Urteil zum Euro-Rettungsschirm: Karls­ruher Absage an Kol­lek­tiv­haf­tung für Staats­schulden

von Prof. Dr. Daniel Thym LL.M.

07.09.2011

Erst das Kleingedruckte verdeutlicht die Tragweite des Urteils zu den Euro-Hilfen: Das BVerfG garantiert die Kontrolle des Bundestags auf Dauer und verbietet damit eine europäische Haftungsgemeinschaft. Einzelheiten müssen jedoch politisch verantwortet werden, Karlsruhe wird keine weiteren Vorgaben zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise liefern. Zu Recht, meint Daniel Thym.

Eine Überraschung blieb aus: Erwartungsgemäß stärkt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Bundestag und lässt die Rettungspakete im Übrigen passieren. Alle Hilfsmaßnahmen, so die Richter, seien mit dem Grundgesetz vereinbar, solange der Bundestag im Einzelfall zustimmt. Die Urteilsgründe verdeutlichen, dass dies auch für die Änderungen gilt, über die der Bundestag in Kürze entscheidet; eine erneute Klage wird hier keinen Erfolg haben. Dennoch beschränkt sich das Entscheidung nicht auf die Billigung des Rettungspakets, sondern errichtet klare Grenzen für künftige Reformvorhaben.

Im Zentrum des Urteils vom Mittwoch steht das Budgetrecht des Bundestags als "zentrales Element der demokratischen Willensbildung." Seiner Haushaltsverantwortung darf sich das Parlament nicht durch Blankovollmachten entziehen. Umfang und Bedingungen von Finanzleistungen müssen der dauerhaften Kontrolle des Bundestages unterliegen. Alles andere läuft nach Ansicht der Richter auf eine verfassungswidrige "Entäußerung" des Budgetrechts hinaus. Aus diesem Grund würde eine Generalermächtigung für den Rettungsschirm gegen das Grundgesetz (GG) verstoßen. Das BVerfG verhindert dies durch eine verfassungskonforme Auslegung: Vor der Auszahlung einzelner Kredite muss der Haushaltsausschuss zustimmen.

Für die aktuellen Beratungen folgt hieraus, dass Karlsruhe zwar eine Beteiligung des Bundestags vorschreibt, jedoch keinen Plenumsbeschluss. Weitere Einzelheiten muss das Parlament eigenständig entscheiden. Dies gilt auch für die Frage, welche Einzelmaßnahmen einer Zustimmung bedürfen. Die Richter sprechen allgemein von "nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen." Dies dürfte die Aktivierung des Rettungsschirms zu Gunsten eines EU-Mitgliedstaats betreffen, während die Auszahlung einzelner Teilbeträge keine zwingende Parlamentsbeteiligung erfordert.

Klare Absage an umfassende "Eurobonds"

Verfassungsrechtlich gründet das Urteil direkt auf dem Demokratieprinzip. Diese Feststellung ist wichtig, weil die Demokratie von der "Ewigkeitsklausel" des Grundgesetzes (GG) umfasst ist. Selbst eine Verfassungsänderung darf hiervon nicht abweichen. Die Aussagen des Urteils gelten daher nicht nur für die Gegenwart. Karlsruhe errichtet eine absolute Grenze für künftige Reformvorhaben. Hieraus folgt: Weil der Bundestag über größere Finanzhilfen im Einzelfall entscheiden muss, verbietet das GG die Vergemeinschaftung der Staatsschulden. Dies ist der eigentliche Neuigkeitswert des Urteils.

Dieses Ergebnis sprechen die Richter deutlich aus. Ausdrücklich wird das Haushaltsrecht in Konkretisierung des umstrittenen Lissabon-Urteils dem "Identitätskern der Verfassung" zugeordnet. Das GG verbiete den "Automatismus einer Haftungsgemeinschaft"; über zentrale Budgetfragen muss der Bundestag „frei von Fremdbestimmung“ entscheiden. Hierbei komme es nicht darauf an, ob supranationale Vorgaben der EU-Organe oder völkerrechtliche Absprachen der Euro-Staaten das Budgetrecht einschränken. Die Haushaltssouveränität gelte absolut.

