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Vorrang von EU-Recht an der Grenze: Kein Raum für deut­schen Allein­gang

Gastbeitrag von Dr. Constantin Hruschka

12.06.2018

Europaflagge

© kreatik-stock.adobe.com

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat die geplante Präsentation seines Masterplans zur Asylpolitik verschoben. Grund dafür sind Differenzen zwischen ihm und der Bundeskanzlerin. Was dahinter steckt, erläutert Constantin Hruschka.

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Angela Merkel erklärte im Interview mit Anne Will: "Ich möchte, dass EU-Recht Vorrang hat vor nationalem Recht." Was steckt im Kontext des umstrittenen Masterplans Asyl und der möglichen Zurückweisungen an der Grenze hinter dieser Aussage?

Zunächst erscheint die Feststellung banal. Im Jura-Studium wird schon in der ersten Stunde zum Europarecht verdeutlicht, dass in der Rechtsanwendung Europarecht dem nationalen Recht vorgeht und dass im Zweifelsfall die europarechtliche Regelung anzuwenden bzw. die nationale Regelung europarechtskonform auszulegen ist. Dieses sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebende Prinzip wurde in der "Erklärung [Nr. 17 der Mitgliedstaaten] zum Vorrang" im Anhang zum Lissabonner Vertrag nochmals explizit festgehalten: "Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben."

Der Wille der Bundeskanzlerin sich an dieses Prinzip zu halten, ist somit für alle Bereiche in denen europarechtliche Regeln existieren Grundlage der Europäischen Integration.  Art. 23 GG verdeutlicht, dass diese explizit unter Mitwirkung Deutschlands verwirklicht werden soll. Letztlich liegt dieser Feststellung ein sehr altes und immer wieder zitiertes Rechtsprinzip zu Grunde: pacta sunt servanda – also die Verpflichtung, sich an eingegangenen primärrechtlichen EU-Verträge zu halten. Die Folge ist, dass auch die sekundärrechtlichen Grundlagen in diesem Bereich eingehalten werden müssen.

Damit gehen in allen Rechtsgebieten, in denen es europarechtliche Regeln gibt, diese den nationalen Regeln vor. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)  legt die Bedingungen fest, unter denen eine solche Anwendung zu erfolgen hat.

Europarechtliche Regelungen im Bereich des Migrationsrechts

Im Bereich des hier interessierenden Migrationsrechts gibt es zwei europarechtliche Regelungskomplexe: Das Schengen-Recht, das – soweit hier relevant - insbesondere die gemeinsame Grenz- und Visapolitik inklusive möglicher Rückführungen regelt und das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu dem auch die Dublin-Verordnung zählt, die festlegt, welcher Staat für ein Asylgesuch zuständig ist.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat schon 1996 darauf hingewiesen, dass nach Art. 16a Abs. 5 GG die nationalen Regelungen im Asylbereich den europarechtlichen Regeln "nicht entgegen stehen". In Kombination mit dem Anwendungsvorrang bedeutet dies, dass die existierenden europarechtlichen Regelungen angewandt werden müssen. Die entsprechenden nationalen Regelungen aus dem Asylgesetz (AsylG) und dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) treten hinter diese Verpflichtungen zurück.

An einer Binnengrenze gilt grundsätzlich Art. 22 des Schengener Grenzkodex (SGK). Dieser regelt: "Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden." Nur in Ausnahmefällen dürfen überhaupt Grenzkontrollen vorübergehend wiedereingeführt und durchgeführt werden (vgl. Art. 25ff. SGK).

Schengen- und Dublin-Verfahren an der Grenze

Angenommen an der deutschen Grenze wäre eine solche Ausnahmesituation gegeben und Kontrollen werden durchgeführt, kann es grob gesprochen zu drei Situationen kommen: 1.) Die Person hält sich rechtmäßig im Schengen-Raum auf; dann darf sie sich im Regelfall auch im Schengen-Raum frei bewegen. 2.) Die Person ist noch in einem Asylverfahren oder hat ein solches einmal mit negativem Ausgang betrieben. In diesem Fall ist die Dublin-III-Verordnung anzuwenden. 3.) Die Person ist nicht registriert und hält sich illegal auf. In diesem Fall ist die Rückführungsrichtlinie anwendbar. In den beiden letzteren Fällen stellt sich die Frage, welches weitere Vorgehen zu wählen ist. Dublin-Verfahren sind immer dann durchzuführen, wenn eine Person einen Asylantrag stellt oder gestellt hat. In diesem Fall tritt die Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG und das nationale Asylrecht (insbesondere § 18 AsylG) hinter die europarechtliche Norm zurück. Dies ergibt sich - wie erwähnt - aus Art. 16a Abs. 5 GG. Schon 1996 hat das BVerfG den Zweck der Dublin-Regelung in seinem Grundsatzurteil zur Drittstaatenregelung festgehalten: "Damit soll zugleich verhindert werden, daß der Ausländer von einem Mitgliedstaat in den anderen abgeschoben wird, ohne daß sich einer dieser Staaten für die Prüfung des Asylantrages für zuständig erklärt." Die Zustimmung des anderen Staates ist aufgrund des Konsens-Prinzips der Dublin-Regelung konstitutiv für die Möglichkeit abzuschieben. Eine Zurückweisung in einen (möglicherweise gar nicht zuständigen) Nachbarstaat ohne Dublin-Verfahren wäre ein Verstoß gegen dieses Grundprinzip.

