Die Luft für Kartellanten wird dünner: Nach einer Entscheidung des EuGH von Mitte Juni müssen Kronzeugen in Kartellbußgeldverfahren künftig befürchten, dass private Schadensersatzkläger Einsicht in ihre Kronzeugenanträge erhalten. Warum die Entscheidung im Ergebnis aber auch für die Kläger enttäuschend ist, erklären Christian Horstkotte und Tilmann Hertel.
Kunden von an Kartellabsprachen beteiligten Unternehmen versuchen zunehmend, Schadensersatz von den Kartellanten einzuklagen. Zur Vorbereitung dieser Klagen begehren die Kläger häufig auch Einsicht in die Akten der Kartellbehörden, insbesondere in die besonders sensiblen Kronzeugenanträge. Diese Anträge sind für private Schadensersatzkläger deswegen interessant, weil der Kronzeuge den Kartellverstoß in seinem Antrag präzise schildern muss, um im Kartellverfahren Bußgeldfreiheit zu erlangen. Die Kläger hoffen, dass diese Schilderung als Beweismittel in dem Schadensersatzprozess verwendet werden kann.
Diese Hoffung lebt weiter. Die Attraktivität der Kronzeugenschutzprogramme hingegen ist nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Gefahr: Die Pfleiderer AG, Hersteller unter anderem von Holzwerkstoffen, hatte in Vorbereitung einer Schadensersatzklage gegen die Mitglieder des Dekorpapier-Kartells Einsicht in die Akten des Bundeskartellamts im Dekorpapier-Kartellverfahren beantragt (§ 406e Strafprozessordnung in Verbindung mit § 46 Ordnungswidrigkeitengesetz).
Vorangegangen war die Verhängung von Bußgeldern in Höhe von 60 Millionen Euro durch das Bundeskartellamt gegen drei Dekorpapierhersteller im Januar 2008. Pfleiderer hatte von diesen Unternehmen Dekorpapier bezogen.
Urteil schafft keine Rechtssicherheit
Im Einklang mit seiner bisherigen Praxis lehnte das Bundeskartellamt die Einsicht in die Kronzeugenanträge allerdings ab. Diese Entscheidung griff Pfleiderer darauf vor dem Amtsgericht (AG) Bonn an. Dieses legte daraufhin dem EuGH die Frage vor, ob Dritte zur Vorbereitung von privaten Schadensersatzklagen Einsicht in die von Kronzeugen freiwillig zur Verfügung gestellten Informationen erlangen können.
Die Luxemburger Richter scheuten sich aber in ihrem mit Spannung erwarteten Urteil vom 14. Juni 2011 (Rs. C-360/09), eine eigene Entscheidung zu treffen und wiesen die Sache an das AG Bonn zurück. Der EuGH stellte lediglich fest, dass das Unionsrecht es nicht grundsätzlich verbiete, Dritten Zugang zu den Unterlagen zu gewähren, die ein Kronzeuge dem Bundeskartellamt übermittelt hat.
Jedoch müsse im Einzelfall ein Ausgleich hergestellt werden zwischen dem Schutz der Wirksamkeit der Kronzeugenschutzprogramme und dem Interesse von Geschädigten, ihre Schadensersatzansprüche effektiv durchzusetzen. Dieser Ausgleich sei von den nationalen Gerichten vorzunehmen.
Damit hat das Gericht nur eine Leitlinie vorgegeben. Den konkreten Ausgleich zwischen Geheimhaltungsinteresse des Kronzeugen und Offenlegungsinteresse des privaten Schadensersatzklägers muss das AG Bonn nun selbst vornehmen. Diejenigen, die sich von dem Urteil grundsätzliche Rechtssicherheit erhofft hatten, wurden damit enttäuscht.
AG Bonn tendiert zur Offenlegung der Kronzeugenanträge
Es gibt aber Anhaltspunkte dafür, dass die Abwägung zu Lasten der Kronzeugen ausgehen kann. Das AG Bonn hatte in dem Vorlagebeschluss vom 4. August 2009 (Az. 51 Gs 53/09) angekündigt, Pfleiderer grundsätzlich auch Einsicht in solche Aktenbestandteile zu gewähren, die Kronzeugen freiwillig zur Verfügung gestellt haben.
Hält sich das AG daran und spricht den Schadensersatzklägern das Recht zu, Kronzeugenanträge einzusehen, hätte dies zur Folge, dass Kronzeugen zukünftig gewissermaßen die Beweismittel für einen späteren Schadensersatzprozess gleich mitliefern.
Werden dafür keine klaren Regeln definiert, stünde die Effektivität des Kronzeugenprogramms des Bundeskartellamts auf dem Spiel. Wenn nämlich Unternehmen die Straffreiheit im Bußgeldverfahren gegen das erhöhte Risiko von Schadensersatzklagen tauschen müssen, kann dies dazu führen, dass die Kronzeugenprogramme nicht mehr in Anspruch genommen werden. Es bleibt abzuwarten, wie das AG Bonn mit dieser Situation umgeht.
Auch der EuGH wird sich demnächst erneut mit dem Akteneinsichtsrecht privater Schadensersatzkläger auseinandersetzen müssen: Im Hinblick auf das EU-Kronzeugenprogramm sind bereits ähnliche Verfahren anhängig. Der Weiterentwicklung der Kronzeugenprogramme in Deutschland und Europa und damit einem Kernbereich der Kartellverfolgung stehen damit spannende Zeiten bevor.
Christian Horstkotte ist Rechtsanwalt und Partner im Düsseldorfer Büro, Tilmann Hertel, LL.M. ist Rechtsanwalt im Frankfurter Büro der internationalen Sozietät Baker & McKenzie.
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Christian Horstkotte und Tilmann Hertel, Urteil zum Kartellrecht: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3616 (abgerufen am: 16.10.2024 )
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