Im BGH ist man sich uneins: Der 2. Strafsenat ist der Auffassung, der Mutterschutz einer Richterin sei relevant für den Strafprozess. Der 5. Strafsenat zweifelt daran. Wer hat nun Recht? Eine Einschätzung von Markus Wagner.
2016 entschied der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH), dass der Spruchkörper nicht ordnungsgemäß besetzt ist, wenn an der Verhandlung eine Richterin mitwirkt, die kurz vorher entbunden hatte und daher dem nicht-disponiblen postpartalen Beschäftigungsverbot unterlag (Urt. v. 07.11.2016, Az. 2 StR 9/15).
Diese Rechtsprechung hatte enorme rechtspraktische Bedeutung. Der postpartale Mutterschutz beträgt – mindestens – acht Wochen. Im Sinne der sogenannten Konzentrationsmaxime regelt § 229 Strafprozessordnung (StPO), dass zwischen zwei Verhandlungsterminen im Regelfall maximal drei Wochen liegen dürfen. In Großverfahren mit bislang mindestens zehn Verhandlungstagen verlängert sich diese Frist auf einen Monat.
Diese Unterbrechungsmöglichkeiten sind folglich zur Überbrückung des Beschäftigungsverbots nicht ausreichend. Sofern keine Ergänzungsrichterinnen oder -richter anwesend waren, die für die in Mutterschutz befindliche Richterin eintreten könnten, muss die Hauptverhandlung ausgesetzt werden. Sie muss also vollständig von neuem beginnen und alle Beweise müssen erneut erhoben werden.
Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 13.Dezember 2019 die Regelung des § 229 Abs. 3 StPO dahingehend reformiert, dass im Falle von Mutterschutz und Elternzeit die Unterbrechungsfrist für bis zu zwei Monate gehemmt werden kann, sofern die Hauptverhandlung bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden hat.
Leipziger BGH-Senat mit Bedenken
Der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig hat inzwischen mehrfach Bedenken hinsichtlich der genannten Rechtsprechung des 2. Strafsenats geäußert. Der erste Fall betraf ein Verfahren, in dem nach dem Vorbringen der Verteidigung einer der Hauptverhandlungstermine von 9:08 Uhr bis 22:18 Uhr angedauert habe. Der 5. Strafsenat zweifelte zwar an der Rechtsprechung des 2. Strafsenats zum Mutterschutz, äußerte sich aber nicht weiter, weil er die entscheidungserhebliche Konstellation für nicht vergleichbar hielt.
Ferner führte er aus, dass die Arbeitszeitvorschriften nicht dem Schutz des Beschuldigten, sondern dem der in der Justiz tätigen Personen dienten. "Der Angeklagte kann sich demnach auf ihre Verletzung nicht berufen, weil sein Rechtskreis dadurch nicht berührt ist." (Beschl. v. 08.01.2020, Az. 5 StR 366/19)
In einer weiteren Entscheidung ging es um die Schwangerschaft einer Richterin, diesmal aber um den vorgeburtlichen Mutterschutz (BGH, Beschl. v. 19.01.2021, Az. 5 StR 401/20).
Das mit der Revision angefochtene Urteil des Landgerichts Berlin erging am 12. November 2019, also wenige Wochen vor der Anpassung des § 229 StPO. Da offenbar keine Ergänzungsrichterin bzw. kein Ergänzungsrichter benannt worden war, musste die Kammer bei Bekanntwerden der Schwangerschaft davon ausgehen, dass der Prozess mit der Entbindung platzen würde. Vermutlich vor diesem Hintergrund verzichtete die schwangere Richterin auf ihren vorgeburtlichen Mutterschutz. Die Verteidigung rügte eine fehlerhafte Besetzung des Gerichts. Der Senat verwarf die Rüge als unzulässig, ergänzte aber: "Dass eine Richterin nur aufgrund eines Verstoßes gegen ausschließlich ihrem Schutz dienende Vorschriften diese Voraussetzungen nicht (mehr) erfüllen sollte, erschließt sich dem Senat nicht."
