Rechtsstaat in Ungarn: Die Demo­k­ratie von heute schei­tert an den Rich­tern von ges­tern

von Dr. Denes Lazar

24.07.2017

2/2: Gerichte lassen Orbán widerstandslos gewähren

Erschwerend kommt hinzu, dass es in den vergangenen 30 Jahren keine grundlegenden Änderungen in der ungarischen Rechtskultur gab. Die ungarische Justiz ist bis heute bestrebt, die Politik der Regierung durchzusetzen. So zeichnet sich der Verfassungsgerichtshof mit Untätigkeit aus, wenn es um die Kontrolle der staatlichen Macht geht. Ministerpräsident Viktor Orbán kann ungehindert die Gesetzgebung dafür einsetzen, den Staat an seine Bedürfnisse anzupassen. Überarbeitet wurden zum Beispiel die Verfassung, das Wahlgesetz, das Gesetz über die Parteienfinanzierung, das Gerichtsverfassungsgesetz und das Verfassungsgerichtsgesetz.

Mit dem Gesetz gegen die NGOs überwand er den Widerstand Andersdenkender. Und die Wirtschaftsmacht seiner Oligarchen baute er aus, indem das Parlament die Wettbewerbsbedingungen in diversen Teilen der Wirtschaft änderte – man beachte nur die Gesetze gegen Banken oder Lebensmitteldiscounter und die Neuregelung des Tabakmarktes. Bei allem lässt das Verfassungsgericht Orbán widerstandslos gewähren. Nur die Venedig-Kommission stellt gelegentlich Schranken für sein Handeln auf.

Darüber hinaus arbeiten die Gerichte aktiv bei der Umsetzung wirtschaftspolitischer Ziele der Regierung mit. So entwickelte der ungarische Verfassungsgerichtshof unter der Leitung seines damaligen Vorsitzenden Richters Dr. Peter Paczolay 2014 ein Konzept, das dem Parlament ermöglicht, zivilrechtliche Streitigkeiten durch Gesetze zu entscheiden, und die Gerichte verpflichtet, diese Gesetze anzuwenden (vgl. Entscheidung d. ungarischen Verfassungsgerichtshofs v. 17.03.2014, Az. AB 8/2014 (III.20.)). Seitdem greift das Parlament immer wieder in die privaten Rechtsverhältnisse der Bürger ein, ohne dabei auf den Widerstand der Gerichte zu stoßen.

Mangelnde Sprachkenntnis & internationale Anerkennung

Der Wissenstransfer aus den demokratischen Staaten Europas scheiterte auch an der Sprachbarriere: Nur etwa zwei Prozent aller EU-Bürger sprechen ungarisch und nur 35 Prozent aller Ungarn konnten sich nach einer Untersuchung der Europäischen Kommission von 2012 in einer anderen als ihrer Muttersprache verständigen. Dieser Wert, der Ungarn den letzten Platz innerhalb der EU sichert, verhindert vielfach den Informationsaustausch ungarischer Richter mit ihren ausländischen Kollegen – zumal fruchtbare juristische Debatten nicht bloß ein rudimentäres, sondern ein recht hohes Fremdsprachniveau voraussetzen würden.

Zum anderen besteht auf internationaler Ebene kein Problembewusstsein für die historische Vorbelastung weiter Teile der ungarischen Justiz. Im Gegenteil: Bereits seit 1992 wirkt ein ungarischer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit, auch Dr. Peter Paczolay ist hier seit Januar 2017 Richter und soll unter anderem dafür sorgen, dass das europäische Grundrecht auf ein faires Verfahren eingehalten wird. Andere ungarische Richter gehören der Venedig-Kommission an, die osteuropäische Staaten dabei berät, Verfassungen auszuarbeiten, die den Normen des europäischen Verfassungsrechtsbestands entsprechen.

Zudem arbeiten ungarische Richter seit 2004 an den Gerichten der Europäischen Union. Ihre persönliche Eignung wurde nie in Frage gestellt, obwohl keiner von ihnen seine Ausbildung auf der Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung durchlaufen hat. Diese internationale Anerkennung bestätigt das Selbstbild ungarischer Richter, wonach die demokratische Wende in der Justiz mit der damaligen Verfassungsreform vollständig vollzogen und erledigt sei.

Niemand sägt von sich aus an dem Ast, auf dem er sitzt

Über die Sprachbarriere und die internationale Anerkennung hinaus werden Veränderungen in der Justiz schließlich auch durch den Umstand behindert, dass die ungarischen Richter selbst an einer Weiterentwicklung nicht interessiert sind. Denn viele von ihnen würden in einem grundlegend veränderten Rechtssystem keinen Platz mehr finden.

Wenn man die staatlichen Methoden zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte in Ungarn genauer betrachtet, dann fällt dem kritischen Beobachter auf, dass die Rechtskultur im "demokratischen Zentralismus" steckengeblieben ist. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist Orbáns absoluter Machtanspruch aufgrund der stabilen Mehrheit seiner FIDESZ-Partei im Parlament. Im "demokratischen Zentralismus" ist das oberste staatliche Machtorgan eben das Parlament.

Die Rechtsentwicklung in Ungarn seit 1989 zeigt: Ein pluralistisches Parteiensystem, freie Wahlen und wirtschaftlicher Aufbau reichen nicht aus, um eine überkommene Diktatur in einen zeitgemäßen Rechtsstaat zu verwandeln. Seine Entwicklung scheitert bis heute an den Richtern von gestern.

Dr. Denes Lazar ist zugelassener Rechtsanwalt in Deutschland und Ungarn. Er beschäftigt sich als Vorsitzender des ungarischen Verbraucherschutzvereins www.pitee.org engagiert mit juristischen Missständen in seiner Heimat Ungarn.

Zitiervorschlag

Dr. Denes Lazar, Rechtsstaat in Ungarn: Die Demokratie von heute scheitert an den Richtern von gestern . In: Legal Tribune Online, 24.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23545/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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