Diese eindeutige Festlegung kann kein Zufall sein. Offenbar möchte das Gericht eine "rote Linie" für die Reformüberlegungen auf nationaler und europäischer Ebene ziehen. Eine Kollektivhaftung der Euro-Staaten für ihre Staatsschulden nach dem Modell umfassender Eurobonds würde Karlsruhe nicht akzeptieren, weil ansonsten "fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten zu irreversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen staatlicher Gestaltungsspielräume führen." Deutlicher kann ein Gericht eine Warnung an die politischen Entscheidungsträger kaum formulieren.

BVerfG erkennt Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers an

Der richterliche Schutz der Haushaltssouveränität bedeutet freilich nicht, dass zukünftig Karlsruhe über die Ausgestaltung von Rettungsmaßnahmen anstelle von Bundestag und Bundesregierung entscheidet. Stattdessen konzentriert sich das BVerfG auf "evidente Verletzungen" des GG und gesteht dem Gesetzgeber im Übrigen einen "Einschätzungsspielraum" zu. Ausdrücklich umfasst dieser auch die Modalitäten und den Gesamtumfang der Hilfsmaßnahmen.

In der Praxis besitzt die Regierungsmehrheit damit freie Bahn. Karlsruhe wird das Verhandlungsergebnis nicht durch eigene Wertungen ersetzen, sondern einzig darauf achten, dass keine unzulässige Haftungsgemeinschaft begründet wird und der Bundestag mit der für Haushaltsfragen maßgeblichen einfachen Mehrheit seine Zustimmung erteilt hat. Soweit dies der Fall ist, werden künftige Verfassungsbeschwerden scheitern.

Dem Gericht gebührt Lob für diese Klarheit. Haushaltspolitische Strukturfragen sind politisch zu verantworten. Das Recht dient als Kontrollinstanz – mehr nicht. Zugleich relativiert der parlamentarische Einschätzungsspielraum den Absolutheitsanspruch der Ewigkeitsgarantie. Ob die Grenze zur verfassungswidrigen Haftungsgemeinschaft im Einzelfall überschritten wird, entscheidet in erster Linie der Bundestag. Dessen Stärkung dient damit auch der Entlastung des Verfassungsgerichts.

Einseitiger Euro-Austritt als "ultima ratio"?   

Als deutsches Verfassungsgericht kann das BVerfG die Rettungsmaßnahmen einzig am GG messen. Über deren Vereinbarkeit mit EU-Recht hatte Karlsruhe nicht zu entscheiden. Dennoch können die Richter sich einige Randbemerkungen zum Europarecht nicht verkneifen. In klaren Worten wird die "Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft" beschworen, die eine pauschale Haftungsübernahme für die Staatsschulden anderer Mitgliedstaaten gerade ausschließt.

Zur Europarechtskonformität des Euro-Rettungsschirms bezieht das BVerfG damit keine Stellung - zumal dessen künftige Zulässigkeit durch eine Vertragsänderung abgesichert werden wird. Karlsruhe geht es um etwas anderes: Ausdrücklich beziehen die Richter ihre Ausführungen auf die deutsche Zustimmung zum Maastricht-Vertrag. Damals wurde die Stabilitätsgemeinschaft gleichsam zur Geschäftsgrundlage der deutschen Teilnahme an der Währungsunion erklärt. Was damit gemeint ist, verdeutlicht die zitierte Passage des Maastricht-Urteils.

Im Jahr 1993 betonte das BVerfG die Ausgestaltung der Währungsunion als dauerhafte Stabilitätsgemeinschaft, deren  Scheitern "als ultima ratio auch einer Lösung nicht entgegenstehe." An diese Option eines einseitigen Euro-Austritts möchten die Richter offenbar erinnern. Konkrete Konsequenzen ergeben sich aus dieser Warnung freilich nicht. Dass die Flucht in den souveränen Nationalstaat die Lösung der aktuellen Probleme sei, behauptet Karlsruhe nicht. Über die nächsten Schritte entscheiden ohnehin nicht die Richter. Der Ball liegt zu Recht in den Händen der Politiker.

Prof. Dr. Daniel Thym LL.M. lehrt Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz und ist Ko-Direktor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht.

 

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Zitiervorschlag

Urteil zum Euro-Rettungsschirm: . In: Legal Tribune Online, 07.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4232 (abgerufen am: 08.11.2024 )

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