Der EuGH hat die Bedeutung der Verfahrensregeln und deren Einhaltung seit der Rechtssache Ghezelbash  immer wieder betont und gerade erst im Urteil Hassan, das eine nationale französische Regelung betraf, festgehalten, dass eine Dublin-Haft ohne Zustimmung des zuständigen Staaten nicht möglich ist. Dasselbe gilt natürlich mutatis mutandis für eine Zurückweisung an der Grenze. Da die Grenze im Schengenraum eindeutig festgelegt ist, steht fest, dass der Staat auf dessen Hoheitsgebiet sich die Person befindet, für dieses Verfahren zuständig ist. Eine Transitzone zwischen zwei Schengen-Staaten gibt es gerade nicht. Anderweitige Abreden lässt die Dublin-Verordnung zwar ausdrücklich zu, diese müssten aber in einem Abkommen mit dem Nachbarstaat festgehalten und der EU-Kommission vorgelegt werden.

Zustimmung des Nachbarlandes erforderlich

Wird bei einer Kontrolle festgestellt, dass die Person sich illegal im Schengen-Raum aufhält und ist (mangels Asylantragstellung) die Dublin-Verordnung nicht anwendbar, kommt die Rückführungsrichtlinie zur Anwendung. Deren Art. 6 ist in diesem Fall die europarechtliche Regelung, hinter die die Normen des deutschen AufenthG (insbesondere auch § 15 AufenthG) zurücktreten.

Die Rückführungsrichtlinie sieht generell vor, dass eine illegal aufhältige Person den gesamten Schengen-Raum (nicht nur Deutschland) verlassen muss. Da Deutschland von Schengen-Ländern umgeben ist, kommt daher eine Zurückweisung an der Landgrenze nicht in Betracht. Vielmehr wäre Deutschland in einer solchen Situation verpflichtet, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und die Person aus dem Schengen-Raum zu bringen. Eine Ausnahme gilt nur, wenn ein anderer Staat bereit ist die Rückführung inklusive der notwendigen Rückkehrentscheidung durchzuführen. In diesem Fall kann die Rückführung auch von diesem anderen Staat vorgenommen werden.

Der EuGH hat in der Rechtssache Affum bereits 2016 geklärt, dass auch eine solche Verweisung auf einen anderen Schengen-Staat dem EU-Recht unterliegt (das damit vorrangig anwendbar ist) und die Übernahme des Rückkehrverfahrens durch einen anderen Staat von einem Verfahren zwischen den beiden beteiligten Staaten abhängig ist. Also müsste auch in einem solchen Fall vor einer Zurückweisung an der Grenze die Zustimmung des Nachbarlandes eingeholt werden. Dieses Vorgehen dient der Verhinderung illegaler und ungeregelter Aufenthalte im Schengen-Raum an sich. Dieses übergeordnete Ziel der Grenz-, Visa und Rückführungsregelungen des Schengen-Rechts muss daher immer im Blick behalten werden. Unilaterale Rückweisungen an der Binnengrenze sind mit diesem Ziel nicht vereinbar.

"Keine rechtliche Grundlage für eine Zurückweisung"

Für eine Zurückweisung an einer Binnengrenze gibt es (ohne Absprache und Abkommen mit den jeweiligen Nachbarstaaten) keine rechtliche Grundlage, da das europäische Recht ein Verfahren zur Übernahme vorsieht, wenn eine Person entweder aus dem Asylbereich kommt oder sich illegal aufhält. Die Rechtsgrundlagen für Zurückweisungen aus dem AsylG und dem AufenthG treten gegenüber diesen Regelungen zurück, so dass für einen Alleingang Deutschlands kein Raum verbleibt.

Das bedeutet nicht, dass Deutschland nicht berechtigt wäre im Einklang mit dem SGK Kontrollen an den Grenzen durchzuführen, sondern dass diese Kontrolle den europarechtlichen Zielen dienen muss. Zurückweisungen im Alleingang sind von dieser Zweckbindung nicht umfasst. Die Kontrolle und Beendigung illegaler Aufenthalte im Schengen-Raum ist genauso wie die Feststellung der Zuständigkeit für Asylverfahren eine gemeinsame europäische Aufgabe. Die Rechtsgrundlagen für solche Kontrollen und Maßnahmen sind daher abschließend im europäischen Recht, das Anwendungsvorrang für diesen Bereich genießt, geregelt und müssen im Einklang mit der Systematik, dem Ziel und dem Zweck der europarechtlichen Regelungen durchgeführt werden.

Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, Erlangen-Nürnberg und Fribourg (Schweiz) und ist Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.



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Dr. Constantin Hruschka, Vorrang von EU-Recht an der Grenze: Kein Raum für deutschen Alleingang . In: Legal Tribune Online, 12.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29103/ (abgerufen am: 30.03.2023 )

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