Die Richter in Leipzig waren fleißig im Jahr 2017. Das reichte vom Zugang zu Medikamenten zur Selbsttötung über islamistische Gefährder und rechtsextreme Polizisten bis zu den Voraussetzungen einer MPU.
1/9: Licht aus für Düsseldorf
Er wollte ein politisches Zeichen setzen, doch das ging daneben: Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel hatte im Januar 2015 auf der Internetseite der Landeshauptstadt eine Erklärung veröffentlicht. Anlässlich einer Demonstration des Pegida-Ablegers "Dügida – Düsseldorf gegen die Islamisierung des Abendlandes" rief er die Menschen in der Stadt dazu auf, als Zeichen gegen Intoleranz die Lichter auszuschalten. Auch in den öffentlichen Gebäuden der Stadt sollte es dunkel werden.
Doch als Stadtoberhaupt durfte er diesen Aufruf nicht tätigen, entschied das BVerwG (Urt. v. 13.09.2017, Az. 10 C 6.16). Das Gericht ging in seiner Entscheidung sogar noch weiter als die Vorinstanz: Während das Oberverwaltungsgericht noch der Überzeugung war, Geisel habe jedenfalls zu einer Gegendemonstration aufrufen dürfen, hielten die Leipziger Richter auch diesen Aufruf für rechtswidrig. Als kommunaler Bürgermeister habe er mit diesem Aufruf in unzulässiger Weise in den Meinungsbildungsprozess eingegriffen.
2/9: Abschiebung islamistischer Gefährder
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung nach § 58a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – auch damit musste sich das BVerwG befassen. Die Norm war erst nach heftigen politischen Kontroversen zum Januar 2015 eingeführt worden. Nachdem Politiker die Regelung durchgesetzt hatten, war die Diskussion für die Juristen noch lange nicht beendet. Denn mit dieser Norm wurde eine Abschiebungsmöglichkeit eingeführt für Menschen, die noch keine rechtswidrige Tat begangen haben. Die Prognose, dass von den Ausländern Gefahren ausgehen, reicht danach aus, um sie des Landes zu verweisen.
Das BVerwG erklärte die Regelung als erstinstanzlich zuständiges Gericht für verfassungsgemäß – eine Entscheidung übrigens, die das Bundesverfassungsgericht bestätigte. Angewendet wurde die Norm erst nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz im Jahr 2016.
3/9: Schmerzlose Selbsttötung ausnahmsweise möglich
Extreme Diskussionen haben die Richter am BVerwG losgetreten mit ihrer Entscheidung zur Selbsttötung (Urt. v. 02.03.2017, Az. 3 C 19.15). Sie urteilten, dass der Staat schwerkranken, sterbewilligen Patienten in extremen Ausnahmefällen den Zugang zu einer tödlichen Dosis Betäubungsmittel für einen schmerzlosen Suizid nicht verwehren dürfe.
Ihre Argumentation: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) umfasse bei einem unheilbar kranken Menschen unter bestimmten Voraussetzungen auch das Recht zu entscheiden, wie und wann er aus dem Leben scheiden wolle. Damit hat das BVerwG entschieden, was die überwiegende Zahl der Menschen in Deutschland schon lange für richtig hält: 58 Prozent der Bevölkerung sind nach einer Umfrage von Statista aus dem Jahr 2017 sogar für die aktive Sterbehilfe.
Die Ehefrau des klagenden Witwers hat die Entscheidung nicht mehr erlebt: Im Februar 2005 reisten der Kläger und seine Frau in die Schweiz, wo sie sich mit Unterstützung eines Vereins für Sterbehilfe das Leben nahm.
4/9: Karenzzeit für pensionierten Richter
Kurz nach der Pensionierung als Richter als Anwalt am früheren Dienstgericht auftreten – das geht nicht, entschied das BVerwG. Dies beeinträchtige dienstliche Interessen (Urt. v. 04.05.2017, Az. 2 C 45.16).
Der ehemalige Richter war nach langjähriger Tätigkeit in der Zivilkammer Ende 2014 in den Ruhestand versetzt worden. Der Präsident des Oberlandesgerichts untersagte ihm nach ersten Auftritten als Anwalt von diesem Gericht selbiges bis einschließlich 31. Dezember 2019. Die angerufenen Verwaltungsgerichte hoben die Verfügung für den Zeitraum ab 1. April 2018 auf.
