Irischer Palästina-Aktivist im Eilverfahren erfolgreich: Ver­wal­tungs­ge­richt Berlin stoppt dro­hende Abschie­bung vor­erst

von Dr. Max Kolter

11.04.2025

Berlin will vier propalästinensische Aktivisten wegen Gewaltbereitschaft ausweisen, ohne dass es eine strafrechtliche Verurteilung gibt. Die brauche es nicht, entschied nun das VG Berlin, stoppte eine drohende Abschiebung aber trotzdem.

Drei EU-Bürger und eine US-amerikanische Person sollen nach Teilnahme an propalästinensischen Protesten, insbesondere einer gewaltsamen Uni-Besetzung, aus Deutschland ausreisen. Nun war einer der Betroffenen vor Gericht erfolgreich. Das Berliner Verwaltungsgericht (VG) gab dem Eilantrag des Iren Shane O'Brien am Donnerstag statt, der Beschluss (v. 10.04.2025, Az. 24 L 91/25) liegt LTO vor. Formal wird damit die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Berliner Landesamts für Einwanderung (LEA) wiederhergestellt. Bis das VG über diese Klage in der Hauptsache (Az. 24 L 92/25) entschieden hat, darf der 29-Jährige in Deutschland bleiben.

Den Bescheid hatte das LEA Anfang März erlassen. Darin entzog die Ausländerbehörde dem Iren die Freizügigkeit in der EU. Bis zum 21. April muss er Deutschland demnach verlassen, für den Fall der Nichtausreise wird die Abschiebung angedroht. Zudem verhängte das LEA ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot für drei Jahre und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Diesen Sofortvollzug konnte O'Brien nun stoppen. Der Bescheid sei zwar nicht offensichtlich rechtswidrig, allerdings hat das Gericht "ernstliche Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit".

Im Wesentlichen inhaltsgleiche Bescheide hat die Behörde gegen zwei weitere EU-Bürger erlassen, wie LTO bereits berichtete. Gegen die US-amerikanische Person Connor Longbottom erging ein Ausweisungsbescheid, der mit einem Einreiseverbot in den gesamten Schengen-Raum verbunden ist. Begründet wurden die Entscheidungen in allen vier Fällen mit der Teilnahme an der Besetzung des Präsidiumsgebäudes der Freien Universität (FU) Berlin am 17. Oktober 2024. Das Landeskriminalamt (LKA) ermittelt wegen schweren Landfriedensbruchs. Im Fall von O'Brien und den anderen Unionsbürgern geht es auch um weitere, weniger schwerwiegende demonstrationstypische Delikte im Zusammenhang mit propalästinensischen Protesten. Allerdings liegt bislang in keinem Fall eine strafrechtliche Verurteilung vor. 

Die brauche es zwar nicht, so die 24. Kammer des VG nun. Allerdings müsse die Behörde eigene Ermittlungen anstellen, was sie hier nicht in ausreichendem Maße getan habe.

Ausländerbehörde hätte Akten der Staatsanwaltschaft anfordern müssen

Das LEA "ist im Verwaltungsverfahren bereits seiner Amtsaufklärungspflicht nicht in ausreichendem Maße nachgekommen", moniert das Gericht. In O'Briens Vorgangsakte befänden sich nur der Entwurf eines Strafbefehls der Amtsanwaltschaft Berlin wegen des Vorwurfs der Beleidigung, zwei Strafanzeigen in Bezug auf die "Besetzung" des FU-Präsidiums und ein zusammenfassender Bericht des Berliner LKA zu den 17 laufenden Strafverfahren. 

Diese Unterlagen seien "für eine gerichtliche Überzeugungsbildung, der Antragsteller habe die ihm vorgeworfenen Taten begangen, ungeeignet", so das Gericht. Denn: "Der LKA-Bericht vom 25. November 2024 gibt schlicht polizeiliche Tatvorwürfe wieder." Das Gericht moniert, dass das LEA versäumt habe, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft anzufordern. Es weist darauf hin, dass selbst der im Bescheid zitierte LKA-Bericht klarstellt: "Um eine abschließende Bewertung zu treffen, ist es unerlässlich, die Ermittlungsakten bei der Staatsanwaltschaft anzufordern."

