Nach dem Tod von George Floyd bestimmt in den USA rassistisch motivierte Polizeigewalt die Schlagzeilen. Wie der US-Supreme Court dazu beiträgt, die zivilrechtliche Haftung für derartige Taten auszuhebeln, erklärt Ole Schley.
Wer sich auf die Suche nach Ursachen rassistisch motivierter Polizeigewalt in den USA begibt, wird auch unvermutet im Deliktsrecht fündig. 42 U.S. Code § 1983 erlaubt es Bürgern, auf Schadensersatz zu klagen, wenn sie durch Staatsbeamte in ihren Rechten verletzt wurden. Diese Norm hat ihren Ursprung in den Bürgerrechtsgesetzen zur Bekämpfung des Ku-Klux-Klan und ist seit 1871 nahezu unverändert Gesetz. Die Idee hinter der zivilrechtlichen Haftung ist so simpel wie einleuchtend: In den USA, viel eher als in Deutschland, hat Schadensersatz auch eine verhaltenssteuernde Funktion und werden gleichzeitig die dafür erforderlichen empfindlichen Summen aufgerufen.
Wenn eine an die individuelle strafrechtliche Verantwortung anknüpfende Sanktionierung in der Praxis häufig nicht zu Verurteilungen und deshalb auch zu keiner zukünftigen Abschreckung vor derartigem Fehlverhalten führt, dann gilt möglicherweise anderes, wenn Polizisten oder deren übergeordnete Dienstbehörden zivilrechtlich mit Millionenbeträgen in die Haftung genommen werden.
So weit das Konzept und die Theorie. Tatsächlich ist der Supreme Court um die abschreckende Wirkung dieser Haftung besorgt; er ist so besorgt, dass er in ständiger Rechtsprechung betont, Polizisten sollten sich nicht durch die Furcht vor dieser Haftung von der Ausübung ihrer Dienstpflichten abhalten lassen. Und so ersann das höchste US-amerikanische Gericht 1967 – dem Jahr, in dem die nunmehr berüchtigte Phrase "When the looting starts, the shooting starts" geprägt wurde – in der Rechtssache Pierson v. Ray eine ganz besondere richterrechtliche Schöpfung: Die Doktrin der "qualified immunity", die sich dem Normtext des 42 U.S. Code § 1983 zunächst nicht entnehmen lässt.
"Qualified immunity"
Nach dieser Doktrin haften Beamte nur dann auf zivilrechtlichen Schadensersatz, wenn sie nicht in gutem Glauben und ohne hinreichenden Anlass handeln. Doch weil dieses subjektive Element dem Gericht noch nicht weit genug ging – bei der "qualified immunity" handelt es sich um ein Verfahrenshindernis, und dieses soll auch ohne eine "pre-trial discovery" (vor-prozessuales Beweisverfahren) leicht feststellbar sein – erweiterte es seine Rechtsprechung um ein objektives Element.
Schadensersatz kommt hiernach nur in Betracht, wenn im Rahmen der Ausübung einer Ermessenstätigkeit gesetzliche Rechte in einer "eindeutig festgelegten Weise" verletzt worden sind, von der eine "vernünftige Person Kenntnis gehabt hätte" (Harlow v. Fitzgerald, 1982). Es kommt also insoweit ein objektivierter Maßstab zur Anwendung, der nicht auf die konkret handelnden Beamten abstellt.
Dilemma für Geschädigte
Diese schlanken Voraussetzungen der Doktrin dürfen über ihre praktischen Folgen nicht hinwegtäuschen. Für Geschädigte werden absurde Hindernisse aufgestellt. Denn wann erfolgt ein Gesetzesverstoß auf eine "eindeutig festgelegte Weise"? Das setzt voraus, dass es einen Präzedenzfall gibt, der dieses Verhalten als rechtswidrig einordnet, und das nicht etwa auf einem höheren Abstraktionslevel, sondern in tatsächlich und rechtlich konkret vergleichbaren Fällen.