Die Leipziger Richter sahen in § 41 Satz 2 des Beamtenstatusgesetzes, auf den die Regelungen des Landesrichtergesetzes verweisen, eine hinreichende Rechtsgrundlage für die angegriffene Untersagungsverfügung. Das Auftreten eines kürzlich pensionierten Richters als Rechtsanwalt vor seinem früheren Dienstgericht sei geeignet, den Anschein zu erwecken, dass durch die bestehenden persönlichen Kontakte zu den früheren Kollegen die von dem pensionierten Richter vertretenen Rechtssachen in ungebührlicher Weise gefördert werden könnten, so das BVerwG.
Dies gelte indes nur, soweit der pensionierte Richter erkennbar in Erscheinung tritt. Untersagt werden könne demnach das Auftreten in einer mündlichen Verhandlung, telefonische Kontaktaufnahmen zum Gericht sowie die Unterzeichnung von an das Gericht adressierten Schriftsätzen. Kein Verbot dürfe dagegen hinsichtlich einer bloßen Hintergrundberatung durch "of counsel"-Tätigkeiten ergehen. Den insoweit überschießenden Teil der Untersagungsverfügung hat das BVerwG aufgehoben.
5/9: Tornado-Flug über G8-Camp stellt Eingriff dar
Der G20-Gipfel im Sommer 2017 hat die Gerichte beschäftigt – und tut es noch immer. Auch das BVerwG war involviert, wenn auch viele spannende Entscheidungen zum Versammlungsrecht beim BVerfG lagen. Das BVerwG aber hatte in diesem Jahre auch noch den G8-Gipfel aufzuarbeiten. Es musste sich mit der Frage beschäftigen, ob der Flug eines Tornados über ein G8-Protestcamp rechtwidrig war.
Dieser konkrete Vorfall bedarf zwar noch weiterer Sachaufklärung, doch die Leipziger Richter stellten schon einmal fest, dass der Überflug zwar keinen zielgerichteten, aber einen faktischen Eingriff in das Grundrecht der Campbewohner auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) darstelle (Urt. v. 25.10.2017, Az. 6 C 45.16; 6 C 46.16). Das Grundrecht entfalte seine Wirkung bereits vor der Versammlung selbst.
Wenn das staatliche Handeln einschüchternd oder abschreckend wirke bzw. geeignet sei, die freie Willensbildung und die Entschließungsfreiheit der Versammlungsteilnehmer zu beeinflussen, sei ein faktischer Eingriff gegeben. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Mecklenburg-Vorpommern muss sich der Sache noch einmal annehmen und dabei noch offene Tatsachenfragen klären, um den Einzelfall würdigen zu können um dann zu entscheiden, ob der Flug, der der Gefahrenaufklärung dienen sollte, gerechtfertigt war.
6/9: Kein verkaufsoffener Sonntag ohne Sachgrund
Die Sache mit dem Sachgrund – sie ist und bleibt schwierig, insbesondere bei verkaufsoffenen Sonntagen. Viele Gewerbetreibende lieben diese Ladenöffnungen, den Gewerkschaften und Angestellten sind sie ein Graus. In 2017 hat es eine Rechtsverordnung der Stadt Worms in Rheinland-Pfalz bis vor das BVerwG geschafft – und wurde dort kassiert.
Die Bundesrichter haben den Städten und Gemeinden in der Entscheidung viele Hinweise mitgegeben, um auch sonntags die Geschäfte öffnen zu können. Die Prämisse ist: Der Sonntag ist als Tag der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Die Anforderungen des Sonntagsschutzes sind nicht schon erfüllt, wenn der Verordnungsgeber alle Gründe für und gegen die Ladenöffnung vertretbar gewichtet und gegeneinander abwägt. Das alleinige Umsatz- und Erwerbsinteresse der Handelsbetriebe und das Shoppinginteresse der Kundschaft reiche gerade nicht aus. Darüber hinaus müsse ein gewichtiges öffentliches Interesse bestehen, um die beabsichtigte Ladenöffnung in ihrem zeitlichen, räumlichen und gegenständlichen Umfang zu rechtfertigen, entschieden die Leipziger Richter.
Verfahren wegen Sonntagsöffnungen waren bereits 2016 einer Dauerbrenner– sie machten an vielen Verwaltungsgerichten – natürlich nach den Asylverfahren – die zweithöchste Zahl der Fälle aus. Die Sonntagsöffnung liegt seit 2006 in der Zuständigkeit der Länder. Das BVerfG hatte bereits im Jahr 2009 klargestellt, dass es eines besonderen Grundes für die Sonntagsöffnung bedürfe – als Grund in diesem Sinne sind besondere Anlässe zu verstehen (BVerfG, Urt. v. 01.12.2009, Az. 1 BvR 2857/07 u.a.).
