Ein verhängnisvoller Anwendungsfehler beim Videobeweis könnte zur Neuansetzung der Partie Dortmund gegen Köln führen. Aussichtslos wäre ein Kölner Protest nicht, meint Christian Deckenbrock. Aber die Hürden sind sehr hoch.
Mit der Einführung des Videobeweises in der Fußball-Bundesliga sollte alles besser werden. Nach nicht einmal vier Spieltagen sehen sich viele in ihrer Skepsis gegenüber dem Versuch, durch Technik mehr Gerechtigkeit zu erreichen, bestätigt.
Seine fehlerhafte Anwendung könnte sogar zu einer Neuansetzung führen. Der 1. FC Köln hat allerdings noch nicht endgültig entschieden, ob er den angekündigten Einspruch gegen die Spielwertung des Meisterschaftsspiels gegen Borussia Dortmund vom Sonntag, das mit 5:0 endete, tatsächlich einlegen wird. Dafür habe man 48 Stunden Zeit und sei noch in der Findungsphase, unter anderem kläre man die Rechtslage. Bis dahin wolle man keine Wasserstandsmeldungen abgeben, sagte eine Sprecherin des Vereins gegenüber LTO.
Auslöser des möglichen Protests war das zweite Tor der Dortmunder in der Nachspielzeit der ersten Hälfte. Nach einem Eckball gingen neben dem Kölner Torwart Timo Horn mit seinem Teamkollegen Dominique Heintz und dem Dortmunder Sokratis zwei weitere Akteure zum Ball.
Dabei kam es zu verschiedenen Körperkontakten, an deren Ende Timo Horn den Ball fallenließ und Sokratis die Gelegenheit zum Torschuss hatte. Kurz bevor der Ball die Torlinie überquerte, entschied Schiedsrichter Patrick Ittrich auf Stürmerfoul, weil er einen regelwidrigen Einsatz des Spielers Sokratis ausgemacht hatte.
Obwohl der Pfiff das Spiel eigentlich noch vor dem Torerfolg unterbrochen hatte, kam es zu einer Überprüfung der Szene durch den Video-Assistenten Dr. Felix Brych. Dieser konnte offenbar kein Stürmerfoul erkennen, sondern ging davon aus, dass der Kölner Horn in erster Linie durch seinen Mitspieler Heintz behindert worden sei, und plädierte für die Anerkennung des Dortmunder Tores – auch weil in das Kölner Video-Assist-Center Geräusche und daher auch der Pfiff des Unparteiischen nicht übertragen wurden. Patrick Ittrich als letztverantwortlicher Schiedsrichter übernahm diese Entscheidung, unter wütenden Protesten der Kölner. Nun stand es 2:0 für die Borussia.
Anfechtbarer Regelverstoß oder unanfechtbare Tatsachenentscheidung?
Ein Einspruch der Kölner gegen die Spielwertung des Meisterschaftsspiels wäre gemäß § 17 Nr. 2 c der Rechts- und Verfahrensordnung des DFB (RuVO DFB), den § 13 Nr. 2 c der Spielordnung der Deutschen Fußball-Liga (SO DFL) wortgleich wiederholt, statthaft bei einem "Regelverstoß des Schiedsrichters, wenn der Regelverstoß die Spielwertung als verloren oder unentschieden mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hat".
Ein Regelverstoß setzt dabei voraus, dass der Schiedsrichter auf einen von ihm festgestellten Sachverhalt eine tatsächlich nicht existierende Regel anwendet. Um eine Tatsachenentscheidung handelt es sich dagegen, wenn der Unparteiische zwar an sich die richtige Regel anwendet, aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers aber von einem falschen Sachverhalt ausgeht. Während Wahrnehmungsfehler als Tatsachenentscheidungen unanfechtbar sein sollen, ist ein Regelverstoß grundsätzlich mit Rechtsmitteln angreifbar. Grund dafür ist, dass Entscheidungen eines Schiedsrichters, der das Regelwerk nicht beherrscht, nicht als schützenswert angesehen werden.
Die Einlassung des Schiris entscheidet
Die Abgrenzung zwischen Regelverstoß und Tatsachenentscheidung ist dabei nicht immer so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Klar ist, dass der Pfiff eines Schiedsrichters nach Fußballregel 09 das Spiel unterbricht, ein gültiges Tor daher nicht mehr erzielt werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Pfiff zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist. Es ist auch ohne Bedeutung, dass die Kölner so oder so nicht mehr hätten eingreifen können, nachdem Ittrich gepfiffen hatte.
