Der Mordfall Luigi Mangione lässt in den USA eine kontroverse Debatte aufkeimen. Was sagt das deutsche Recht: Dürfen Versicherer systematisch Deckungszusagen verweigern – obwohl ein Anspruch besteht? Wann ist das ein Compliance-Fall?
Anfang April 2025 gab US-Justizministerin Pam Bondi bekannt, im Fall Luigi Mangione die Todesstrafe beantragen zu wollen. Mangione wird beschuldigt, den CEO des größten US-amerikanischen Krankenversicherers United Healthcare in New York auf offener Straße erschossen zu haben. Die Patronenhülsen sollen mit den Worten "Delay, Deny, Depose" beschriftet gewesen sein – ein mutmaßlicher Verweis auf das in Juristenkreisen bekannte Motto "Delay, Deny, Defend".
Dieses Motto, ursprünglich als Strategieratgeber für Versicherungsunternehmen gedacht, ist in den USA längst zum Sinnbild einer fragwürdigen Praxis mancher Versicherer geworden: Leistungsansprüche von Versicherungsnehmern selbst dann zu bestreiten, wenn sie offensichtlich berechtigt sind, Deckungszusagen hinauszuzögern, Klagen zu provozieren – und schließlich mit aller Härte zu prozessieren. Mangiones Fall schlug daher medial hohe Wellen und hat eine hitzige Debatte über die Geschäftspraktiken mancher Versicherer entfacht. In manchen Kreisen wird Mangione trotz der Kaltblütigkeit der Tat wie ein Held gefeiert.
"Delay, Deny, Defend": Von der Strategie zum Vorwurf
Der Ausdruck "Delay, Deny, Defend" geht auf das 2010 erschienene Buch "Delay, Deny, Defend: Why Insurance Companies Don't Pay Claims and What You Can Do About It" des US-amerikanischen Rechtsprofessors Jay M. Feinman zurück. Darin stellt Feinman die These auf: Versicherer versagen ihren Kunden systematisch den Versicherungsschutz und setzen darauf, dass Versicherungsnehmer unter der Last von Zivilverfahren einknicken – vor allem dann, wenn die Deckungssumme gering, der Gegner übermächtig und die Anspruchsberechtigung komplex ist.
Das Muster sei stets ähnlich: Erst werde die Leistungszusage verschleppt ("Delay"), dann abgelehnt ("Deny") und schließlich, falls der Anspruchsteller klagt, mit maximalem Aufwand abgewehrt ("Defend"). Viele Versicherte sehen schon aus Angst vor langwierigen und kostenintensiven Prozessen davon ab, ihre Ansprüche gegenüber den Versicherern geltend zu machen. Für manche endet der Rechtsstreit dagegen schon im finanziellen Ruin, bevor ein Urteil gesprochen wurde. Wieder andere flüchten sich in einen verlustreichen Vergleich. Umgekehrt retten sich Versicherer in Vergleiche mit den Versicherungsnehmern, wenn andernfalls ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen würde.
Dass ein solcher Umgang mit Leistungsversprechen moralisch fragwürdig ist, drängt sich auf. Doch ist er rechtlich zulässig?
"Delay, Deny, Defend" – auch ein Compliance-Risiko?
Grundsätzlich darf sich jeder Versicherer gerichtlich gegen eine Inanspruchnahme wehren. Problematisch wird es erst dann, wenn der Versicherer berechtigte Ansprüche systematisch nicht erfüllen will. In diesem Fall liegt nicht nur eine Verletzung des zivilrechtlichen Grundsatzes "Treu und Glauben" und der vertraglichen Rücksichtnahmepflichten sowie der Pflicht zur unverzüglichen Leistung nahe. Das kann vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zum Eingehungsbetrug sogar strafrechtlich relevant sein. Deshalb birgt der Fall auch ein Compliance-Risiko.
Nach Auffassung des BGH kann ein Eingehungsbetrug vorliegen, wenn bereits bei Abschluss eines Vertrages keine Bereitschaft besteht, im Leistungsfall zu zahlen. Wer somit als Versicherer einen Versicherungsvertrag eingeht, obwohl er bei Eintritt des Versicherungsfalls gar nicht leisten will, täuscht über eine innere Tatsache – nämlich seine eigene Erfüllungsabsicht.
