VG Berlin zu Schmerzgriff gegen Letzte-Generation-Aktivist: Sch­merz­g­renze im Ein­zel­fall über­schritten

von Dr. Max Kolter

20.03.2025

Die Berliner Polizei handelte rechtswidrig, als sie gegen einen Klimaaktivisten der "Letzten Generation" berüchtigte Schmerzgriffe einsetzte. Das entschied am Donnerstag das VG Berlin. Eine Einzelfallentscheidung mit Signalwirkung.

Am 20. April 2023 trugen insgesamt drei Beamte der Berliner Polizei den Klimaaktivisten Lars Ritter von der Straße des 17. Juni. Er hatte sich dort zusammen mit etwa 40 weiteren Aktivist:innen der "Letzten Generation" auf die Fahrbahn gesetzt. Einige hatten sich auch festgeklebt, Ritter aber nicht. Der 21-Jährige ist an die zwei Meter groß, aber schlank – zu dritt konnten ihn die Beamten jedenfalls tragen. Dabei beließen sie es aber nicht. Zwei Beamte fügten Ritter absichtlich zusätzliche Schmerzen zu, um ihn gefügig zu machen – mittels Griffen, die sich im Polizeijargon "Schmerzgriffe" oder "Nervendrucktechnik" nennen. 

Damit haben die Beamten die Schmerzgrenze überschritten – und zwar wortwörtlich sowie im übertragenen Sinn: Sie haben unverhältnismäßig gehandelt. Das entschied am Donnerstag das Verwaltungsgericht (VG) Berlin und gab Ritters Feststellungsklage statt (Az. 1 K 281/23). Festgestellt wurde die Rechtswidrigkeit der Schmerzgriffbehandlung vor knapp zwei Jahren im Berliner Tiergarten. 

Die Straße des 17. Juni liegt nur etwa fünf Fahrradminuten von der Kirchstraße 7 im Stadtteil Moabit entfernt. Dort befindet sich der schmucklose Neubau des VG, vor dem sich Ritter, sein Anwalt und Vertreter der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Klage unterstützt, am Donnerstagmorgen noch skeptisch gezeigt hatten. Ob die 1. Kammer die umstrittenen Schmerzgriffe wirklich für rechtswidrig erklären würde? 

Nach der einstündigen Verhandlung erhellten sich die Gesichter, dann war schon klar: Das Gericht würde Ritters Feststellungsklage stattgeben. Die Begründung des 30 Minuten später verkündeten Urteils ist einfach: Die Schmerzgriffe waren nicht erforderlich – die Beamten hätten Ritter auch einfach so wegtragen können, ohne extra Schmerzanwendung. Das ist zwar ein deutliches Signal an die Polizei, aber auch keine Grundsatzentscheidung.

VG: Schmerzgriffe können zulässig sein

Es handelt sich um ein Urteil, "das nicht verallgemeinerbar ist", sagte der Kammervorsitzende Dr. Wilfried Peters im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung. An der generellen Zulässigkeit von Schmerzgriffen bestünden nämlich "keine Zweifel". Schon früh in der mündlichen Verhandlung am Donnerstagmorgen hatte Peters deutlich gemacht: Über die generelle Zulässigkeit von Schmerzgriffen will er heute nicht sprechen.

Lars Ritter (r) mit Anwalt Patrick Heinemann

Damit war auch Ritters Rechtsanwalt Dr. Patrick Heinemann von der Freiburger Kanzlei Bender, Harrer & Krevet einverstanden, obwohl er in seiner Klageschrift noch Zweifel daran geäußert hatte.

Ohne näher auf die Rechtsgrundlage einzugehen, ging das Gericht davon aus, dass Schmerzgriffe von den Vorschriften zum unmittelbaren Zwang gedeckt sein können. Das sind in Berlin kraft einer Verweisnorm im Landesrecht die §§ 6 Abs. 1, 12, 15 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes des Bundes (VwVG). Mehr oder weniger inhalts- oder gar wortgleiche Bestimmungen gelten aber in allen Ländern.

Unmittelbarer Zwang ist ein Mittel der Vollstreckung von Ordnungsverfügungen: Die Vollzugsbehörde kann "den Pflichtigen zur Handlung, Duldung oder Unterlassung zwingen oder die Handlung selbst vornehmen", formuliert § 12 VwVG. 