Das Tor der Dortmunder hätte also nicht anerkannt werden und auch der Videobeweis hätte hieran nichts mehr ändern dürfen. Ob es sich um einen anfechtbaren Regelverstoß oder um eine unanfechtbare Tatsachenentscheidung handelt, entscheiden aber nicht die Videobilder, sondern in erster Linie die Einlassung des betroffenen Schiedsrichters und daher seine subjektive Wahrnehmung.
Erklärt Schiedsrichter Ittrich etwa, dass aus seiner Sicht der Ball schon die Linie überquert hatte, bevor er zum Pfiff ansetzte, müsste man ihm eine bewusste Falschaussage unterstellen, wenn man dennoch von einem Regelverstoß ausgehen wollte. Immerhin ging es hier letztlich um eine Zentimeterentscheidung, so dass eine derartige Einlassung nicht ohne weiteres als reine Schutzbehauptung abgetan werden kann. Auch erscheint es wenig wahrscheinlich, dass ein Erstligaschiedsrichter erklärt, die Regel, nach der ein Pfiff das Spiel unterbricht, nicht gekannt oder falsch angewendet zu haben. Aufklärung wird hier allerdings erst die Einlassung des Schiedsrichtergespanns im sportgerichtlichen Verfahren bringen. Eine öffentliche Stellungnahme haben die beteiligten Unparteiischen bislang mit Hinblick auf das mögliche sportgerichtliche Verfahren abgelehnt.
2/3: Entscheidungen des Video-Assistenten nicht per se unangreifbar
Zum Teil wird, weil die Entscheidung auf Tor auf dem Einschreiten des Video-Assistenten Brych beruhte, auch auf das für den Einsatz des Video-Assistenten von dem International Football Association Board (IFAB) verabschiedete Protokoll verwiesen. Dort heißt es unter anderem, dass ein Spiel „nicht ungültig aufgrund falscher Entscheidungen“ ist, die den Video-Assistenten betreffen. Mit dieser Formulierung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass dieser nicht den Status eines Oberschiedsrichters hat, sondern die letztendliche Entscheidung stets dem Feld-Schiedsrichter obliegt. Grundsätzlich fallen daher auch Entscheidungen des Unparteiischen, die unter Zuhilfenahme des Video-Assistenten getroffen worden sind, unter den Schutz der unanfechtbaren Tatsachenentscheidung.
Meiner Ansicht nach kann man aber diesem Passus nicht entnehmen, dass solche Entscheidungen von vornherein nicht angreifbar sein sollen. Letztlich kann es keinen Unterschied machen, ob der Schiedsrichter zu der Torentscheidung nach Rücksprache mit dem Videoassistenten oder einem der Schiedsrichterassistenten an der Linie gekommen ist. Entscheidend muss allein sein, ob dem Unparteiischen bewusst war, dass der Pfiff erfolgt ist, bevor der Ball die Torlinie überschritten hat. Denn Gegenstand des sportgerichtlichen Verfahrens wäre nicht ein Regelverstoß des Video-Assistenten, sondern des Feld-Schiedsrichters.
Der Unmut der Kölner beruht auch darauf, dass der Video-Assistent sich eigentlich nur bei klaren Fehlentscheidungen auf dem Platz einschalten soll. In der fraglichen Szene erschien die ursprüngliche Entscheidung von Schiedsrichter Ittrich zumindest vertretbar. Dieses Argument verspricht allerdings von vornherein keine Aussicht auf Erfolg. Denn die „klare Fehlentscheidung“ ist als unbestimmter Rechtsbegriff einer eindeutigen Abgrenzung nicht zugänglich. Was eine klare Fehlentscheidung ist und was nicht, kann in einem sportgerichtlichen Verfahren richtigerweise nicht überprüft werden.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit die Spielwertung beeinflusst?
Selbst wenn dem 1. FC Köln es gelingt, das Vorliegen eines Regelverstoßes nachzuweisen, sind weitere Klippen zu überwinden. Damit ein Regelverstoß eine Neuansetzung rechtfertigt, muss er die Spielwertung als verloren oder unentschieden mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst haben.
„Hohe Wahrscheinlichkeit“ ist mehr als die „bloße Möglichkeit“ einer Spielbeeinflussung. Auch genügt es nicht, dass das Ergebnis ohne den Regelverstoß ein anderes gewesen wäre (4:0 statt 5:0?), sondern der betroffenen Mannschaft muss mit hoher Wahrscheinlichkeit die Chance genommen worden sein, das Spiel zumindest mit einem Unentschieden zu beenden. Daran darf man angesichts des desaströsen Auftritts der Kölner und des doch sehr deutlichen Endergebnisses nachvollziehbar zweifeln.
