Ist eine Gesichtsverschleierung beim Autofahren für muslimische Frauen ausnahmsweise zulässig? Darüber muss nun das VG Berlin entscheiden. Andere Verwaltungsgerichte haben bislang Ausnahmen abgelehnt, aber nicht jedes Argument akzeptiert.
Für die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht (VG) Berlin geht es am Montag darum, ihren Alltag in Übereinstimmung mit ihren religiösen Überzeugungen zu meistern. Sie möchte ihre Religionsausübungsfreiheit auch im Straßenverkehr wahrnehmen. Für sie würde das bedeuten, hinterm Steuer eines Kraftfahrzeugs einen Niqab zu tragen. Das ist eine Gesichtsverschleierung, die das gesamte Gesicht bis auf die Augen verdeckt.
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) aber sieht in der Vollverschleierung eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs. Grundsätzlich verbietet § 23 Abs. 4 S. 1 StVO dem Autofahrer, das Gesicht "so zu verhüllen oder zu verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist". Die zuständige Behörde kann Ausnahmen zulassen. Das geht nach § 46 Abs. 2 S. 1 StVO aber nur "für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller".
Kein besonderer Härtefall
Das setzt nach der Rechtsprechung einen besonderen Härtefall voraus. Die betroffenen Frauen haben bisher immer geltend gemacht, dass eine solche Ausnahmesituation aus religiösen Gründen vorliege: Das Tragen des Niqab wurzele in einer religiösen Überzeugung, Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Grundgesetz (GG) gewährleiste die umfassende Religionsfreiheit, sodass eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden müsse.
Obwohl die Gerichte religiöse Gründe als Ausgangspunkt für eine umfassende Ermessensentscheidung anerkennen, sind die ablehnenden Entscheidungen der Behörden in NRW und Rheinland-Pfalz bisher von den Gerichten im Grundsatz bestätigt worden. Der Eingriff in die Religionsfreiheit durch das Verhüllungsverbot sei gerechtfertigt. Die Vorschrift diene der Sicherheit des Straßenverkehrs und damit auch dem Schutz von Grundrechten Dritter auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum.
Nonverbale Kommunikation ist kein Schutzgut des Straßenverkehrs
Typischerweise werden von den Behörden drei Argumente vorgebracht, weshalb der Niqab die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtige. Erstens könnten die Frauen bei automatisierten Verkehrskontrollen nicht identifiziert werden. Zweitens beeinträchtige der Schleier die Rundumsicht, da er die Augen seitlich begrenze. Drittens verhindere er deshalb auch die nonverbale Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern.
Jedoch werden nicht alle diese Argumente von den überprüfenden Gerichten als zutreffend anerkannt. Das dritte Argument hat das OVG NRW in seinem Urteil vom 5. Juli.2024 (Az. 8 A 3194/21), über das LTO berichtete, entkräftet. Die StVO messe der nonverbalen Kommunikation keinerlei Bedeutung bei. "Ungeachtet der ohnehin bestehenden Gefahr von Missverständnissen" im Straßenverkehr, sei nonverbale Kommunikation auf große Entfernungen und bei Dunkelheit "gänzlich unmöglich". Das OVG NRW stellt fest: Das Verhüllungsverbot zielt erst gar nicht darauf ab, die nonverbale Kommunikation zwischen Verkehrsteilnehmern zu gewährleisten.
Damit hatte die Klägerin aus NRW einen kleinen Erfolg erzielt. Der Topos der nonverbalen Kommunikation als unverzichtbare Voraussetzung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens wird nämlich immer wieder aufgegriffen. Als das OVG Rheinland-Pfalz im August über eine Ausnahmegenehmigung für den Niqab am Steuer zu entscheiden hatte, spielte dieses Argument sodann keine Rolle mehr (Az. 7 A 10660/23.OVG). LTO berichtete.
OVG: Seitenblick ist sichergestellt
Was das zweite Argument – der Niqab beeinträchtige die Rundumsicht – angeht, entschied das OVG NRW: Die Regelung ziele zwar darauf ab, Sichtbeschränkungen zu verhindern. Jedoch schränke der Niqab die Sicht der Autofahrerin nicht ein. Dies stellte das Gericht nach einer Inaugenscheinnahme fest. Der Senat des OVG hat sich den Schleier für diese Feststellung einmal genauer angesehen und kam zu dem Ergebnis, dass der Schleier die Augen der Fahrerin nicht verdeckt. Da die Augenpartie frei bleibt, sei auch ein Blick zur Seite sichergestellt. "Der Schleier wird durch eine Schleife am Hinterkopf befestigt, die ein Verrutschen grundsätzlich verhindert", beobachtet der Senat des OVG im Rahmen seiner Inaugenscheinnahme. Das gewährleiste auch die Durchführung von "verkehrstypischen Manövern" wie dem Schulterblick.
Natürlich könnte es trotzdem vorkommen, dass das Kleidungsstück verrutscht. Doch das Gericht befindet: Das ist auch bei Brillen, Mützen, Kappen oder Hüten nie völlig ausgeschlossen.
Somit bleibt allein das erste Argument: dass die Identität der Fahrerin mit einem Niqab nicht zweifelsfrei festgestellt werden könnte. Hierbei geht es insbesondere um Lichtbildaufnahmen durch automatisierte Verkehrsüberwachung. Also: Überschreitet die Fahrerin die vorgeschriebene Geschwindigkeit und wird geblitzt, kann nachher nicht festgestellt werden, wer hinterm Steuer saß.