"Es geht nicht ums Klima, es geht nicht um die Letzte Generation"

In Ritters Fall sollte die polizeiliche Aufforderung an die Klimaaktivisten durchgesetzt werden, die Fahrbahn zu räumen und sich vom Ort zu entfernen, also ein Platzverweis. Der war ergangen, weil Straßenblockaden der "Klimakleber" in der Regel juristisch als Störungen der öffentlichen Sicherheit einzustufen sind. Strafrechtlich erfüllen die Protestierenden meist den Tatbestand der Nötigung (§ 240 Strafgesetzbuch, StGB). 

Im Einzelnen sollte das am Donnerstag nicht besprochen werden. Als die Polizeivertreter das näher begründen wollten, signalisierte auch Klägeranwalt Heinemann: Daran, dass hier die Aktivisten der Letzten Generation Störer im polizeirechtlichen Sinn gewesen seien, gibt es keine Zweifel. "Es geht heute nicht ums Klima, es geht nicht um die Letzte Generation", stellte der Anwalt klar, sondern nur um die Verhältnismäßigkeit.

Um Ordnungsverfügungen gegen Störer durchzusetzen, können Polizist:innen sich den Mitteln der Verwaltungsvollstreckung bedienen. Bei Handlungen, die die Störer nur selbst vornehmen können – wie sich von einem Ort zu entfernen, an dem sie nicht sein dürfen –, können die Beamt:innen Zwang anwenden. Zwang ist das Übergehen, der Bruch eines entgegenstehenden Willens. Jemanden wegzutragen, fällt eindeutig darunter. 

Ob das auch für die absichtliche Zufügung von Schmerzen gilt, ist nicht gänzlich geklärt. Heinemann hatte in seiner Klageschrift u.a. argumentiert, der Schmerzgriff wirke anders und sei deshalb nicht von den Vorschriften zum unmittelbaren Zwang gedeckt: Hier solle der Störer durch den Schmerz dazu veranlasst werden, die Handlung doch selbst zu vollziehen, um dem (andauernden und ggf. weiteren) Schmerz zu entgehen. Das sei keine willensbrechende Maßnahme, sondern eine willensbeugende. Zudem hatte er dort einen Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gerügt, der Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet.

Kräfteverhältnis und Friedlichkeit maßgebend

Warum das VG Berlin von diesen Einwänden nicht überzeugt ist, erfuhren die Aktivist:innen, Journalist:innen und anderen Zuschauenden am Donnerstag nicht. Dafür aber dazu, welche Umstände in der Praxis maßgeblich sind, wenn eine polizeiliche Maßnahme gegen Versammlungsteilnehmende auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft wird: Wie viele Einsatzkräfte sind vor Ort? Wie ist das "Kräfteverhältnis" zwischen Polizei und Demonstrierenden, wie es Richter Peters nannte? Und: Wehrt sich der Störer gegen die Zwangsmaßnahme?

Das alles ist laut VG-Vizepräsident Peters relevant für die alles entscheidende Frage: "Gab es Alternativen?" Gemeint waren mildere, also Ritters Grundrechte weniger stark beeinträchtigende Mittel. Musste es wirklich sein, dass ein Polizeibeamter bestimmte Schmerzpunkte an Ritters Hals und Kiefer drückte und ein anderer Beamter, der hinzutrat, Ritters Arme und Beine so verdrehte, dass dieser laut aufschrie? Das Gericht verneinte das: Ein einfaches Wegtragen wäre möglich und ausreichend gewesen.

Zu Ritter sagte Peters im Rahmen der Begründung, dessen Körpermaße lägen "nicht völlig außerhalb des Durchschnitts". Drei Beamt:innen würden völlig reichen – und hätten ja hier auch gereicht. Dass die Schmerzzufügung notwendig war, ließe sich auf den zahlreichen Videos nicht erkennen.