Andererseits muss die Kausalität des Regelverstoßes für das Spielergebnis stets zum Zeitpunkt des Vorfalls beurteilt werden. Immerhin wären die Kölner ohne die Anerkennung des zweiten Tores Köln mit einem sicher aufholbaren Rückstand von 0:1 in die Halbzeit gegangen. Letztlich lässt sich nur spekulieren, wie das Spiel ohne die regelwidrige Anerkennung des Tores verlaufen wäre.
Erfolgreicher Einspruch: Neues Spiel, neues Glück – grundsätzlich
Bei einem erfolgreichen Einspruch ist nach § 17 Nr. 6 RuVO DFB (= § 13 Nr. 6 SO DFL) das betreffende Meisterschaftsspiel in aller Regel neu auszutragen. Nicht vorgesehen ist dagegen die Wiederholung nur der Spielzeit nach dem Regelverstoß. Diese Rechtsfolge ist grundsätzlich nachvollziehbar, liegt doch zwischen dem mit Rechtsmitteln angegriffenen Spiel und der Neuansetzung ein längerer Zeitraum, in dem sich Spieler verletzt haben oder gesperrt worden sein können. Es ist daher schon praktisch in aller Regel unmöglich, die Situation so nachzustellen, wie sie sich zum Zeitpunkt des Regelverstoßes dargestellt hat.
Hinweise darauf, dass andere Sportverbände – insbesondere bei Wettbewerben in Turnierform – das anders handhaben oder dass die UEFA im Jahr 2015 die letzten Minuten eines EM-Qualifikationsspiel der U-19-Frauen zwischen England und Norwegen als Folge eines Regelverstoßes wiederholen ließ, führen angesichts dieser eindeutigen Regelung in der RuVO DFB nicht weiter. Aber selbst dann, wenn das Sportgericht einen Regelverstoß bejahen sollte, der das Spielergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hat, bedeutet dies noch nicht, dass es zwingend zur Neuansetzung kommt. Denn es gibt einen 20 Jahre alten Präzedenzfall.
3/3: Oder entscheidet am Ende die FIFA?
Im am 5. August 1997 ausgetragenen Bundesligaspiel zwischen 1860 München und dem Karlsruher SC unterbrach Schiedsrichter Michael Malbranc das Spiel durch einen Pfiff wegen eines Foulspiels eines Müncheners. Auf den nach dem Pfiff erfolgten Schuss eines Karlsruher Spielers erkannte er gleichwohl auf Tor zum 2:2. Obwohl Malbranc angab, er habe "die Wahrnehmung gehabt, erst nach dem Tor gepfiffen zu haben", setzte die DFB-Sportgerichtsbarkeit das Spiel wegen eines Regelverstoßes des Schiedsrichters neu an.
Die FIFA sah dies anders und wies den DFB an, von einer Wiederholung des Spiels abzusehen, da "Entscheidungen, die ein Schiedsrichter während einer Begegnung fällt und die den Verlauf des Spieles betreffen, Tatsachentscheidungen sind". Der internationale Fußballverband hat jedenfalls in dem damals beurteilten Sachverhalt den Begriff der Tatsachenentscheidung weiter ausgelegt als der DFB. Auf internationaler Ebene wurde also eine Abgrenzung zum Regelverstoß nicht vorgenommen, sondern jede Entscheidung des Schiedsrichters als unanfechtbar angesehen.
Die RuVO DFB sieht zwar nach wie vor eine Differenzierung von Tatsachen- und Regelverstoß vor; ergänzt wurde allerdings mittlerweile eine Bestimmung, nach der rechtskräftige Entscheidungen auf Spielwiederholungen der FIFA vorzulegen sind. Denkbar ist es daher, dass auch nun, sollte der FC Einspruch einlegen und damit nach Ansicht des DFB-Sportgerichts Erfolg haben, die FIFA das letzte Wort über eine Neuansetzung haben wird.
Insoweit müsste dann abgewartet werden, ob die FIFA an einer weiten Auslegung der Tatsachenentscheidung festhält. Vermutlich wird auch insoweit das Ergebnis von der Einlassung des Unparteiischen abhängen. Soweit er behauptet, dass er aus seiner Sicht erst nach dem Überschreiten der Torlinie gepfiffen hat, wird die FIFA wohl kaum eine Neuansetzung akzeptieren.
