Unfall bei "Wetten, dass..?": Quoten, Sensationen und die Achtung der Menschenwürde

LTO-Redaktion

07.12.2010

Die öffentliche Diskussion über den Unfall bei "Wetten, dass…?" hält an: Dürfen Rundfunkgebühren für eine unter Umständen gefährliche Quotenjagd verwendet werden? Und droht angesichts der schweren Verletzungen von Samuel K. sowie des Abbruchs der Sendung noch ein juristisches Nachspiel? LTO sprach mit dem Medienrechtler Prof. Dr. Karl-Nikolaus Peifer.

LTO: Das ZDF wird nach dem schweren Unfall bei "Wetten, dass..?" am Samstagabend einhellig für seinen respektvollen Umgang mit dem Opfer gelobt. Gleichzeitig stellen sich viele die Frage, ob der Sender die Wette überhaupt hätte zulassen dürfen und wie weit das Fernsehen für die Quote gehen darf. Herr Professor Peifer, unter welchem Quotendruck steht ein öffentlich-rechtlicher, durch Rundfunkgebühren finanzierter Sender tatsächlich?

Peifer: Öffentlich-rechtliche Sender stehen strukturell unter einem verminderten Quotendruck. Der Zweck der Finanzierung durch vom Markterfolg potentiell unabhängige Rundfunkgebühren liegt darin, ein ausgewogenes und qualitätvolles Programm zu gestalten, ohne dass der Erfolg bei den Werbekunden eine durchschlagende Rolle spielt. Gleichwohl müssen auch Rundfunkgebühren gerechtfertigt werden.

Ein Rundfunkgebührensystem, das auf eine breite Abgabe setzt, muss Anerkennung beim Publikum finden. Ein Programm, das niemand verfolgt, verliert seine Legitimation beim Gebührenzahler. Hinzu kommt, dass auch öffentlich-rechtliche Sender den Auftrag haben, Unterhaltungsprogramme anzubieten. Der Samstagabend als klassischer Familienfernsehabend sollte daher nicht am Massengeschmack des Publikums vorbeigeplant werden.

LTO: Wer entscheidet auf welcher Grundlage über den Inhalt von Formaten wie "Wetten, dass…?"?

Peifer: Die Programme werden auf der obersten Ebene vom Intendanten verantwortet, der die Feinplanung mit den Programmdirektoren und Redakteuren abstimmt. Die redaktionelle Verantwortlichkeit ist auf dieser unteren Ebene angesiedelt. Eine rechtliche Verantwortlichkeit des Intendanten besteht gegenüber dem Rundfunkrat. Bei Auftragsproduktionen verlagert sich die Verantwortung auf den jeweiligen Produzenten.

"Selbstgefährdung kann Einstandpflicht entfallen lassen"

LTO: Gibt es eine Fürsorgepflicht des Senders für die Sicherheit, die körperliche und möglicherweise auch seelische Integrität externer Mitwirkender wie der Wettkandidaten bei "Wetten, dass…?"?

Peifer: In zivilrechtlicher Hinsicht begründet die Durchführung einer Live-Sendung Sicherungspflichten für Zuschauer und Mitwirkende. Bei Talkformaten kann diese Sicherungspflicht auch darin bestehen, Teilnehmer und Kandidaten vor einer Bloßstellung oder einer Prangerwirkung in Schutz zu nehmen. Eine Fürsorgepflicht für immaterielle Schäden, wie sie etwa bei Körper- oder Gesundheitsverletzungen verursacht werden können, besteht potentiell, wenn Verkehrssicherungspflichten verletzt wurden. Bei schweren Personenschäden kann dann auch ein Anspruch auf Schmerzensgeld bestehen.

Im Fall von "Wetten, dass…?" sehe ich für eine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten im Hinblick auf den Aufbau der Studiobühne allerdings keine Anhaltspunkte. Nach meiner Kenntnis hätte etwa der Untergrund nicht weicher gestaltet sein dürfen, da sonst der Sprungmechanismus nicht funktioniert hätte. Zudem wurde die Wette unter gleichen Bedingungen mehrfach geprobt. Proben sind grundsätzlich auch immer erforderlich, um mögliche Gefährdungspotentiale herauszufinden.

LTO: Wie weit kann eine solche Pflicht überhaupt gehen? Gegebenenfalls bis zum Schutz der Kandidaten vor sich selbst, das sie nicht regelmäßig vor der Kamera stehen und daher zu unter Umständen gefährlichem Ehrgeiz tendieren?

Peifer: Zu berücksichtigen ist zunächst, dass die Gerichte bei eigenverantwortlichen Selbstgefährdungen des später Geschädigten von einem Mitverschulden ausgehen. Dieses Mitverschulden kann die Einstandspflicht vollständig entfallen lassen. Einen "Schutz des Kandidaten vor sich selbst" wird man nur annehmen dürfen, wenn der Kandidat erkennbar unvernünftig handelt. Das wird man nach aufwändigen Proben nicht vermuten dürfen.

LTO: Der Unfall hat in mehrfacher Hinsicht Konsequenzen. Die wichtigste Frage ist natürlich diejenige nach dem Schaden des Opfers, das erhebliche körperliche Schäden davongetragen hat. Hat der 23-Jährige gegebenenfalls Anspruch auf Ersatz der ihm entstandenen Schäden gegen den Sender, Produktionsfirmen oder ähnliches?

Peifer: Das setzt wiederum voraus, dass eine Einstandspflicht des Senders dem Grunde nach besteht. Bei Selbstgefährdungen ist dies zweifelhaft.