7/9: Rechtsextremer Polizist
Tätowierte Noten vom Horst-Wessel-Lied auf der Brust ließen sich abdecken, der Hitlergruß sei womöglich betrunken im Ausland gezeigt worden, die rechtsextremen Devotionalien befänden sich in der Privatwohnung – die Gerichte taten sich schwer, einem solchen Polizisten aus Berlin seine rechtsextreme Gesinnung nachzuweisen.
Die Richter am BVerwG waren pragmatischer: Für sie kam es gar nicht darauf an, ob jeder einzelne Vorwurf aus der Disziplinarklage gegen den Polizeibeamten bewiesen werden konnte. Sie stellten vielmehr auf eine Gesamtwürdigung des Verhaltens ab. So war jeder Umstand für sich zwar disziplinarrechtlich nicht relevant, doch die Richter zogen daraus Rückschlüsse auf die Gesinnung des Polizisten (Urt. v. 17.11.2017, Az. 2 C 25.17) – und ebneten den Weg zur Entfernung aus dem Dienst.
Sie erkannten eine grundsätzliche und dauerhafte Abkehr von den Prinzipien der Verfassungsordnung, die unweigerlich zu einer Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führen müsse. Bis zu dieser Entscheidung war dem Disziplinarrecht eine Rechtsprechung nach der Gesinnung des Täters fremd. Erforderlich war vielmehr ein nachweisbares Verhalten.
8/9: Einbürgerung trotz Identitätstäuschung möglich
Eine Entscheidung zum Aufregen haben die Leipziger Richter getroffen, als sie urteilten, ein Iraker könne eingebürgert werden, obwohl er die Behörden zunächst über seine Identität getäuscht hatte (Urt. v. 01.06.2017, Az. 1 C 16.16). Der Mann war 1997 unter falscher Identität in das Bundesgebiet eingereist, im Jahre 2010 offenbarte er die Täuschung der Ausländerbehörde, ohne dass es zu Konsequenzen seitens der Behörden gekommen wäre.
An ihr eigenes Verhalten sei die Behörde dann auch gebunden, entschieden die Richter. Sie habe mit ihrem Nichtstun hingenommen, dass die auf die Aufenthaltsdauer bezogenen Voraussetzungen der Einbürgerung erfüllt worden seien.
Nur ähnlich hatte es sich übrigens in dem medial bundesweit bekannt gewordenen Fall des in Duisburg aufgewachsenen Mädchens Bivsi verhalten. Ihr Vater hatte nach der Flucht aus dem damaligen Bürgerkriegsland Nepal über seine Identität getäuscht. In diesem Fall aber waren die Behörden nicht untätig geblieben. Der Asylantrag war bereits im September 1998 als unbegründet abgelehnt worden, der Aufenthalt geduldet, nur die Abschiebung war mangels Papieren lange Zeit nicht möglich. Im März 2016 urteilte das Verwaltungsgericht Düsseldorf, dass eine Abschiebung möglich sei. Der Mann habe die Behörden fast 14 Jahre lang über seine Identität getäuscht, von einem vereinzelten oder geringfügigen Verstoß könne keine Rede sein.
9/9: Keine MPU für Fahrt unter 1,6 Promille
Das BVerwG als Freund der einmaligen Trunkenheitsfahrer: Die Behörde darf nach einer Fahrt mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von weniger als 1,6 Promille die Neuerteilung der im Strafverfahren entzogenen Fahrerlaubnis nicht ohne weiteres von der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens (MPU) abhängig machen. Anders liege es allerdings, wenn zusätzliche Tatsachen die Annahme von künftigem Alkoholmissbrauch begründen, so die Richter am BVerwG (Urt. v. 06.04.2017, Az. 3 C 24.15).
Erst ab einer BAK von 1,6 Promille sei bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt ohne weitere aussagekräftige Umstände die Anforderung eines Gutachtens gerechtfertigt. Die strafgerichtliche Entziehung einer Fahrerlaubnis sei dafür kein eigenständiger, von der 1,6-Promille-Grenze unabhängiger Sachgrund. Das zeige die Bezugnahme in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) auf die unter den Buchstaben a bis c genannten Gründe, erklärte das BVerwG.
Tanja Podolski, Sollte man kennen: Neun wichtige Urteile des BVerwG aus 2017 . In: Legal Tribune Online, 05.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25835/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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