Sollte der Schiedsrichter dagegen einen Regelverstoß eingestehen, erschiene es fragwürdig, wenn sie gleichwohl zu seinem Schutz eine Spielwiederholung ablehnen würde. Immerhin kam es 2015 zu der schon angesprochenen Spielwiederholung des U-19-EM-Qualifikationsspiels der Frauen zwischen England und Norwegen. Damals hatte die deutsche Schiedsrichterin Marija Kurtes beim Stand von 2:1 für Norwegen in der 96. Minute einen Elfmeter für England gegeben. Als eine englische Spielerin den Ball zum vermeintlichen Ausgleich im norwegischen Tor versenkte, entschied Kurtes – weil eine englische Mitspielerin zu früh in den Strafraum lief – auf Freistoß für Norwegen und nicht – wie von den Regeln vorgesehen – auf Wiederholung des Elfmeters.
Wie gerecht könnte ein neues Spiel sein?
Unabhängig vom Ausgang des sportgerichtlichen Verfahrens spricht viel dafür, durch eine Änderung von RuVO DFB und SO DFL künftig auch bei Regelverstößen – solange kein Fall der vorsätzlichen Spielmanipulation vorliegt – die Möglichkeit auszuschließen, das Spiel neu anzusetzen.
Es gibt – auch mit dem Videobeweis – so viele gravierende Fehlentscheidungen, die im Nachhinein nicht geändert werden können. Warum also sollte nun gerade in diesem Fall eine Korrektur erfolgen? Ob ein Regelverstoß wegen weniger Zentimeter oder wie damals beim Hoffenheimer Phantomtor eine krass falsche Tatsachenentscheidung vorliegt, ist aus Sicht des Betroffenen doch letztlich egal.
Zudem bleiben Zweifel, ob ein Wiederholungsspiel wirklich ein Mehr an Gerechtigkeit bedeutet. Im Fall von Köln gegen Dortmund würde eine Neuansetzung nämlich die Borussia erheblich benachteiligen, die zum Zeitpunkt des vermeintlichen Regelverstoßes immerhin mit 1:0 zur Halbzeit geführt hätte. Die Wahrscheinlichkeit eines Dortmunder Sieges war damit deutlich höher, als wenn man nun die Uhren auf Null setzen und erneut 90 Minuten spielen lassen würde.
Und der Videobeweis?
Schließlich stellt sich die Frage nach der Zukunft des Videobeweises. DFL und DFB werden eingestehen müssen, dass auch ein einjähriges intensives Training nicht ausgereicht hat, um an den ersten Spieltagen zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Technikprobleme und einige zweifelhafte (Nicht-)Entscheidungen lassen auch heute die Diskussionen nicht verstummen.
Dass es nun aufgrund des Einsatzes des Video-Assistenten zu einer regeltechnisch fehlerhaften Entscheidung gekommen ist, die zumindest das Vorliegen eines Regelverstoßes vermuten lässt, gibt den Gegnern des Videobeweises weiteren Auftrieb.
Nach vier Spieltagen ein endgültiges Urteil über den Videobeweis fällen zu wollen, ist aber sicherlich zu früh – zumal jedem, der den Einsatz von Technologie in anderen Sportarten aufmerksam beobachtet hat, klar sein musste, dass es auch weiterhin zu kontroversen Entscheidungen bis hin zu einer Fehlbewertung durch den Video-Assistenten kommen wird. Letztlich entscheiden am Ende Menschen, die vor Fehlern bekanntlich nicht gefeit sind. Nach Abschluss der Saison lässt sich schon eher beurteilen, ob der Videobeweis – trotz eines so spektakulären Falls wie demjenigen vom Sonntag – nicht auch sehr viele krasse Fehlentscheidungen von Unparteiischen vermeiden konnte und so doch für insgesamt mehr Gerechtigkeit auf dem Platz gesorgt hat.
Der Autor Dr. Christian Deckenbrock ist Akademischer Rat am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln. In seiner Freizeit ist er nicht nur Fan des 1. FC Köln, sondern auch Schiedsrichter in den Feld- und Hallenhockeybundesligen und als Turnieroffizieller bei internationalen Hockeyturnieren, etwa bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro, im Einsatz.
Christian Deckenbrock, Nach dem Videobeweis-Fehler: Welche Chancen hätte Kölns Protest? . In: Legal Tribune Online, 18.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24575/ (abgerufen am: 02.12.2023 )
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