Damit stellt das Gericht klar, dass auch ein schwerwiegender strafrechtlicher Vorwurf den Entzug der EU-Freizügigkeit nicht rechtfertigen kann, wenn der Ermittlungsstand nicht hinreichend gesichert ist. Der mit Abstand schwerwiegendste Vorwurf in den Bescheiden gegen die vier Aktivisten ist die Beteiligung an der gewaltsamen Stürmung des FU-Präsidiumsgebäudes am Oktober. Das LKA bewertet das Geschehen als schweren Landfriedensbruch, darauf stehen nach § 125a Strafgesetzbuch (StGB) sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsstrafe.

Die 24. Kammer betont hierzu insbesondere, dass sich der Grad der Tatbeteiligung aus den Unterlagen nicht ersehen lasse. Auch zwei polizeiliche Anzeigen zum Geschehen an der FU genügten für sich genommen nicht für den "Nachweis für die Tatbeteiligung". Tatsächlich ordnet das LEA in den Bescheiden, die LTO vorliegen, die vielen im Rahmen der Besetzung des Gebäudes verübten Gewaltakte den vier Betroffenen nicht individuell zu.

Das brutale Vorgehen der Aktivisten an der FU

Was am 17. Oktober 2024 an der FU passiert ist, wird zudem durchaus unterschiedlich dargestellt. Laut einer Antwort des Berliner Senats auf eine Kleine Anfrage vom November sollen etwa 40 Personen das Gebäude gestürmt haben. "Von Seiten der Besetzerinnen und Besetzer wurde der Versuch unternommen, Mitarbeitende aus ihren Büros zu zerren. Die angreifenden Personen waren zudem vermummt und mit Äxten, Sägen, Brecheisen und Knüppeln bewaffnet", heißt es dort.

Die Schilderungen des LKA in den Ausweisungsbescheiden weichen davon ab: Hier ist die Rede von 20 Personen, die sich Zugang zum Gebäude verschafft, dort Wände beschmiert und die Technik zerstört hätten. Sie sollen Brecheisen beziehungsweise "Kuhfüße" bei sich geführt haben. Hiermit sollen sie versucht haben, eine Tür zu einem Raum aufzubrechen, in dem sich ein stark verängstigter FU-Mitarbeiter verschanzt hatte. Äxte, Sägen und Knüppel werden nicht erwähnt. Im Anschluss an die Besetzung kam es zu Festnahmen. Zehn Verdächtige – unter ihnen auch die vier Aktivisten – sollen versucht haben, dies zu verhindern.

Ob das Geschehen im Innern den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllt, ist ebenfalls nicht gesichert. Die Staatsanwaltschaft Berlin teilte auf LTO-Anfrage jedoch mit, auch bei ihnen sei dieses Delikt vermerkt. Ein Ende der Ermittlungen sei aber noch nicht absehbar.

Erforderlich ist für die §§ 125, 125a StGB, dass "Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen" oder entsprechende Drohungen "aus einer Menschenmenge heraus mit vereinten Kräften" begangen werden, und zwar in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise. Im Fall der Besetzung der Humboldt-Universität im Mai 2024 sei dieses Delikt nicht einmal angeklagt worden, sagt O'Briens Rechtsanwalt Benjamin Düsberg. Auch im Fall der Belagerung eines Fähranlegers zum Nachteil von Wirtschaftsminister Robert Habeck im Januar 2024 verneinte die Staatsanwaltschaft ein organisiertes Vorgehen.

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VG: Freizügigkeitsentzug ohne Verurteilung möglich

Wären O'Brien und die übrigen drei Betroffenen von einem Strafgericht wegen § 125a StGB verurteilt worden, dürfte in allen vier Fällen ein Freizügigkeitsentzug (für die EU-Bürger) bzw. eine Ausweisung (für die US-amerikanische Person) möglich sein. Für Letztere bestünde dann ein hohes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1d Buchstabe f Aufenthaltsgesetz. Zwar wäre dies mit den Bleibeinteressen abzuwägen. Jedoch lässt die Rechtsprechung bei der Ausweisung von Nicht-EU-Bürgern auch generalpräventive Gründe zu. Man darf also ausweisen, um andere von der Begehung ähnlicher Taten abzuschrecken.

