zustande kommt? Jeder kennt’s: Die Internetverbindung ist instabil, das eigene Bild ist stark verpixelt zu erkennen, hängt Sekunden hinterher oder erscheint erst gar nicht. Scheitert die Bild- und/oder Tonübertragung aufgrund von technischen Problemen – vorgeschoben oder nicht – stellt sich die Frage nach den Folgen des "virtuellen Ausbleibens" des Verfahrensbeteiligten.
Auf das Nichterscheinen in der virtuellen Welt sind nach einhelliger Auffassung die Vorschriften über das Versäumnisurteil (§§ 330 ff ZPO) anwendbar. Nicht unumstritten in Rechtsprechung und Literatur ist aber der Rest: Was bedeutet Säumnis im Rahmen des § 128a ZPO? Wie ist der Fall zu behandeln, wenn die Verbindung während der Verhandlung abbricht? Wann ist die gescheiterte virtuelle Teilnahme unverschuldet? Was, wenn man die Partei hören, aber nicht sehen kann?
Überprüfung der Technik ist Sorgfaltspflicht
Letztere Frage beschäftigte vor Kurzem das Landgericht Bielefeld. In dem Fall konnte eine Partei zwar den Ton, aber von Beginn an kein Bild in den Sitzungssaal übertragen. Die Partei sei säumig gewesen, entschied das Landgericht (Urt. v. 25.09.2023, Az. 3 O 219/20). Ein Anwalt müsse vor der Teilnahme an einer Videoverhandlung überprüfen, ob die Ton- und Bildübertragung auch funktioniert. Dazu gehöre es, die Kompatibilität der eigenen Webcam mit dem Videokonferenzsystem der Justiz sicherzustellen – und zwar bevor es mit der Verhandlung losgeht. Da der Anwalt dieser berufsbedingten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und sein Mandant sich dieses Verhalten zurechnen lassen muss, habe er den Termin schuldhaft versäumt. Das Gericht erließ ein Versäumnisurteil.
Zu einem anderen Ergebnis kam das Oberlandesgericht (OLG) Celle in einem Verfahren im September 2022. In diesem Fall scheiterten der Anwalt und sein Mandant beim Versuch, die in der Kanzlei installierten Videokonferenzanlage mit dem Gericht zu verbinden. Die Gründe dafür blieben ungeklärt. Das OLG urteilte, dass die beiden aus der Kanzlei im Videotermin nicht schuldhaft säumig gewesen seien. Ihre Seite habe durch Versicherung an Eides statt glaubhaft machen können, dass sie alle Vorbereitungen für den Videotermin getroffen hatten. Die Ursache für die technische Störung der Videoverhandlung blieb ungeklärt und konnten keiner Partei zugerechnet werden (Beschl. v. 15.9.2022, Az. 24 W 3/22). Das Gericht stellte klar, dass bei der Beurteilung eines Verschuldens der Normzweck des § 128a ZPO berücksichtigt werden müsse. Die Nutzung der Teilnahme per Video dürfe für den Verfahrensbeteiligten kein größeres Risiko darstellen, als persönlich im Sitzungssaal zu erscheinen. Aufgrund des Nichterscheinens des Beklagten, vertagte das Gericht die Verhandlung.
Ein Gesetzentwurf ist bereits auf dem Weg
Der Gesetzgeber strebt an, dass in deutschen Gerichtsverfahren noch stärker als bisher von der Videokonferenztechnik Gebrauch gemacht wird. Das Bundeskabinett hat im Mai 2023 einen entsprechenden BMJ-Gesetzentwurf beschlossen. Der sieht ein Recht der Verfahrensbeteiligten auf Videoverhandlung vor. Außerdem soll die Anwesenheit des Spruchkörpers im Gerichtssaal entbehrlich werden. Um den Druck vom Einsatz der Videokonferenztechnik im Gerichtssaal zu nehmen, setzt der Entwurf in Zukunft auf webbasierte Anwendungen. Dann könnte das Gericht am Laptop verhandeln.
"Die praktischen Erfahrungen mit dem Einsatz von Videokonferenztechnik haben Anpassungs- und Konkretisierungsbedarf bei den seit langen unveränderten verfahrensrechtlichen Grundlagen aufgezeigt", heißt es in der Zielsetzung des Entwurfs. Nicht nachgeschärft werden die inhaltlichen Voraussetzungen. Sie bleiben wohl weiterhin Sache der Rechtsprechung – und uns kuriose Urteile rund um "Wahrnehmungen aus dem Augenwinkel" und halbe Drehungen vor der Richterbank erhalten.
Was gilt in der Videoverhandlung?: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53049 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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