Es sind drei Szenarien denkbar.
Drei mögliche Betrugsszenarien
Der erste und offensichtlichste wäre: Die Schadenregulierung soll generell und unabhängig davon abgelehnt werden, ob ein Anspruch besteht. Im Zweifel sollen rechtswidrige Ablehnungsgründe vorgeschoben, um den Anspruchssteller zu entmutigen. Da eine Versicherung, die in jedem Fall die Leistung verweigert, nicht lange bestehen wird, ist dieser Fall nur hypothetischer Natur.
Der realistischere zweite Fall wäre, dass interne Richtlinien existieren, nach denen bestimmten Versicherungsnehmern strukturell keine Leistungen zustehen sollen. Das ist etwa dann anzunehmen, wenn objektive Kriterien formuliert werden, um vermeintliche "Risikogruppen" von vornherein vom Versicherungsschutz auszuschließen. Beispielsweise könnten finanziell schlecht gestellte Versicherungsnehmer anhand des konkreten Wohnortes identifiziert und strukturell benachteiligt werden, weil diese Personen einen Rechtsstreit scheuen werden.
Drittens wäre eine interne Richtlinie denkbar, wonach Deckungsschutz immer dann zu versagen ist, wenn die (voraussichtlich) zu zahlende Versicherungssumme einen bestimmten Betrag übersteigt.
Existieren solche Vorgaben und werden diese dem Versicherten bei Vertragsabschluss nicht mitgeteilt, liegt eine Täuschung beim Vertragsschluss vor: Der Versicherer gibt sich unbedingt leistungswillig, obwohl die Entscheidung über eine Leistung im Schadensfall längst gegen den Versicherungsnehmer gefallen ist oder von sachfremden Erwägungen abhängig gemacht wird.
Der vertragliche Anspruch der Versicherungsnehmer ist in diesen Fällen von Beginn an minderwertig. Der Versicherte, der gutgläubig den Vertrag abschließt und damit aufgrund der eingegangen Pflicht zur Zahlung der Versicherungsprämie über sein Vermögen verfügt, kann daher im Einzelfall bereits mit Abschluss des Vertrags eine konkrete schadensgleiche Vermögensgefährdung erleiden. Es kommt zum Eingehungsbetrug.
Täuschungsnachweis schwer zu führen
Der Fall Mangione scheint in den USA einen kollektiven Unmut gegen Praktiken mancher Versicherer zutage gefördert zu haben. In Teilen pervertiert dieser Unmut augenscheinlich in Sympathiebekundungen für den mutmaßlichen Täter, der im Netz schon so etwas wie eine Fangemeinde gewonnen hat. Der Fall zeigt aber auch: Die Diskussion über "Delay, Deny, Defend" hat eine neue Dimension erreicht. Ob die Debatte in ihrer Härte auf Deutschland übergreift, bleibt abzuwarten. Denn während die Strategie "Delay, Deny, Defend" in den USA industrielle Maßstäbe angenommen zu haben scheint, beobachtet man sie hierzulande allenfalls in Einzelfällen.
In jedem Fall wäre der Nachweis eines systematischen Eingehungsbetrugs schwierig zu führen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) führt zwar eine Beschwerdestatistik, die im Jahr 2023 einen Anstieg von etwa 20,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen hatte. Die Statistik unterscheidet jedoch nicht nach der Art der Beschwerde.
Da sich eine fehlende Leistungswilligkeit eines Versicherers nicht unmittelbar aus dem Versicherungsvertrag ergeben wird, bedürfte es somit interner Dokumente, belastbarer Aussagen von Whistleblowern oder strategischer Papiere, um zu belegen, dass die Nichtleistung im Einzelfall systematisch erfolgt und von vornherein geplant war.
Der Autor ist Fachanwalt für Strafrecht und Partner in der Kanzlei Gercke Wollschläger.
Versicherer im Strudel von "Delay, Deny, Defend": . In: Legal Tribune Online, 17.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57025 (abgerufen am: 24.05.2025 )
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