An dieser Stelle stehen Geschädigte vor einem Dilemma. Ohne Präzedenzfälle keine Urteile zu ihren Gunsten, ohne Urteile zu ihren Gunsten wiederum keine weiteren Präzedenzfälle, die ein Verhalten als eindeutig rechtswidrig klassifizieren. So kann auch offensichtliche Polizeigewalt wie im Fall George Floyd durch das Raster der zivilrechtlichen Haftung rutschen: Gibt es keinen Präzedenzfall, der das Verhalten, bei einer Festnahme für acht Minuten und 46 Sekunden und noch über deren Bewusstlosigkeit hinaus auf dem Hals einer widerstandslosen Person zu knien, als eindeutig rechtswidrig einordnet, dann hat eine entsprechende Klage kaum Aussicht auf Erfolg, und es ergibt sich auch hieraus wiederum keine Präjudizwirkung. Die Ausnahme – die Doktrin der "qualified immunity" – verkehrt die Regel – die Haftung nach 42 U.S. Code § 1983 – in ihr Gegenteil.
Zivilrechtliche Haftung wird sukzessive abgeschafft
Empirische Untersuchungen sprechen eine eindeutige Sprache: 30 Fälle in nahezu ebenso vielen Jahren haben den Supreme Court zur "qualified immunity" bis 2018 erreicht, und in gerade einmal zweien vermochte das Gericht einen präjudiziell eindeutig festgestellten Rechtsverstoß zu erkennen. Tausende Fälle mit einer vergleichbaren Tendenz sind es nach einer Untersuchung von Reuters in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung.
Nur selten wird in diesen Verfahren der Vergleichsdruck groß genug, wenn es etwa Videoaufnahmen der Tat gibt, und es kommt zu medienwirksamen Vergleichen, in denen größere Schadenssummen durch die Gemeinden ausgekehrt werden. Dabei handelt es sich aber nur um die Spitzen des sprichwörtlichen Eisberges. Diese können das systemische Problem rassistisch motivierter Polizeigewalt, die überproportional Schwarze trifft, offensichtlich nicht beheben und auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Doktrin die zivilrechtliche Haftung nicht nur einschränkt, sondern sukzessive abschafft.
"Erst schießen, dann fragen"
Was folgt aus alledem? Ein "absoluter Schutzschild" für Beamte und eine Kultur des "erst schießen, dann fragen", wie Sonia Sotomayor, selbst Richterin am US Supreme Court, meint. Wie auch andere Richter des Höchstgerichts hat sie in den vergangenen Jahren ein zunehmendes Unbehagen über die Anwendung der Doktrin zum Ausdruck gebracht. Für eine zweistellige Zahl an Fällen der "qualified immunity" sind derzeit Anträge auf Zulassung der Revision vor dem Supreme Court anhängig. Einer dieser Fälle betrifft etwa die Verhaftung eines unbewaffneten flüchtigen Mannes im Vorgarten einer unbeteiligten Familie. Nachdem der Mann ohne Widerstand verhaftet worden war, schoss ein Beamter auf den passiven Hund der Familie, traf aber aus circa 45 cm Entfernung ein zehnjähriges Kind im Knie. Kein Präzedenzfall für einen solchen Schuss auf den Hund, kein Schadensersatz, so das Berufungsgericht.
Auch auf legislativer Ebene ist man auf das Thema aufmerksam geworden. Abgeordnete der demokratischen Partei haben nach dem Tod von George Floyd Gesetzesentwürfe in das Abgeordnetenhaus eingebracht, mit denen der Doktrin ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden soll. Es bleibt abzuwarten, ob entweder der Gesetzgeber oder aber der Supreme Court die Zeichen der Zeit erkennen.
Ass. iur. Ole Schley ist Doktorand und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht.
US-Polizeigewalt und zivilrechtliche Haftung: . In: Legal Tribune Online, 09.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41841 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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