Nach den BVerfG-Beschlüssen zur Schulden-Sondersitzung: Könnte der "neue" Bun­destag die Son­der­sit­zung noch ver­hin­dern?

von Dr. Christian Rath

15.03.2025

Das BVerfG hat grünes Licht für eine Sondersitzung des “alten” Bundestags zur Lockerung der Schuldenbremse gegeben. Ob nach der Argumentation des Gerichts der “neue" Bundestag die Abstimmung noch verhindern könnte, analysiert Christian Rath.

Am Freitag gab es für die Lockerung der Schuldenbremse einen doppelten Durchbruch. Neben der Sicherung der Zwei-Drittel-Mehrheit durch die Einigung mit den Grünen, machte auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Weg frei, damit die entscheidende Sondersitzung am Dienstag überhaupt stattfinden kann. 

Mit vier Beschlüssen vom Donnerstag, die am Freitagnachmittag veröffentlicht wurden (BVerfG-Beschlüsse vom 13. März 2025, Alt-Bundestag I-IV, Az.: 2 BvE 2/25; 3/25; 4/25; 5/25) lehnte Karlsruhe vier Organklagen und zugehörige Eil-Anträge ab. Kläger waren die kommende Linken-Fraktion des 21. Bundestags, die aktuelle AfD-Fraktion des 20. Bundestags, fünf AfD-Abgeordnete um Christian Wirth sowie die ausgetretene Ex-AfD-Abgeordnete Joana Cotar.

Auf der Tagesordnung steht eine dreifache Änderung des Grundgesetzes. 

  1. Danach sollen Verteidigungsausgaben über ein Prozent des BIP (ca. 45 Mrd. Euro) in unbeschränkter Höhe nicht mehr auf die Schuldenbremse angerechnet werden.
  2. Das Gleiche soll für ein Sondervermögen in Höhe von 500 Mrd. Euro zur Modernisierung der Infrastruktur gelten.
  3. Und schließlich sollen die Bundesländer künftig genau so viel Schulden machen können wie der Bund, das heißt pro Jahr 0,35 Prozent des BIP (ca. 15 Mrd. Euro). Hierfür sollen Art. 109 und Art. 115 GG geändert sowie Art. 143h GG neu eingeführt werden. 

Der Zweite Senat des BVerfG unter Vizepräsidentin Doris König hat sich dabei mit den wichtigsten Argumenten auseinandergesetzt und seine Entscheidungen auch ansatzweise begründet. So verstoße es nicht gegen das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, wenn der alte Bundestag noch das Grundgesetz ändert, obwohl der neue Bundestag bereits gewählt ist. Die Richter:innen verwiesen auf Artikel 39 des Grundgesetzes, wonach der alte Bundestag handlungsfähig bleibt, bis sich der neue Bundestag konstituiert hat. (Az. 2 BvE 5/25, Rz 12).

Bundestags-Präsidentin Bärbel Bas (SPD) habe auch nicht dadurch ihre Pflichten verletzt, dass sie noch einmal den alten Bundestag der 20. Wahlperiode einberufen hat. Denn der neue Bundestag der 21. Wahlperiode habe sich jedenfalls noch nicht selbst konstituiert, was aber möglich wäre (Az. 2 BvE 2/25, Rz 15). Die Einberufung des alten Bundestags sei auch korrekt eingefordert worden. Es genüge, dass die Fraktionsvorsitzenden von zwei Fraktionen (CDU/CSU und SPD), die gemeinsam mindestens ein Drittel der Abgeordneten stellen, eine Sondersitzung beantragen. Nicht erforderlich sei, dass mindestens ein Drittel der Abgeordneten durch persönliche Unterschrift die Einberufung des Bundestags fordert (Az. 2 BvE 2/25, Rz 11). 

Das BVerfG hat die Sondersitzung am Dienstag auch nicht deshalb verhindert, weil die Abgeordneten zu wenig Zeit für die Lektüre und Beratung der Anträge haben. Eine Folgenabwägung spreche gegen einen Aufschub. Denn angesichts des nahen Endes der Legislaturperiode drohe dann der Verfall der Anträge wegen Diskontinuität (Az. 2 BvE 4/25, Rz 11).

Umgehung des neuen Bundestags? 

