Verkehrssicherheitsprogramm 2011: Ein ehr­gei­ziger Plan ohne Durch­schlags­kraft

Verkehrsminister Ramsauer hat ein Sicherheitsprogramm für die nächsten Jahre vorgelegt, Kernziel soll die Verringerung der Zahl der Unfalltoten sein. So lobenswert die Initiative ist: Das Programm enthält auch weniger sinnvolle Ansätze und krankt an der fehlenden Forschung zu den Hauptursachen für Unfälle. Von einem großen Wurf kann daher keine Rede sein, meint Dieter Müller.

Politische Programme beinhalten regelmäßig einen Katalog von Wünschen und Zielen, also bestenfalls eine Zusammenstellung von sachlich begründeten Zielvorstellungen und zielführenden praktischen Maßnahmen. Bundesverkehrsminister Ramsauer präsentiert sein "Verkehrssicherheitsprogramm 2011" als Ergebnis eines breiten Dialogprozesses mit den Bundesländern und privaten Institutionen, bleibt seinen Lesern aber nicht nur den Adressaten schuldig, an den sich das Programm richten soll.

Dabei macht der Minister auf vorbildliche Weise und getreu seinem inhaltlichen Auftrag zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zunächst einmal deutlich, dass es in der staatlichen Verkehrssicherheitsarbeit auch bei noch so deutlich erkennbar geschrumpften Zahlen der im Straßenverkehr getöteten Menschen noch zahlreiche unbearbeitete weiße Flecken gibt. In seinem Vorwort begreift Peter Ramsauer die Verkehrssicherheit vollkommen zu Recht als "gesamtgesellschaftliche Aufgabe", die nur durch ein Zusammenwirken aller beteiligten Akteure erfolgreich bewältigt werden kann. Zielsicher greift sich der Minister die drei Bereiche Mensch, Infrastruktur und Fahrzeugtechnik als verkehrspolitische "Aktionsfelder" heraus. Dabei stellt er fest, dass die Politik nicht dazu in der Lage ist, die Probleme allein zu bewältigen, sondern der Hilfe einschlägig arbeitender staatlicher und privater Institutionen bedarf.

Kernziel des gesamten Programms ist es, "die Zahl der Getöteten, Schwer- und Schwerstverletzten im Straßenverkehr kontinuierlich zu senken", um damit menschliches Leid zu ersparen. Der nachfolgende konkrete Aufgaben- und Forderungskatalog beinhaltet zahlreiche bewährte Ansätze, allerdings fachlich wenig Neues und weist teilweise in die falsche Richtung.

Fehlende Grundlagenforschung und mangelhafte Aufklärungsarbeit

Der Bundesverkehrsminister schlägt für den Geschäftsbereich seines Ministeriums vier Maßnahmen vor. So will er zunächst im nationalen und internationalen Bereich Rahmenbedingungen für eine sichere Mobilität setzen. Des Weiteren soll Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung geleistet, neue rechtliche Rahmenbedingungen für technische Innovationen geschaffen und schließlich die Forschung intensiviert werden.

Tatsächlich ist bei den in der Vergangenheit unterstützten Forschungsaktivitäten der Bundesanstalt für Straßenwesen keine einzige Forschungsaktivität zu den sechs an der Spitze stehenden Hauptunfallursachen für Verkehrsunfälle mit Personenschäden zu verzeichnen, de facto gibt es bislang keine bundesweite Tiefenuntersuchung von Verkehrsunfällen mit tödlich verletzten Personen. Dies gilt auch hinsichtlich der Unfallursache der nicht angepassten Geschwindigkeit. Ohne eine spezifische, an den wirklichen Unfallursachen orientierte Grundlagenforschung können aber kaum konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um die in menschlichem Verhalten begründeten Unfallursachen zu bekämpfen.

Auch die Aufklärungsarbeit des Bundesverkehrsministeriums in der Bevölkerung steht auf tönernen Füßen. Das Drucken und Verteilen auch noch so gut gestalteter Informationsbroschüren bringt überhaupt nichts, wenn diese Informationen nicht durch geeignete Multiplikatoren bei den Verkehrsteilnehmern ankommen. Hier fehlt jegliches Konzept für eine systematische Bürgerinformation, zumal in den meisten Regionen Deutschlands das gute pädagogische Konzept des Verkehrsunterrichts dem Rotstift zum Opfer gefallen ist.

Schließlich bieten technische Innovationen kaum mehr Raum für konkrete Fortschritte in Sachen Verkehrssicherheit, was aber leider im Verkehrsministerium völlig verkannt wird: Nur etwa fünf Prozent sämtlicher Verkehrsunfälle können auf Ursachen in der Fahrzeugtechnik oder auf fehlerhaft gestaltete Verkehrsräume zurückgeführt werden. 95 Prozent aller Verkehrsunfälle beruht auf einem Fehlverhalten von Fahrzeugführern und Fußgängern.