"Zuschauer könnten gezahltes Eintrittsgeld zurück verlangen"

LTO: Auch, wenn das vielleicht niemand in Anspruch nehmen wird: Die Zuschauer der Sendung haben für ihre Eintrittskarten bezahlt. Haben Sie einen Anspruch auf Rückerstattung des gezahlten Eintrittsgeldes?

Peifer: Die Durchführung einer Live-Sendung wird im Kern auch gegenüber dem zahlenden Zuschauer geschuldet. Wenn die Sendung vollständig ausfällt, ist der Fall eindeutig. Der Zuschauer darf ein etwa gezahltes Eintrittsgeld zurückfordern.

Wenn die Sendung im Wesentlichen ausfällt, der tatsächlich durchgeführte Anteil der Sendung für den Zuschauer ohne Interesse ist, dürfte der Fall ebenso zu beurteilen sein. Das Risiko ist im Ergebnis auch durch die Gestaltung der Veranstaltungsbedingungen nicht abzuwälzen, weil die Sendung als Erfolg geschuldet wird.

LTO: Wir möchten nicht den Eindruck von Zynismus erwecken, aber schließlich sollten im Laufe der weiteren Sendung auch Stars auftreten, die sicherlich eine Gage für ihren Auftritt erhielten. Muss das ZDF diese Gagen entrichten, obwohl die Auftritte nicht stattfanden, also die Stars ihre Leistung immerhin nicht erbringen mussten? Wenn ja, gibt es für solche Leistungen spezielle Schadensfonds oder ähnliches oder werden auch diese aus dem allgemeinen Topf der Rundfunkgebühren erbracht?

Peifer: Das Engagement von Gästen und Stars dürfte auf der Basis von Dienstverträgen abzuwickeln sein. Sofern die Stars kommen, dürfen Sie auch eine Bezahlung erwarten. Das Risiko des Abbruchs liegt – wie auch sonst – beim Veranstalter. Ob es hierfür spezielle Schadensfonds gibt, entzieht sich aber meiner Kenntnis.

LTO: Zum Schluss noch einmal zu grundsätzlicheren Fragen: Nach dem Unfall wurde das Opfer abgeschirmt, die Kameras zeigten zunächst nur das Publikum, dann sendete das ZDF Ausschnitte aus alten Sendungen und brach schließlich die Show komplett ab. Für dieses Verhalten wird der Sender überall gelobt. Aber ist ein solcher - zweifellos sehr respektvoller -  Umgang mit dem Verunglückten nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit für einen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Sender, der gerade nicht auf Einschaltquoten angewiesen ist?

Peifer: Das gezeigte Verhalten gehört sicherlich zum Selbstverständnis eines öffentlich-rechtlichen Senders. Gleichwohl erfordert die durchaus weitreichende Entscheidung Mut und Zivilcourage. Daher ist ein Lob an die Verantwortlichen durchaus angebracht.

"Medienveranstalter müssen ihre Verantwortung ernster nehmen"

LTO: Muss ein Sender öffentlich-rechtlich sein, um sich anständig, juristischer ausgedrückt: der Menschenwürde entsprechend verhalten zu können? Braucht Deutschland eine Debatte über Quoten, Sensationen und die Achtung der Menschenwürde? Und vor allem: Wohin könnte eine solche Diskussion führen, wenn außer den beiden öffentlich-rechtlichen Sendern die mediale Landschaft von guten Quoten lebt?

Peifer: Ein Sender muss nicht öffentlich-rechtlich organisiert sein, um sich verantwortlich zu verhalten. Die geltenden Gesetze, insbesondere der Rundfunkstaatsvertrag, verlangen von jedem Rundfunkveranstalter die Einhaltung der geltenden Gesetze und auch die Achtung der Menschenwürde (§ 3 RStV). Allerdings ist dieses Prinzip in seiner gesetzlichen Formulierung durchaus vage und daher ausfüllungsbedürftig.

In der Vergangenheit wurde gelegentlich etwas plakativ behauptet, wer eigenverantwortlich die Medien suche, bedürfte keiner Aufsicht mehr. Die Aufsicht verhalte sich paternalistisch, wenn sie den Menschen verbiete, sich in den Medien selbst darzustellen und dabei auch riskierten, sich lächerlich zu machen. Die Landesmedienanstalten, denen die Aufsicht über die privaten Veranstalter obliegt, geraten daher oft unberechtigt in den Verdacht, Zensoren zu sein, wenn sie durch Hinweise auf Rechtsverletzungen in die Programmgestaltung eingreifen.

Die Debatte über Quoten, Sensationen und die Achtung der Menschenwürde ist insoweit weniger bei Formaten wie "Wetten, dass…?" angebracht. Sie berührt insbesondere Formate, bei denen Normalbürger zur medialen Selbstdarstellung verleitet, provoziert oder gedrängt werden. Diese sogenannten Doku-Formate mit Normalbürgern sind wohl auch bereits in das Blickfeld der Medienaufsicht geraten. Medienveranstalter könnten sich hier auch durch selbstverantwortliches Verhalten gegenüber zahlreichen, kaum redaktionell oder journalistisch betreuten Internetangeboten positiv abheben, wenn sie ihre Verantwortung ernster nähmen.

LTO: Herr Professor Peifer, wir danken Ihnen für dieses Interview.

Prof. Dr. Karl-Nikolaus Peifer ist Direktor des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht sowie des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität Köln.

Die Fragen stellten Pia Lorenz und Steffen Heidt.

Zitiervorschlag

LTO-Redaktion, Unfall bei "Wetten, dass..?": Quoten, Sensationen und die Achtung der Menschenwürde . In: Legal Tribune Online, 07.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2107/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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