Wie überzeugend sind die Beschlüsse des BVerfG? Im Mittelpunkt steht dabei natürlich die breit – sowohl rechtlich als auch politisch - diskutierte Frage, ob es nicht undemokratisch ist, nach der Bundestagswahl noch äußerst weitreichende Grundgesetzänderungen mit der alten Zusammensetzung des Bundestags zu beschließen. 

Die Frage liegt nahe, weil die konkreten Grundgesetzänderungen im kommenden 21. Bundestag in dieser Form vermutlich keine Zwei-Drittel-Mehrheit finden würden. Die Linke lehnt die erhöhten Militärausgaben ab und die AfD ist gegen eine Aufweichung der Schuldenbremse. Zusammen haben sie im neuen Bundestag eine Sperrminorität von mehr als einem Drittel der Sitze. Und nur deshalb sollen die Grundgesetzänderungen ja noch schnell mit dem alten Bundestag beschlossen werden.

Das BVerfG verweist hier vor allem auf Art. 39 Abs. 1 GG, der die Wahlperiode des Bundestags regelt. Dort heißt es: "Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages." Daraus ergebe sich, dass der Alt-Bundestag bis zur Konstituierung des Neu-Bundestags voll handlungsfähig ist, inklusive der Fähigkeit zu Verfassungsänderungen. Auch bei einem vorzeitig aufgelösten Bundestag ergebe sich nichts anderes (Az. 2 BvE 5/25, Rz 10). Diese Argumentation überrascht nicht. Die Mehrzahl der Staatsrechtler:innen, die sich im Vorfeld äußerten, argumentierte so

Neue Bundestag hat Zugriffsrecht 

Zwingend war die Argumentation freilich nicht. Immerhin gibt es auch Art. 39 Abs. 2 GG: "Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen." Das Wort "spätestens" hätte so interpretiert werden können, dass der neue Bundestag so früh wie möglich zusammentreten soll, damit die Legitimation durch die neue Wahl und die neue Zusammensetzung möglichst frühzeitig zum Tragen kommt. Im konkreten Fall könnte der neue Bundestag ab diesem Samstag einberufen werden, denn am 14. März hat Bundeswahlleiterin Ruth Brand im Bundeswahlausschuss das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl 2025 festgestellt.

Vermutlich wollte das BVerfG eine Mittelposition einnehmen, wenn es darauf verweist, dass sich im konkreten Fall  der neue Bundestag ja noch nicht konstituiert habe. Indem der Senat auf das "Selbstversammlungsrecht" des neuen Bundestags abstellt, wird dem neuen Bundestag sozusagen ein Zugriffsrecht auf die Macht eingeräumt. Im Umkehrschluss könnte dies bedeuten: Wenn der neue Bundestag von diesem Zugriffsrecht keinen Gebrauch macht, legitimiert er damit indirekt auch das Handeln des alten Bundestags, das er quasi duldet. Das ist eine durchaus überzeugende Lösung.

Könnte die Sondersitzung am Dienstag noch verhindert werden?

Die Konstruktion des BVerfG wirft aber Fragen auf, die im vorliegenden Fall durchaus folgenschwer sein können. Könnte der neue Bundestag noch vor Dienstag zusammentreten und so die Sondersitzung des alten Bundestags verhindern? Das meint etwa AfD-Prozessvertreter Ulrich Vosgerau auf X.

Laut BVerfG "beendet der Zusammentritt des neuen Bundestags gem. Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG die Wahlperiode des alten Bundestags" (Az 2 BvE 3/25, Rz 12). Der neue Bundestag entscheide danach allein "über seinen Zusammentritt und das Erlöschen der Rechte und Pflichte des alten Bundestages". 

Es kommt nun also darauf an, wer den Zusammentritt des Bundestags bewirken kann. Auf das Handeln von Bärbel Bas, der Präsidentin des Alt-Bundestags, die den Neu-Bundestag zur konstituierenden Sitzung erst für den 25. März eingeladen hat, kommt es nach der Konstruktion des BVerfG offensichtlich nicht allein an, denn Bas handele hier nur - einer Tradition folgend - "treuhänderisch" für den neuen Bundestag. Dem neuen Bundestag "steht es frei, auch auf anderem Wege zusammenzutreten" (Az. 2 BvE 3/25, Rz 13).