Für den Entzug der EU-Freizügigkeit gilt das nicht, wie Experten gegenüber LTO betonen. Die einschlägige Rechtsgrundlage, § 6 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU), stelle deutlich höhere Anforderungen. Grund dafür ist laut dem Bielefelder Europarechtler Prof. Dr. Franz C. Mayer, dass das Freizügigkeitsrecht direkt aus den EU-Verträgen folgt, nämlich aus der Unionsbürgerschaft. Ein Entzug der Freizügigkeit sei nur aus Gründen der individuellen Gefahrenabwehr möglich. Zudem muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein "Grundinteresse der Gesellschaft berührt" sein. Das stellt auch § 6 Abs. 2 FreizügG/EU klar. Nach dieser Vorschrift genügt "die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht", um den Freizügigkeitsentzug zu begründen. Vielmehr muss zusätzlich prognostiziert werden, ob die Person eine "tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung" begründet, "die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt".

Über diese Vorschrift hatte es auch innerhalb der Berliner Verwaltung Streit gegeben. Das LEA wollte die Bescheide gegen die drei Unionsbürger nicht ausstellen, da es noch keine strafrechtliche Verurteilung gegen sie gebe. Ausweislich eines E-Mail-Verkehrs, der LTO vorliegt, sprach die Senatsinnenverwaltung dann aber ein Machtwort.

Die 24. Kammer stellte nun klar, dass die Regelung einem Freizügigkeitsentzug ohne vorherige strafrechtliche Verurteilung nicht per se verbiete. Daraus, dass eine strafrechtliche Verurteilung allein zur Begründung einer Verlustfeststellung nicht genügt, folge nicht, "dass es einer strafrechtlichen Verurteilung zwingend bedarf". Aber ein früher Ermittlungsstand, der keine individuelle Zuordnung von Tatbeiträgen ermöglicht, reiche zum Entzug der Freizügigkeit wie in diesem Fall eben nicht.

Andere Verfahren bei anderen Kammern anhängig

Im Übrigen beanstandete das Gericht, dass das LEA hinsichtlich der weiteren Delikte, die O'Brien zur Last gelegt werden, nicht hinreichend geprüft habe, ob die Tat jeweils eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU begründe. Dies sei in sieben Fällen nicht der Fall; diese Taten könnten nur als Ermessenserwägungen herangezogen werden. Das gelte jedenfalls für alle Beleidigungsdelikte (§§ 185 ff. StGB).

Hinsichtlich der Parole "From the River to the Sea", die O'Brien ebenfalls mehrfach gerufen haben sollen, weist das VG auf die ungeklärte Rechtslage hin. Ob die Äußerung als Hamas-Kennzeichen unter die Verwendung von Kennzeichen terroristischer Organisationen nach § 86a StGB fällt, ist unter den Verwaltungs- und Strafgerichten hochumstritten. Zudem stellte die Kammer klar, dass das Delikt "ebenfalls dem unteren Kriminalitätsbereich zuzuordnen" sei.

Die Eilentscheidung der 24. Kammer ist ein vorsichtiger Fingerzeig Richtung Hauptsacheverfahren, in dem die Kammer über O'Briens Anfechtungsklage entscheiden muss. Denkbar ist allerdings auch, dass das LEA den Bescheid aufhebt, die Ermittlungsakten von der Staatsanwaltschaft zum Geschehen an der FU Berlin anfordert und auf Grundlage eines gesicherteren Ermittlungsstandes einen neuen Bescheid erlässt. 

Keine Bindung entfaltet der Beschluss für die anderen drei Betroffenen, deren Verfahren bei unterschiedlichen Kammern anhängig sind. Die zwei anderen Unionsbürger haben allerdings gute Karten, ebenfalls erfolgreich zu sein. Die amerikanische Person Longbottom kann sich wenigstens im Eilverfahren gewisse Hoffnungen machen, hier kommt es aber viel stärker auf die individuellen Bleibeinteressen an. Die sind aber durchaus vorhanden: Longbottom ist liiert, müsste ein laufendes Masterstudium abbrechen und fürchtet sich als trans Person vor einer Rückkehr in die Trump-regierten USA. 

Wann die übrigen Fälle entschieden werden, ist noch offen.

Zitiervorschlag

Irischer Palästina-Aktivist im Eilverfahren erfolgreich: . In: Legal Tribune Online, 11.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56987 (abgerufen am: 22.04.2025 )

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