Kaum Geschwindigkeitsmessungen an verkehrskritischen Stellen

Gerade die wichtigste Unfallursache der nicht angepassten Geschwindigkeit wird im Rahmen der Verkehrsüberwachung in ganz Deutschland überhaupt nicht kontrolliert. Sie wird nicht einmal gemessen, sondern lediglich die laut Straßenverkehrs-Ordnung erlaubten Höchstgeschwindigkeiten.

Wenn der Bundesverkehrsminister also  in seinem Programm eine "Geschwindigkeitsüberwachung an Unfallbrennpunkten" fordert, greift dieser Schritt ersichtlich zu kurz: Unfallhäufungsstellen (so der fachlich korrekte Terminus) geraten regelmäßig erst dann ins Blickfeld, wenn sich bereits mehrfach Verkehrsunfälle mit Personenschäden ereignet haben.

Für die notwendige Erziehung der Autofahrer sollte deshalb eher präventiv die Geschwindigkeit in kritischen Bereichen des Verkehrsraumes gemessen werden. Vielen Autofahrern drängt sich jedoch eher der Eindruck auf, dass Geschwindigkeit und Sicherheitsabstand oft nur dort von Polizei und Kommunen gemessen werden, wo es der Stadtkasse genügend Geld einbringt – nicht aber an Unfallhäufungsstellen, Unfallhäufungslinien sowie an potenziellen Gefahrenstellen wie Schulen, Kindergärten und Seniorenwohnheimen.

Dass dann Begriffe wie "Radarfalle" und "Abzocke" die Runde machen, ist wenig verwunderlich. Trotzdem muss man auch ganz klar sagen: Im deutschen System der Verkehrsüberwachung kann es eine "Abzocke" nicht geben, denn als Geldbußen werden ausschließlich die allen Bürgern bekannten Regelsätze des Bußgeldkataloges angewendet. Und "Radarfallen" sind nichts anderes als taktisch verdeckt platzierte Geschwindigkeitsmessungen, die im Übrigen ausschließlich Autofahrer feststellen, die sich nicht an erlaubte Geschwindigkeitsgrenzen gehalten haben.

Bundesländer könnten voneinander in punkto Verkehrssicherheit lernen

Betrachtet man die Todesbilanzen auf deutschen Straßen einmal ganz nüchtern, so fällt ein deutliches Ost-West-Gefälle ins Auge: Im Vergleich zur Bevölkerungsanzahl kommen die weitaus meisten Unfallopfer in den Bundesländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ums Leben. Gestorben wird dort und auch bundesweit vornehmlich bei Unfällen auf Landstraßen, und zwar an Orten, wo nur höchst selten Geschwindigkeiten überwacht werden. Wenn überhaupt Geschwindigkeiten kontrolliert werden, dann jedenfalls nicht am späten Abend und in der Nacht, also zu Zeiten, wenn erfahrungsgemäß am meisten gerast wird.

Wer hilft diesen drei offensichtlich mit ihren gravierenden Sicherheitsproblemen allein gelassenen Bundesländern? Auch in diesen Bereichen fehlen unterstützende konzeptionelle Untersuchungen des Bundes schmerzlich.

Dabei könnte man problemlos auch in einem bundesweiten "Lernverbund Verkehrssicherheit" voneinander lernen, moderiert etwa an einem runden Tisch des Bundesverkehrsministers. So steht das Bundesland Nordrhein-Westfalen an der Spitze der erfolgreich praktizierten staatlichen Verkehrssicherheitsarbeit, und zwar mit Zahlen, die selbst im europäischen Maßstab in der Spitzengruppe der besten Staaten rangieren.

Unterm Strich ist es zwar aller Ehren wert, dass Bundesverkehrsminister Ramsauer ein neues Verkehrssicherheitsprogramm aufgelegt hat. Offensichtlich hat er sich jedoch einseitig durch die Juristen seines Hauses beraten lassen. Gerade verkehrspädagogische, verkehrspsychologische und verkehrsmedizinische Aspekte stehen nur am Rande des Programms, gehören aber eigentlich in dessen Zentrum. Auch wird nicht recht deutlich, wie die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Verkehrssicherheit konkret umgesetzt werden soll. Dazu kommt, dass man eine Verkehrsforschung schmerzlich vermisst, die ihren Fokus auf Hauptunfallursachen legt und nicht bei der vergleichsweise einfachen Analyse verkehrstechnischer Zusammenhänge stehen bleibt.

Insgesamt gesehen ist das Verkehrssicherheitsprogramm kein großer Wurf, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein neuer Anfang auf dem Level des kleinsten gemeinsamen Nenners.

Der Autor Prof. Dr. Dieter Müller ist Fachbereichsleiter für Verkehrswissenschaften an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH), wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen und Autor zahlreicher Publikationen zum Verkehrsrecht.

 

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Zitiervorschlag

Dieter Müller, Verkehrssicherheitsprogramm 2011: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4791 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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