Kritik an der "Rechtskreistheorie"
In der Sache geht es um ein althergebrachtes grundlegendes strafprozessuales Problem, das mit dem Schlagwort "Rechtskreistheorie" beschrieben wird. Der Gedanke dahinter ist, dass der Angeklagte seine Revision nur auf die Verletzung solcher Vorschriften stützen können dürfen soll, die auch unmittelbar dem Schutz seiner eigenen Interessen dienen.
Die Literatur widerspricht dem zurecht ganz überwiegend, insbesondere unter Verweis auf den offenen Wortlaut des § 337 StPO sowie die Gesetzgebungsgeschichte: So heißt es in den Motiven explizit, dass bewusst keinerlei Beschränkung vorgenommen werden sollte, welche Rechtsverstöße gerügt werden können sollen. Vor allem aber ist der deutsche Strafprozess kein Parteiprozess. Daher sollte die Revision ganz allgemein die Möglichkeit eröffnen, die Justizförmigkeit des Verfahrens überprüfen zu können.
Entgegen dem 5. Strafsenat muss der Angeklagte also seine Revision grundsätzlich auch auf die Begründung stützen können, dass Regelungen des richterlichen Dienstrechts verletzt worden sind.
Physisch anwesend, normativ abwesend
Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass in einem solchen Fall die Revision auch begründet ist. Entgegen der bislang noch vorherrschenden Rechtsprechung ist Maßstab in einem solchen Fall § 338 Nr. 5 StPO: Ein absoluter Revisionsgrund liegt dann vor, wenn ein Verfahrensbeteiligter, dessen Anwesenheit gesetzlich vorgeschrieben ist, nicht in der Hauptverhandlung präsent war.
Gemeint ist damit die körperliche und geistige Anwesenheit, aber auch normative Aspekte sind zu berücksichtigen. Wird etwa ein planmäßig vorgesehener Schöffe nicht vor Beginn der Verhandlung korrekt vereidigt, fehlt ihm rechtlich gesehen die Richtereigenschaft, weshalb er – funktional betrachtet – nicht anwesend ist.
Welche Verstöße gegen Dienst- und Arbeitsrecht eine normative Abwesenheit zur Folge haben, lässt sich nicht schematisch beantworten. Erforderlich ist vielmehr eine teleologische Auslegung der jeweils verletzten Vorschrift. Ist ihre Rechtsfolge, dass die betreffende Person im konkreten Zeitpunkt keine rechtsprechenden Aufgaben mehr ausüben soll und darf, führt der Verstoß zur normativen Fiktion der Abwesenheit. Der Fall ist dies etwa beim postpartalen Mutterschutz. Und als plastisches Gegenbeispiel mag der Verstoß gegen die Quarantänepflicht dienen: Sie soll nicht die Ausübung richterlicher Tätigkeiten als solche, sondern lediglich die körperliche Anwesenheit bei Gericht unterbinden.
Keine vorschriftsmäßige Besetzung bei Überschreitung der Dienstzeiten?
Komplex stellt sich auch die Konstellation der Hauptverhandlung dar, die von morgens bis in die späten Abendstunden andauert. Die Verteidigung hatte insoweit offenbar gerügt, dass Gericht sei wegen einer Überschreitung der Dienstzeiten nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Diese Argumentation ist bereits im Ausgangspunkt problematisch, da für Richterinnen und Richter im Sinne der richterlichen Unabhängigkeit keine festen Dienstzeiten vorgesehen sind.
Anderes gilt freilich für Urkundsbeamtinnen und -beamte der Geschäftsstelle. Eine Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeiten muss konsequenterweise zu normativer Abwesenheit führen. Allerdings sehen die jeweiligen Landesrechte die Möglichkeit zu Ausnahmen im Einzelfall vor und zum anderen ist bei den Urkundsbeamten ein Wechsel unproblematisch möglich.
Der Autor Prof. Dr. Markus Wagner lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Bonn.
Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen, der in der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft 12, 2024, erscheinen wird. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe und als Abo hier erhältlich.
Verstöße gegen das Dienstrecht im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 29.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55997 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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