Fahrtenbuch zur Identitätsfeststellung nicht ausreichend
Mit dem Argument, die Identität der Fahrerin muss feststellbar sein, sind jedoch nicht Identitätsfeststellungen im Zusammenhang mit anderen polizeilichen Aufgaben gemeint. Natürlich muss bei einer Verkehrskontrolle kurz nach Grenzübergang die Identität einer vollverschleierten Frau feststellbar sein. Das ist jedoch schon auf anderem Wege sichergestellt: Wenn etwa die Bundespolizei im Rahmen ihrer Aufgabe des Grenzschutzes die Identität einer vollverschleierten Person feststellen muss, kann sie nach § 23 Abs. 3 S. 1 Bundespolizeigesetz die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen treffen. Das kann dann auch beinhalten, dass eine Person angehalten und verlangt wird, ihr Gesicht zu zeigen, um die Übereinstimmung mit den Ausweisdokumenten zu überprüfen. Auch bei einer potenziellen Ausnahmegenehmigung wäre die Durchführung solcher Maßnahmen weiterhin sichergestellt.
Zu dem Bedürfnis der Identitätsfeststellung haben die Klägerinnen vor den unterschiedlichen Gerichten vorgebracht, das Führen eines Fahrtenbuches könne ein alternatives Mittel darstellen. Bei der Bewertung dieser Alternative sind sich jedoch beide Oberverwaltungsgerichte einig: Bei der Verpflichtung, ein Fahrtenbuch zu führen, "handelt es sich nicht um ein (annähernd) gleich geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr", so das OVG NRW, dessen Bewertung sich das OVG Koblenz anschließt. Damit ist für das VG Berlin absehbar, dass es sich am Montag hauptsächlich mit der verhinderten Identitätsfeststellung als Verbotsgrund beschäftigen muss.
Der Niqab als gesellschaftlicher Triggerpunkt
Der Niqab trifft einen wunden Punkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dabei kollidieren das Ideal einer offenen Gesellschaft und ein freies Frauenbild mit der freien Religionsausübung und einer ganz eigenen Vorstellung der verschleierten Frauen davon, was Selbstbestimmung bedeutet.
Dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Konflikt weiterhin aktuell ist, zeigen die verschiedenen Lebensbereiche, in denen immer wieder heftig um dieses Stück Stoff gestritten wird: Eine Niqab tragende Studentin in Kiel löste in Schleswig-Holstein ein Debatte über ein gesetzliches Verbot der Vollverschleierung an Hochschulen aus. In Hamburg durfte zuletzt eine 16-jährige Schülerin mangels gesetzlicher Grundlage weiterhin mit der Vollverschleierung zur Schule gehen, wohingegen das VG Düsseldorf kürzlich der Schülerin eines Berufskollegs die Teilnahme am Unterricht mit Niqab untersagte. Das VG hielt ein gesetzliches Verbot nicht für notwendig, da nach § 42 Abs. 3 Schulgesetz NRW eine Pflicht bestehe, an der Erreichung der Erziehungsziele mitzuwirken. Das sei aber unmöglich, wenn nicht eine offene Kommunikation möglich sei. 2016 wurde das Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung verabschiedet und schließt seitdem Gesichtsschleier für Beamt:innen und Soldat:innen aus und trifft Vorschriften für das Dokumenten- und Wahlrecht (BGBl. I 2017, S. 1570).
In Belgien und Frankreich (Gesetz Nr. 2010-1192 vom 11.10.2010) dagegen ist der Gesichtsschleier im gesamten öffentlichen Raum untersagt. Auch die Anrufung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) blieb in beiden Fällen erfolglos. Wie LTO 2014 und 2017 berichtete, untersagte der Gerichtshof es den beiden Ländern jeweils, sich auf die Geschlechtergerechtigkeit zu berufen, um eine Praxis zu verbieten, die von Frauen selbst umgesetzt und befürwortet werde. Er erkannte jedoch die öffentliche Sicherheit als legitimes Ziel an, ebenso wie die "Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben" im Sinne eines "vivre ensemble".
Der EGMR gestand den Ländern damit mangels einer gemeinsamen europäischen Auffassung über das Tragen eines Gesichtsschleiers eine eigene Regelung zu. Es sei nachvollziehbar, dass Personen im öffentlichen Raum nicht mit Lebensweisen konfrontiert werden wollen, die die "Möglichkeit einer offenen zwischenmenschlichen Beziehung" ablehnten oder grundsätzlich in Frage stellten. Schließlich sei ein offener Umgang miteinander ein "unverzichtbares Element gemeinschaftlichen Zusammenlebens". Der Niqab sei jedoch eine "Barriere", die einen solchen Umgang von vornherein verhindere. Und das könne, so der EGMR, auch als Verletzung des Rechtes Dritter erachtet werden, "in einem Raum der Sozialisation zu leben, der das Zusammenleben" ermögliche. Frauen, die den Niqab tragen, klammern sich nach Auffassung des EGMR also selbst aktiv aus dem gesellschaftlichen Miteinander aus. Alle anderen haben aber ein Recht darauf, dass sich jeder, der sich im öffentlichen Raum bewegt, auch am offenen Miteinander beteiligt.
Wie sich die 11. Kammer des VG Berlin bei der Abwägung in der Niqab-Debatte positionieren wird, bleibt abzuwarten. Die Oberverwaltungsgerichte in Münster und Koblenz haben jedenfalls schon deutlich gemacht, dass es für eine StVO-Ausnahmegenehmigung – anders als beim EGMR – allein auf Sicherheitserwägungen ankommt.
Niqab am Steuer erneut Streitgegenstand: . In: Legal Tribune Online, 14.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56329 (abgerufen am: 13.02.2025 )
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