"Praktisch, dass das von allen Seiten gefilmt wurde"

"Praktisch, dass das von allen Seiten gefilmt wurde", kommentierte Anwalt Heinemann diesen Umstand. Das erleichterte ihm in diesem Fall die Argumentation, über Fakten musste man sich nicht streiten, sondern nur über deren Bewertung. Auch auf die Argumentation der Berliner Polizei, man habe nicht genug Beamte gehabt, um Ritter einfach wegzutragen, folgten deshalb direkt kritische Nachfragen von der Richterbank. Schließlich sind auf den Videos etliche weitere Beamte zu sehen.

Die beiden Polizeivertreter argumentierten, dass diese hier zur Absicherung der Gegenfahrbahn benötigt worden seien. Das überzeugte die Kammer aber nicht: Die umstehenden Kollegen wirkten auf ihn eher wie "Reservekräfte", sagte Richter Peters. Auch das Argument, in einem dynamischen Demonstrationsgeschehen brauche man stets ein Backup, änderte nichts an der Auffassung des Gerichts. Auf den Einwand, in solch einer Situation "keine hundert Beamte" zur Verfügung zu haben, um eine Person wegzutragen, erwiderte Peters trocken: "Aber hundert hätten sie eben nicht gebraucht."

Ein wesentlicher Teil der Verhandlung drehte sich auch um die Frage, ob Ritter sich den Maßnahmen der Beamten aktiv widersetzt habe. Die Vertreter der Polizei argumentierten, dass Ritter sich, nachdem der erste Beamte bereits Schmerzpunkte an Ritters Hals gedrückt hatte, fallen gelassen habe. Ritter selbst meldete sich daraufhin zu Wort und bekundete, der Beamte hätte kurz zuvor den Kiefergriff spontan wieder losgelassen. Ritter habe keine Möglichkeit gehabt zu reagieren. Auch das Gericht sah keinen aktiven Widerstand: Allein Ritters eigenes Körpergewicht habe der Maßnahme entgegengewirkt, agiert habe er nicht. "Er kooperiert da nicht so, wie es für die Polizei hilfreich wäre, das ist klar", so Peters.

Einzelfall mit Signalwirkung auch für die Staatsanwaltschaft?

Die 1. Kammer unter Vorsitz des VG-Vizepräsidenten Peters

Die Berufung hat das VG nicht zugelassen. Mit seinem Urteil zieht es eine Schmerzgrenze – wenn auch nur bezogen auf eine konkrete Konstellation. "Jede Entscheidung hat auch über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung, sofern es sich um vergleichbare Fälle handelt", sagte nach der Verkündung Rechtsanwalt Heinemann, der die Entscheidung "erfreulich" nannte. "Ich denke, die Polizei Berlin wird in vergleichbaren Fällen davon absehen, Schmerzgriffe einzusetzen, und die Person einfach wegtragen."

Vergleichbare Fälle, von denen es laut Heinemann "einige" gibt, wären nach der Urteilsbegründung solche Situationen, in denen mehr als drei Beamte zur Verfügung stehen und der betroffene Störer sich friedlich verhält, also keinen aktiven Widerstand leistet. Dann dürften Schmerzgriffe nicht verhältnismäßig sein. GFF-Verfahrenskoordinator Joschka Selinger bewertete das Urteil gegenüber LTO ähnlich: Das Urteil zeige "der polizeilichen Praxis bei der Auflösung von friedlichen Demos eigentlich selbstverständliche Grenzen auf – nämlich, dass Wegtragen das mildere Mittel gegenüber der gezielten Zufügung von Schmerzen ist". Selinger wies auch auf ein weiteres ähnliches Verfahren beim VG Ansbach hin. Hier warte man auf die bevorstehende Urteilsverkündung.

Für den handelnden Beamten in Ritters Fall könnte das Berliner Urteil ein Nachspiel haben. Gegen ihn hatte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) geführt, das kurz vor der Verhandlung am VG eingestellt worden war – auch mit der Begründung, dass die Maßnahme verhältnismäßig gewesen sei. Nicht ausgeschlossen ist daher, dass die Ermittler den Fall nach dem Urteil noch einmal aufgreifen.

Zitiervorschlag

VG Berlin zu Schmerzgriff gegen Letzte-Generation-Aktivist: . In: Legal Tribune Online, 20.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56838 (abgerufen am: 19.04.2025 )

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