Das BVerfG lässt offen, ob es eine Pflicht zur Einberufung des neuen Bundestags gebe, denn diese würde jedenfalls voraussetzen, "dass der neue Bundestag den Willen zum Zusammentritt gebildet und sich auf einen Termin verständigt hat" (Az. 2 BvE 3/25, Rz 15). Das klingt so, also ob ggf. nur eine Mehrheit der neuen Abgeordneten erzwingen kann, dass die Bundestagspräsidentin den neuen Bundestag einberufen muss. 

Daneben drückt sich das "Selbstversammlungsrecht" des Bundestags zwar auch in Art. 39 Abs. 3 GG aus. Danach ist der Bundestag einzuberufen, wenn es ein Drittel seiner Mitglieder verlangt. In dieser Form ist das Selbstversammlungsrecht ein Minderheitenrecht, das zum Beispiel Linke und AfD zusammen geltend machen können. Allerdings gilt Art 39 Abs.3 GG nach wohl herrschender Meinung nicht für den erstmaligen "Zusammentritt" des Bundestags, sondern nur für den "Wiederbeginn seiner Sitzungen". Linke und AfD können also nicht den Zusammentritt des neuen Bundestags verlangen; sie können damit auch nicht den Beschluss der Grundgesetzänderungen verhindern. 

Fesselung des neuen Bundestags?

Es bleibt also das allgemeine Unbehagen, dass der alte Bundestag Grundgesetzänderungen beschließen kann, die im neuen, bereits gewählten Bundestag keine Zwei-Drittel-Mehrheit finden würden. Das Unbehagen ist besonders groß, weil dieser Weg hier gezielt beschritten wird.

Nun es ist allerdings gerade das Wesen einer Verfassungsänderung, zukünftige Gesetzgeber mit ganz anderen Mehrheiten zu binden. Und es wäre auch kein Problem, erst kurz vor der Wahl durch eine Verfassungsänderung den kommenden Gesetzgeber einzuschränken. Das war ja zum Beispiel der Gedanke hinter der Verfassungsänderung zur Stärkung der Resilienz des BVerfG im Dezember 2024.

Wenn eine Verfassungsänderung nach der Wahl stattfindet, ist zwar das Wahlergebnis bekannt (und nicht mehr nur eine Vermutung). Das Wahlergebnis selbst führt aber auch nicht völlig sicher zu bestimmten Handlungen der Gewählten. Bestes Beispiel ist die CDU/CSU. Vor der Wahl lehnte sie jede Aufweichung der Schuldenbremse ab. Nach dem Wahlsieg führt Friedrich Merz die Bundesrepublik in die größte Verschuldung der deutschen Geschichte. Auch anhand bekannter Wahlergebnisse kann das spätere politische Handeln also nicht sicher unterstellt werden, zumal Merz sich ja auch auf eine so nicht erwartete Zuspitzung der weltpolitischen Ereignisse berufen konnte, insbesondere die “Verbrüderung” von US-Präsident Donald Trump mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. 

Im konkreten Fall einer Aufweichung der Schuldenbremse passt zudem das Argument überhaupt nicht, dass hier der nachfolgende Bundestag illegitim "gefesselt" werde. Im Gegenteil, es geht ja um eine Entfesselung, der Handlungsspielraum des neuen Bundestags wird erweitert. Er kann mehr Geld ausgeben und mehr gestalten, als ohne die Grundgesetzänderungen. Und er muss davon auch nicht Gebrauch machen, er kann es auch sein lassen. Mehr zusätzliche Freiheit geht kaum.

Die zusätzliche Freiheit relativiert sich zwar durch die später drückende Tilgungs- und Zinslast. Diese kann die Freiheit des Gesetzgebers dann spürbar einschränken. Diese Einschränkung erfolgt aber erst in dreißig, vielleicht vierzig Jahren. Mit dem Hinweis auf spätere Zins- und Tilgungslasten kann also zwar generell gegen die Lockerung der Schuldenbremse argumentiert werden, nicht aber gegen eine Grundgesetzänderung direkt nach der Bundestagswahl. Denn die Zinslasten werden kaum schon den direkt folgenden Bundestag treffen.

Das gemeinsame Projekt von CDU/CSU, SPD und Grünen ist also verfassungsrechtlich zu Recht nicht beanstandet worden. Die Bewertung bleibt eine politische.

Zitiervorschlag

Nach den BVerfG-Beschlüssen zur Schulden-Sondersitzung: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56803 (abgerufen am: 19.04.2025 )

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